Stefan Gwildis las im Güterbahnhof Storms „Schimmelreiter“

Von Jörg Meyer

Kiel. Hinter einem Fischernetz, das wie eine bedrohliche Meereswelle wirkt, scheint er geisterhaft auf – der Schädel des Schimmels, auf dem Hauke Haien über seinen neuen Deich und schließlich in den Tod reitet. Man darf sich ein bisschen gruseln wie einst in Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“, die Stefan Gwildis zum 200. Geburtstag des Dichters als „Lesung mit Musik“ auf die Bühne des Güterbahnhofs bringt.

Beim „Endspurt“ des Dämons auf dem Deich, der bricht und den widerständigen Deichgrafen mitsamt Schimmel, Frau und Kind in den tosenden Fluten begräbt, könnte man im Publikum, das dem Drama gebannt lauscht, die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören, brauste jetzt nicht die See als wilder Walzer aus Cello (Hagen Kuhr) und Klavier (Tobias Neumann), dem „Soundtrack“, den Gwildis eigens für die Lesung komponiert hat. „Nimm mich, verschone die anderen!“, bäumt sich Hauke Haien mit Gwildis’ Stimme ein letztes Mal auf – dann atemlose Stille, in die der Beifall zögerlich brandet.

Stefan Gwildis liest „Der Schimmelreiter“ (Cover der Audio-CD, Foto: Verena Brokshus-Sprung)

Doch lasst uns, „liebe Brüder und Schwestern, liebe Storm-Gemeinde“, so Gwildis, vom Anfang erzählen. Regisseurin Sonja Valentin hat Storms Novelle auf 80 Minuten gekürzt und vor allem die Dialoge betont. Eine Steilvorlage für die „Soulstimme des Nordens“, die nach einem Intro mit dem Song „Mein Meer“ dem dämonischen Helden und den anderen Figuren norddeutsch-knorrigen Charakter verleiht. Gwildis ist hier ganz in seinem Element und läuft zu schauspielerischer Höchstleistung auf. Da grummelt Ole Peters ungläubig in seinen nordfriesischen Bart, als er von Haukes neumodischen Deichbauplänen erfährt, und die „Hexe“ Trien Jans keift spitz, als sie Hauke wegen des Todschlags ihres Katers anklagt. Zwischendurch in wechselnder musikalischer Gestalt immer wieder der Walzer, mal als zünftige Dorfmusik, dann als unbändig wirbelnde Naturgewalt.

Lichtwechsel vom Meeresblau zur roten Hölle, die eigentlich in Hauke selbst tobt. Ist er, der Aufklärer, der mit Technik der Natur trotzen will, mit dem Teufel im Bunde? Gwildis legt das nahe, wenn er Hauke hochmütig gegen die Elemente anschreien lässt, als sei er ein nordfriesischer Faust. Storms dem Realismus zugeordnete Novelle wird so zum angesichts des Klimawandels hoch aktuellen Lehrstück über die Hybris des Menschen, der glaubt, gegen die allgewaltige Natur aufbegehren zu können.

Vor allem aber ist „Der Schimmelreiter“ in Gwildis’ Interpretation ein eindringliches Schauermärchen, das er ungemein lustvoll im Spiel anstimmt und klangbebildert. Die Figuren werden greifbar wie das Meer und der dämonische Kampf des Deichgrafen mit ihm. Wie ein warnendes Menetekel glüht der weiße Pferdekopf auf. Gwildis folgt der Geste, wirft den von der Leselampe von unten beleuchteten Kopf zurück, und sagt als Hauke Haien Gottes grausamer Schöpfung den Kampf an. Kein trauriger Held, sondern ein stolz scheiternder, der Dämon selbst auf seinem Deich.

Nur noch das Heulen des Windes, als das Licht verlöscht. Und die Stille nach dem Sturm, die eigentlich eine davor ist. Ergriffener Beifall des Publikums, das sich bei zwei zugegebenen Soul-Songs vom schönen Schrecken erholen darf.