Vierzig Jahre Literaturtelefon in Kiel

Von Hannes Hansen

Kiel. Als Blogger-Kollege Jörg Meyer im Literaturhaus den Dichter und Rundfunkredakteur Michael Augustin als den Erfinder des Literaturtelefons lobt, protestiert dieser sofort. Nein, nicht erfunden habe er die famose Einrichtung, sondern geklaut, erzählt er. 1978 sei das gewesen, da habe er in einer Londoner Zeitung die Anzeige „Dial a Poem“ gelesen, habe sich unter der angegebenen Nummer ein Gedicht vorlesen lassen und sich gesagt: „Das müssen wir in Kiel auch haben.“

Der damalige Kieler Kulturamtsleiter Dieter Opper, allem Neuen und Unkonventionellem aufgeschlossen – Michael Augustin: „Kiel kann gar nicht genug schätzen, was sie ihm zu verdanken hat“ –, zeigte sich gleich begeistert und ebnete den jungen Wilden von der „Literarischen Werkstatt“ um Michael Augustin, Fritz Bremer, Günter Ernst und Torsten Gallert den Weg für eine Institution, die schon bald Schule machte in ganz Deutschland.

Michael Augustin (Foto: rum)

Vierzig Jahre ist das her und am Dienstagabend traf man sich im Literaturhaus zum „Wie war das damals?“ und „Weißt Du noch?“. Auf dem Podium im Literaturhaus saß als Moderator Jörg Meyer, jetziger Verantwortlicher für das Literaturtelefon, der aus Bremen herbeigeeilte Michael Augustin erzählte von seinem geistigen Diebstahl und anderen Merkwürdigkeiten, und Kulturbürochefin Angelika Stargard, die bis 2007 das Literaturtelefon betreute, wusste Geschichten von einem Tonbandgerät (was war das noch?) namens „Uher“, das zwanzig Kilogramm wog, von riesigen Mikrofonen, von Kassetten und anderen Geräten aus der erst wenige Jahre vergangenen Steinzeit der medial vermittelten Literatur zu erzählen.

Das war alles sehr gemütlich und kuschelig wie das bei Rückblicken auf eine als besonnt wahrgenommene Vergangenheit halt so zugeht. Richtig lebendig wurde es dann, als elf ehemalige Literaturtelefonisten Altes und Neues aus ihrer dichterischen Produktion zum Besten gaben. Da war zwar nicht Schluss mit lustig, über weite Strecken aber mit kuschelig. Anja Ross ließ den Tango zum Geschlechterkampf werden, Fritz Bremer feierte die Sprache als wahre Heimat des Poeten, Slam-Poet Björn Högsdal entdeckte in Gedichten für seinen kleinen Sohn den Kühlschrank als Wohnort vergnüglichen Zwergenvolks und Arne Rautenberg entfachte Lachsalven mit dem kürzesten Text des Abends, dem Frühlingsgedicht: „www.Kirschblüte.de“.

Nach der Pause dann bewies Ilse Behl, dass ihre wahre Heimat immer noch der deutsche Wald ist, Stefan Schwarck erinnerte sich an seine Großmutter und an erste Literaturerfahrungen, und die Jüngste der Runde, die 1988 geborene Hebbelpreisträgerin Juliana Kálnay widerlegte mit Proben aus ihrem im vorigen Jahr erschienenen Debütroman „Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“ die Mär, dass die lieben Kleinen immer klein und lieb sind. Nils Aulike trug Erinnerungen an den vor neun Jahren verstorbenen Kieler Dichter Klavki vor, Henning Schöttke schilderte eine so drastisch ausgemalte Geburtsszene aus seinem Roman „Luxuria“, dass man glaubte, er selbst habe sie erlebt, und Jörg Meyer überraschte mit sprachgewandten Zweifeln an seiner sprachlichen Virtuosität.

Zum Abschluss dann servierte noch einmal Michael Augustin eine satirisch-aphoristische „Seebestattung“:

Eine Windbö
wirft den Kutter um.
Die ganze Trauergemeinde
ertrinkt.

Nur die Urne
schwimmt.

Weitere Infos und Links zu 40 Jahren Literaturtelefon Kiel: www.literaturtelefon-online.de