Deutsche Erstaufführung am Kieler Schauspielhaus: „Die Straße der Ameisen“ von Roland Schimmelpfennig
Von Christoph Munk
Kiel. „Das Stück passt wohl besser überall dort, wo Menschen in einer Mangelgesellschaft leben und einfache, elementare Sehnsüchte haben.“
Vermutlich hat Roland Schimmelpfennig in einem Zeitungsinterview die Wirkungskraft seines Textes ganz zutreffend eingeschätzt. Und die Dramaturgen der großen Häuser sind ihm darin gefolgt. So jedenfalls wäre es einfach zu erklären, wie es kommt, dass „Die Straße der Ameisen“ – dreieinhalb Jahre nach der Weltpremiere in Havanna – ausgerechnet im Kieler Schauspiel ihre Deutsche Erstaufführung erfährt. In Anwesenheit des Autors und in einer eher schlichten Interpretation durch die Regisseurin Ulrike Maack.

Telenovela gucken, Geschichte erzählen: Szene mit Jasper Diedrichsen, Ellen Dorn, Claudia Friebel, Claudia Macht. (Foto: Olaf Struck)
Eine einzelne, weiße Schneeflocke fällt vom Nachthimmel inmitten einer brütend heißen Sommernacht. Es wäre an sich schon eine Sensation, die der Freund wortreich beschreibt. Aber die Ereignisse überstürzen sich. Jemand klopft an die Tür. „Ich habe ein Paket für Sie.“ Darauf hat Großvater 42 Jahre lang gewartet. Man konnte ihn stehen sehen, neben dem Strommast – erzählt Großmutter. Und die Tochter beobachtet in der Küche von oben eine Ameisenstraße. Manchmal geht das Licht aus, weil – die Mutter weiß das genau – Maria Pepe im Stockwerk drüber ihre kaputte Waschmaschine wieder laufen lässt. Wassertropfen von der Decke, Kurzschluss. Immer mal wieder.
Schöne Verwirrung: Gegenwart? Vergangenheit? Roland Schimmelpfennig schiebt die Zeitebenen übereinander. Mir gefällt das, denn ich fühle mich frei von Chronologie und Logik. Der Ort allerdings ist eindeutig bestimmt: Ein Sofa in einem engen Verschlag. Dahinter, auf der aufgerissenen Bühne, hat Lars Peter aus vielen, vielen PET-Flaschen und vielen, vielen Alu-Dosen eine Halde hingeworfen. Eine „assoziative Landschaft“ nennt er das. Glitzert und schimmert schön im Scheinwerferlicht. Aber woher kommt das ganze Zeug? An dieser Frage scheitert meine Assoziationskraft.
Das Personal aber erscheint scharf gestochen: Großmutter, Mutter, Tochter, ihr Freund. Dazu der Großvater, nie auf der Bühne, aber in den Dialogen allgegenwärtig. Der Telenovela und der Schilderung ihrer eigenen Geschichten gehört das Interesse der Kleinfamilie. Bis unter Donner und Stromausfall das 42 Jahre lang ersehnte Paket ankommt. Der Inhalt enttäuschend: ein billiger Kugelschreiber, ein Löffel, ein leeres Senfglas, ein unbenutzter Kalender, eine blonde Perücke. Und doch eine Wundertüte: Der Kuli macht den Freund zum Gedichteschreiber; der Löffel offenbart hundertelei wechselnder Geschmackseindrücke; das Glas füllt sich immer neu; der Kalender öffnet den Blick in die Erinnerung; die Perücke lässt die Tochter fliegen.
Seltsame Zauberkräfte, faszinierend zunächst. Mit ihrer Einführung schielt der Autor nach den Stilmitteln des magischen Realismus. Und mit ihnen sollte, wie Dramaturg Jens Paulsen zutreffend bemerkt, „die Magie der alltäglichen Dinge“ ins Spiel kommen. Tut sie aber nicht. Denn die Regie unternimmt zu wenig, ihre Wirksamkeit auf die Bühne zu übertragen. Schimmelpfennigs Sprache, so reizvoll sie sich aus dem Irrealen und Phantastischen bedient, löst jenes von der Regisseurin vorab versprochene „Kopfkino“ nicht selbsttätig aus. Ich vermisse keine Illustrationen auf der Bühne. Ich begehre Impulse.
Wie wäre es, man sähe, wie die magischen Dinge, sobald sie in die Hände der handelnden Personen fallen, diese verändern? „Was macht das mit Ihnen?“, die unter Interviewern übliche Frage, versucht ja die inneren Wandlungen der Figuren zu erspüren. Doch unter der Führung von Ulrike Maack bleiben diese die Antworten schuldig. Denn sie erscheinen seltsam wirklichkeitsentrückt. Auf der nur behelfsmäßig eingeengten Bühne wird keine von unerfüllten Bedürfnissen getriebenen Mangelgesellschaft sichtbar. Keiner ringt um seine Existenz und scheint nur von elementaren Sehnsüchten belebt. Keiner erhofft sich Erlösung durch Wandel oder Wunder.
Folglich findet Claudia Macht in der Rolle der Großmutter kaum merklich aus einer Stimmung resignierter Zufriedenheit heraus. Ellen Dorn pflegt als Mutter durchgängig eine unerschütterliche Kämpfernatur. Claudia Friebel erobert der Tochter durch die Fähigkeit zum Fliegen keine neuen Freiräume. Ebensowenig entwickelt sich Jasper Diedrichsen als Freund durch sein neu entdecktes Dichtertalent zum beseelten Poeten. Am Ende begreift die Kleinfamilie, dass sie alles besessen hätte, um als „Zirkus Sanchez“ aufzutreten. Zu spät. Da zieht sich ihr Horizont schon wieder zusammen.
Was auch geschah, die „Straße der Ameisen“ führte in keine neuen Welten. Alles bleibt wie es war. Auch egal – signalisiert mir Ulrike Maacks emotionsarme Inszenierung. Redlich den Vorgaben des Autor folgend, findet sie nüchtern vorgetragene und darum trockene Poesie, sinnige Symbolik und manch tiefschürfende Bedeutung. Vor allem aber die fast übliche Moral: Besitz führt zu Reichtum, es folgen Neid, Angst, Schlaflosigkeit, Krankheit und erneut das alte Elend. Ende der Träume – wie genormt, farblos. Und darum hat das Kino in meinem Kopf gar nicht erst angefangen.
Infos und Termine: www.theater-kiel.de
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