Michel Marc Bouchards „Tom auf dem Lande“ als beklemmendes Kammerspiel im Schauspiel-Studio
Von Jörg Meyer
Kiel. „Vor dem Lieben lernen Homosexuelle das Lügen“, sagt der frankokanadische Autor Michel Marc Bouchard über sein 2010 uraufgeführtes Stück „Tom auf dem Lande“. Lisa Grappel brachte es jetzt als beklemmendes Kammerspiel auf die Studio-Bühne des Kieler Schauspiels.
Der „Plot“ ist nicht ganz einfach erzählt, denn was in ihm Wahrheit und was von den Figuren gesponnenes Netz aus Lügen und Selbstbetrug ist, fließt ineinander. Wahr ist: Guillaume ist einst aus der beengenden Provinz des elterlichen Bauernhofs in die Stadt geflohen und hat dort den Werbetexter Tom (Rudi Hindenburg) kennen – und lieben gelernt. Doch die homosexuelle Beziehung musste gegenüber Guillaumes Familie streng geheim gehalten werden. Nun hat ein Verkehrsunfall Guillaume dahingerafft, und Tom reist aufs Land, um Guillaumes Mutter Agathe (Claudia Macht) und seinem älteren Bruder Francis (Marius Borghoff) zu kondolieren. Dabei muss er aber sich und seine Liebe zu Guillaume verleugnen. Francis hat ein Lügengebäude um Tom und seinen Bruder gezimmert, eine Geliebte für Guillaume erfunden, Tom sei lediglich ein „guter Kumpel“.
Verdrängte Wahrheit, versagende Lüge

Verworren und verloren im Lügenspiel: (von links): Agathe (Claudia Macht), Sara (Yvonne Ruprecht), Tom (Rudi Hindenburg) und Francis (Marius Borghoff) (Fotos: Olaf Struck)
Diese „Legende“ muss um jeden Preis aufrecht erhalten werden. „Man darf niemals die Wahrheit sagen, niemals“, droht Francis Tom und gibt dieser Drohung auch gewalttätigen Nachdruck. Doch allen Betrogenen und Selbstbetrügern gerät das Lügengespinst bald außer Kontrolle, zumal Agathe den „Kumpel“ des verstorbenen Sohnes an seiner Statt als „Sohn“ umgarnt und Francis – wider Willen – ebenfalls einen neuen Bruder in Tom sieht. „Was wird hier gespielt?“, fragt sich Agathe zurecht, als am Ende Sara, die vermeintliche Geliebte Guillaumes (Yvonne Ruprecht gibt ihr herrlich naive und zugleich verschlagene Züge), auftaucht und ihre von Francis aufgezwungene Rolle mehr schlecht als recht spielt.
Regisseurin Lisa Grappel siedelt das Spiel zwischen verdrängter Wahrheit und versagender Lüge in einer Art abstraktem Gedankenraum an, in dem manches, was nicht gesagt wird oder werden darf, gleichsam als „Mauerschau“ dem Publikum mitgeteilt wird. Nile Bettingers Bühnenbild, ein vielfach verschränktes Holzgerippe, in dessen Kleinräumen die Darsteller ganz mit sich selbst agieren und reflektieren können, visualisiert dieses Changieren zwischen „On“ und „Off“, Wahrheit und Lüge eindrücklich.
Vielschichtige Charaktere
Das Ensemble stellt alle Figuren als ungemein vielschichtige Charaktere dar, mit lichten, aber eben auch vielen dunklen, verdrängten Seiten. Claudia Machts Agathe scheint von Anfang an um den Betrug und das Geheimnis ihres im doppelten Wortsinne „verlorenen Sohnes“ zu wissen. Die an ihm vielleicht versäumte Fürsorglichkeit und Zuwendung projiziert sie jetzt auf den neu gewonnenen „Sohn“ Tom.
Rudi Hindenburg gibt den „Versace-Tom“, wie ihn seine Kollegen in der Stadt nennen, ganz und gar nicht als mondänen Bonvivant, sondern als an den ihm aufgezwungenen Lügen und der verlorenen Liebe Verzweifelnden. Und als jemanden, der hier, auf dem platten Lande, zu sich kommt. Denn am Kühe melken und Kälbchen auf die Welt bringen, wozu Francis den „Schwager“ „verdonnert“, findet Tom zunehmend Gefallen. Er muss zwar seine Maske aufbehalten wie einst in der Stadt, aber das „Natürliche“ des Landlebens und der harten Arbeit mit blutigen Händen fasziniert ihn zugleich. Zudem beginnt er, sich in Francis zu verlieben. Letzteren Charakter legt Marius Borghoff in seiner ganzen Ambivalenz an. Mal ist er der bärbeißige Bauer, der auf die verwöhnte „Schwuchtel“ aus der Stadt angeekelt herabsieht. Andererseits ist er, der auf dem Dorfe zurückbleiben musste, vom jüngeren Bruder im Stich gelassen, auch ein Versehrter. Eine Gefährtin hat er nie finden können, lediglich eine Tanzpartnerin, die seine Liebe aber nicht erwiderte. Als er Tom davon erzählt, sich vorsichtig öffnend, entsteht einer der zartesten und zugleich bestürzendsten Momente des Vexierspiels. Die beiden tanzen zusammen Rumba – nicht ohne homoerotische Anwandlungen.
Der „Tragödie“ gutes Ende
Mehrere Happy-Ends habe er für seine durchaus ans antike Vorbild angelehnten „Tragödie“ „durchprobiert“, schreibt Michel Marc Bouchard im Vorwort zu seinem Stück. Aber das wäre sozusagen eine Lüge gewesen, denn „Werke, die in ihrer Auflösung versöhnlich sind, entheben uns gegenüber Konflikten und ihren Lösungen der Verantwortung, sie bestehen aus Instant-Moral.“ So kracht zwar am Ende das Lügengebäude zusammen, zumindest knarrt es gehörig in seinem Gebälk. Aber diese „Katastrophe“ ist auch eine Katharsis. Bouchard beschreibt sie treffend so: „Wenn wir uns dem Leid aus Liebe öffnen, können wir es alle ein bisschen lindern, jeden Tag.“
Infos und Karten: www.theater-kiel.de
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