Nicht nur Bühenrollen: Siegfried Kristen erzählt, was er in mehr als 50 Jahren am Theater erlebt hat
Von Christoph Munk
Kiel. „Kein Theater! Kein Theater!“ nennt Kiels Kammerschauspieler Siegfried Kristen sein Erinnerungsbuch. Zweimal Ausrufezeichen. Doppelte Verneinung. Dahinter steckt die pure paradoxe Koketterie. Denn nichts war und ist dem Sigi wichtiger als das Leben auf und hinter der Bühne – ein Leben lang, die meisten der 88 Jahre Jahre davon verbracht im Schauspielhaus oben an der Holtenauer Straße oder unten in der Oper und im Rathaus. Kein Theater! Von wegen. Es handelt sich dabei um eine flüchtige Kunst, aber was davon festzuhalten ist, hat Siegfried Kristen aus ganz persönlicher Sicht in ein Buch gebannt und dabei ein Stück Kieler Kulturgeschichte aufgeschrieben.
Eine halbe Nacht, mehr habe ich nicht gebraucht, um mich durch die fast 250 Seiten durchzuschmökern. Denn das Buch ist von dem Literaturwissenschaftler Ulrich Erdmann geläufig ausformuliert und präzis nach Lebensabschnitten geordnet – für einen Theatermann logischerweise bald nach Spielzeiten. Und mir kommt es vor wie die Begegnung mit einem alten Bekannten. Nicht nur weil der Autor, was er mir längst beiläufig erzählt hatte, zufällig in meiner Heimatstadt Heidenheim sein Abitur machte. Schon gar nicht, weil er einst im Mannheimer Kellertheater bei der inzwischen auch in Kiel vertrauten Familie Dentler engagiert war. Auch nicht weil er, wie er es extra vermerkt, gemeinsam mit dem Reporter Munk (in der Rolle eines Statisten) gemeinsam auf der Bühne stand.
Nein, vom ersten Moment an, als ich mich – noch als Student – begann, für das Schauspiel zu interessieren, war Kristen eine der wesentlichen und belebende Figuren des Kieler Theaters. Ich konnte ihm immer offen gegenübertreten, mit der Zeit sogar freundschaftlich umgehen, obwohl ich, wie er es formuliert, in den Kieler Nachrichten „die manchmal gefürchtetsten Rezensionen“ schrieb.
Siegfried Kristen stand nicht häufig ganz oben auf den Besetzungszetteln. Er gierte nicht, wie er jetzt in seinen Erinnerungen erkennen lässt, nach den Hauptrollen. Er liefert ein freimütiges Bekenntnis zu den Künsten des Chargenspielers, zu der Lust des Verwandelns und widmete sich den Reizen und Farben der „Edelwurzen“. Darin war er groß und im Zusammenspiel des Ensembles unverzichtbar. Mir schien es immer so, als gehöre er zur Präsenzabteilung im Darstellerfundus, als könnten Mitspieler und Regisseure jederzeit auf ihn zugreifen. Möglicherweise half ihm dabei die eigene Einschätzung, das Theaterspielen sei ihm „eher in den Schoß gefallen“.
Die Fähigkeit, den eigenen, unbedingten Ehrgeiz, immer vorn im Rampenlicht zu stehen, zurückzustellen, machte ihn als Kollege hinter den Kulissen umso wertvoller. Schon bald nach Beginn seines Festengagements in Kiel zur Saison 1962/63 erkannte er die Notwendigkeit, sich im Personalrat und allen anderen Mitbestimmungsgremien für die Rechte der Schauspieler und anderen Künstler einzusetzen. Und so lesen sich seine Erinnerungen nicht nur als hübsche Sammlung von Anekdoten und eine bemerkenswerte Aufzählung der Namen und Rollen, sondern auch als eine vorläufige Bilanz der Kieler Kulturgeschichte unter besonderer Beachtung der Verhältnisse im Hintergrund des Spielens und der Beziehung zwischen Theater und Rathaus. Hier offenbart der Autor wertvolle Details über das Kommen und Gehen der Intendanten und das vor allem finanzpolitische Gebaren der öffentlichen Geldgeber.
Manches ruft Sigi Kristens Buch ins Gedächtnis: den Aufruhr der 68er Jahre und die Wirren des Deutschen Herbstes, wie sie sich in den Spielplänen niederschlugen; das unrühmliche Ende der Intendanz Henneberg, die Skandale um das „KLT – das Künstlerische Leitungsteam“ und die Stabilisierung der Existenzbedingungen, die bis heute mit dem Namen Karasek verbunden ist. Kristen kann da viel aus der Innensicht erzählen. Und für mich, der den Autor und sein Wirken fast 40 Jahre lang journalistisch aktuell begleitet hat, hagelt es permanent Déjà-vu-Erlebnisse. Ganz ohne Eitelkeit schildert Sigi Kristen die allmähliche Reifung des Schauspielers, der ins Altersfach wechselt und in Charakterrollen reift: Bernhards „Der Schein trügt“, Ionescos „Die Stühle“, Puck im „Sommernachtstraum“. Aber unvergesslich für mich wirken die Leistungen in Mankells „Zeit im Dunkeln“ (2003) und im Terrorismus-Drama „Sechzehn Verletzte“ (2006) nach. Zu den „gefürchtetsten Rezensionen“ dürfte er meine Kritiken dazu nicht zählen. Schon immer hatte ich den Eindruck, der „alte Sigi“ könnte sich auch nach ganz vorn ins Rampenlicht spielen. Endlich war es soweit. Merkwürdig, dass dann der „Liebe Gott“ in Molnars „Liliom“ im Herbst 2010 seine letzte Rolle vor der schweren Erkrankung wurde. Da enden auch die „Erinnerungen des Kieler Kammerschauspielers Siegfried Kristen“. Doch sie müssten es nicht. Denn er ist wieder dabei: im Rollstuhl als wacher Beobachter der Premieren. Leider nicht mehr mit der privaten Kamera, wie früher als einer der gefürchtetsten Fotografen bei allen möglichen und unmöglichen Festivitäten. Da ruhen Schätze für ein weiteres Buch.
„Kein Theater! Kein Theater! Erinnerungen des Kieler Kammerschauspielers Siegfried Kristen“. Verlag Ludwig, Kiel, 248 Seiten, 19,90 Euro. www.verlag-ludwig.de.
Präsentation des Buches: Donnerstag, 26. Oktober, 18 Uhr, Bistro im Schauspielhaus Kiel
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