Alessandro Bariccos „Novecento“ als konsequent reduzierter Monolog im Kieler Schauspiel-Studio
Von Christoph Munk
Kiel. Auf jeden Fall ist es eine Legende. Denn der italienische Autor Alessandro Baricco lässt seine Erzählung „Novecento“, in der deutschen Fassung mit dem Untertitel „Die Legende vom Ozeanpianisten“ versehen, hat also eine märchenhafte Geschichte im Sinn. Konzipiert war der Text für die Bühne „irgendwo zwischen einer Inszenierung und einer vorzulesenden Erzählung“, wie es Baricco 1994 formulierte. Im Studio des Kieler Schauspiels lässt die junge Regisseurin Lisa Gappel die Ausschmückungen der Theaterfassung oder die Dramatik der Filmversion hinter sich und entscheidet sich für die reduzierte Form eines Hörstücks.

Ganz auf sich und die Sprache gestellt: Werner Klockow trägt Bariccos „Novecento“ vor. (Foto: Olaf Struck)
Vorsichtig nähert sich der Schauspieler Werner Klockow dem Raum, durchmisst erst einmal mit forschendem Blick das Auditorium, als wolle er den Grad der Aufmerksamkeit im Publikum vorab erspähen. Er braucht das. Denn er bleibt allein, und viel findet er auf seiner Bühne nicht vor: Vorn einen Stuhl; hinten links in der schwarzen Leere ist ein Trompetenkasten abgelegt, aus dem gerade noch sein Instrument blitzt. Andeutungen genügen, Illustrationen fehlen.
Er überspielt seine Einsamkeit mit Gelassenheit, dieser ältere Herr im hellen Anzug. Sein Besitz ist der Text, den er sich nach und nach ins Gedächtnis zu holen scheint: zögernd, staunend, verwundert, als vertraue er immer noch nicht ganz seiner Erinnerung an diese wunderliche Geschichte.
Klockow beginnt sie sehr trocken und direkt mit dem Erscheinen der Hauptperson in der Handlung: In einem Pappkarton auf dem Klavier im Tanzsaal der ersten Klasse entdeckt der Matrose Danny Boodmann ein Kind, nennt es Danny Boodmann T.D. Lemon Novecento und nimmt sich seiner an. Sein Leben lang wird der Junge den Ort seiner Geburt, den Passagierdampfer „Virginian“, nicht verlassen. Er wird von Hafen zu Hafen fahren, niemals von Bord gehen, aber er wird mit den Jahren „der beste Pianist, der je auf einem Ozean gespielt hat“. So lautet sein Ruf. Doch er will das abgegrenzte Reich seiner 88 Tasten nie verlassen, weil er lernt, Endlosigkeit in der Welt da draußen an Land zu fürchten. Immerhin wird er Freundschaft schließen mit dem Trompeter Tim Tooney. Dessen Rückschau auf ein Musikerleben an Bord verdanken wir die „Novecento“-Legende. Werner Klockow absolviert sie im Kieler Schauspiel-Studio als einen sparsamen Monolog.
Alles Inszenatorische ist in Lisa Gappels Regiearbeit eingespart, weil sie Klockows konzentriertes Spiel ganz auf die Sprache stellt. Musik, die Lebensessenz des Ozeanpianisten, bleibt ausgesperrt – aus guten Gründen: Denn welche konkreten Klänge hätten den im Text geschilderten musikalischen Schöpfungen standgehalten? Auf szenische Ausgestaltungen, räumliche Darstellungen, illustrierte Schauplätze verzichtet die Regisseurin. Selbst dramatische Zuspitzungen wie der Tanz des Klaviers im höchsten Orkan oder das effektvolle Tastenduell mit dem Jazzpianisten Jelly Roll Morton fügt sie behutsam in den moderaten Modus des erzählerischen Flusses ein. Und Bariccos poetische Sprachmelodien? Klockow ordnet sie eher der penibel und logisch vollzogenen Handlungsbeschreibung unter.
Platz für die Bilder im Kopf? Gewiss: Lisa Gappels mutig und konsequent beschrittener Weg der Reduktion schenkt der Fantasie des Zuschauers bedeutende Freiräume. Ähnliche Effekte jedoch dürfte die freiwillige, unabhängige Lektüre des Textes bewirken. Womit also könnte die kalkuliert effektarme Darstellung auf der Bühne das Publikum bereichern? Mit einem behaglichen Gemeinschaftserlebnis im Theater, mit dem kollektiven Genuss eines sauber absolvierten Auftritts und mit der angenehmen Begegnung mit einem sympathischen und versierten Vortragskünstler, der eine zauberhafte Geschichte in Erinnerung bringt. Anerkennung, langer Beifall.
Termine und Info: www.theater-kiel.de
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