Alan Lyddiards Bühnenversion von Orwells Roman-Dystopie „1984“ im Studio des Schauspielhauses
Von Hannes Hansen

Christian Kämpfer (Winston), Fenja Schneider (Erzählerin 2), Agnes Richter (Erzählerin 1), Iris Tovar (Erzählerin 3) (Fotos: Olaf Struck)
Alan Lyddiards Bühnenversion von Orwells Roman-Dystopie „1984“ aus dem Jahre 2001 tut erstaunlich wenig, um den Albtraum, den Orwell 1948 fest in einer nahen Zukunft in einem erkennbaren England gesellschaftlich ansiedelte, in eine ähnlich verortete Gegenwart zu hieven. Das Stück spielt in einer Science-Fiction-Fantasie-Welt, einem totalitären Ort mit nicht erkennbaren zeitlichen oder geografischen Konturen.
Vor allem aber schert es sich nicht weiter um die gesellschaftlichen Tendenzen der Gegenwart, die Anknüpfungspunkte für die Weiterschreibung von Orwells Romanvorlage bieten könnten. Auch Jochen Strauchs Inszenierung auf der Studiobühne des Kieler Schauspielhauses vernachlässigt weitgehend, was gegenwärtig die Debatte um Ausspähung, Kontrolle und Manipulation des Individuums bestimmt. Die gigantischen Datensammlungen von Google und Amazon, Fake News, Lügen und Hass verbreitende soziale Netzwerke und was dergleichen schöne Überraschungen sich sonst noch in der Trickkiste der einschlägig Interessierten befinden, interessiert die Inszenierung nicht; sie setzt sie nicht in Beziehung zu der allgegenwärtige Teleüberwachung in „1984“, zu „Neusprech“ und Gedankenpolizei.
Obendrein hat sie mit einem weiteren Problem zu kämpfen, das alle Versuche, einen Roman, eine Erzählung für die Bühne fruchtbar zu machen, haben: Wie lassen sich Gedanken, Gefühle eines Individuums und die Schilderung gesellschaftlicher Zustände und ihre Geschichte in dramatisches Geschehen übersetzen? Jochen Strauch behilft sich nicht ungeschickt mit einem der griechischen Tragödie von Aischylos, Sophokles und Co. entlehnten Mittel, dem Chor. So referieren die drei Erzählerinnen Agnes Richter, Fenja Schneider und Iris Tovar auf Frank Alberts mit kastenartigen Versatzstücken und einer halbdurchsichtigen Trennwand ausgestatteten Bühne Geschichte und Praxis des Albtraumstaates im Stakkatotonfall und mit den Bewegungen von (ab- und einschaltbaren) Maschinenmenschen. Das hat durchaus eindrucksvolle Bühnenpräsenz. Doch anders als in der antiken Tragödie, wo der Chor mit Warnungen, Voraussagen und dem Urteil der Götter die Handlung vorantreibt, besteht hier immer die Gefahr, dass die rhetorischen Breitseiten, die dieser Chor abfeuert, zu drögem Geschichtsunterricht zusammenschnurren.
Starken Schauspielerleistungen ist es neben einzelnen Szenen zu verdanken, dass „1984“ streckenweise gleichwohl zu fesseln weiß. Szenen, die sich dramatisch zuspitzen oder – wie im Fall einer anrührenden Liebesutopie zwischen den Protagonisten Winston und Julia – lyrisch verführen.
Zacharias Preen besticht als allmächtiger Stellvertreter des alles beherrschenden Großen Bruders ebenso durch schneidende Kälte wie abwechselnd höhnische und scheinbar vernünftig argumentierende Überzeugungskraft. Seinen Gegenpart Winston, der an seiner Aufgabe verzweifelt, Vergangenheit und Gegenwart im Sinne der Parteidoktrin umzulügen, gibt Christian Kämpfer als einen zwischen Auflehnung und Anpassung, zwischen Kleinmut und Courage hin und her gerissenen Charakter. Stumpfe Gleichgültigkeit und emotionale Intensität wechseln in seiner Sprache, seinen Bewegungen und Gesten in Sekundenschnelle ab. Claudia Friebel schließlich gibt Winstons Geliebter Julia die Konturen einer Frau, die sich ihre sexuelle Freiheit unter dem Deckmantel extremer Keuschheit bewahrt hat. Ein sphinxartiges Wesen, dessen Charakter von kühl kalkulierender Intelligenz wie mädchenhaftem Charme geprägt ist. Im Zusammentreffen von Winston und Julia leuchtet letztlich eine Hoffnung auf, die zwar zunichte gemacht wird von der Übermacht des totalitären Staates, doch in ihrem Kern unzerstörbar bleibt. Die beiden Akteure halten mit ihrem Spiel so die Utopie einer geglückten menschlichen Gemeinschaft aufrecht.
Termine und Info: www.theater-kiel.de
11. März 2018 um 10:44
Sie haben offenbar einen ganz anderen Abend gesehen als ich. Der Ort wird gleich am Anfang ausführlich durch die lange Erzählung konturiert! Und mit den chorischen Frauen (Cyborgs?) ist ein assoziativer Rahmen gesteckt, der eine nahe Zukunft andeutet. Mir hat das Raum für eigene Gedanken eröffnet. Ich hätte eindeutigere Zeichen (wie von das Ihnen gewünschte Google) platt empfunden. Und wünsche mir von einer Kritik auch in einem Blog genaueres Hinsehen!
13. März 2018 um 10:12
Ich kann mich der Vorschreiberin nur anschließen. Die Vorstellung, die ich gesehen habe, war hochkonzentriert und danach standen wir zusammen und haben über den Roman und das Thema gesprochen und alles was Hannes Hansen fehlte, selber gedacht. Wir fanden das spannender als eine simple Schablone zu Facebook oder Donald Trump. Ein hochspannender Abend.