Manuel Möglich auf Spurensuche unter Aussteigern

Von Jörg Meyer

Kiel. „Auf die Spuren gelebter Träume“ begibt sich Manuel Möglich in seinem neuen Buch „Alles auf Anfang“, das der unter anderem für seine innovativen TV-Doku-Serien „Wild Germany“ und „Rabiat“ bekannte Gonzo-Journalist am Dienstag im gut besuchten Studio Filmtheater präsentierte und mit allerlei Ausschnitten aus seinen Fotofilmen bebilderte.

„Objektiv betrachtet und im Vergleich zu früheren Jahrhunderten, leben wir in der besten Welt aller Zeiten“, weiß Möglich – trotz Finanzkrise, Klimawandel und Flüchtlingselend. Brauche es daher heute überhaupt noch Utopien oder leben wir die längst schon?

Cover des neuen Buchs von Manuel Möglich (Foto: Rowohlt Verlag)

Manche der Aussteiger und Neustarter, die Manuel Möglich besuchte, sind denn auch recht konservativ in ihren Zukunftsszenarien. So wollen die Immortalisten, denen Möglich beim RAAD-Festival („Revolution against Aging and Death“) in San Diego begegnete, imgrunde nur die Ewigkeit des bestehenden Lebens, wollen nicht mehr altern und niemals sterben. Ist das eine Utopie oder eher ein Alptraum?, fragt Möglich, denn manches, was ihm dort an Visionen begegnete, ist nicht nur skurril, sondern gruselig. Etwa wenn der Internet- und Künstliche-Intelligenz-Pionier Ray Kurzweil von der Verschmelzung von Mensch und Maschine träumt. Schon in 30 Jahren werde man das menschliche Bewusstsein „in die Cloud hochladen“ können und als Cyborg unsterblich sein, verkündet der Transhumanist. Nicht minder monsterhaft kamen Möglich manche Anti-Ager vor, entstellt von zahllosen Schönheitsoperationen und „einem Schluck zu viel aus dem Jungbrunnen“.

Auf jede Menge „New Age und Esoterik“ traf Möglich auch in der portugiesischen Aussteigerkolonie Tamera. Zwischen dem gemeinsamen Morgenritual mit Lach-Yoga, regelmäßig ausgebuchter „Liebesschule“ (mit praktischen Übungen) und trotz Streben nach Nachhaltigkeit mit Ikea-Möbeln ausgestatteten Holzhütten wird dort „eine konkrete Utopie gelebt“, erzählt Möglich. Gleichwohl fühlte er sich in diesem „Hippie-Paradies“ nicht recht wohl, wollte eigentlich so schnell wie möglich wieder weg – bis dann doch „der Ort mit mir etwas machte“, raunt er, das „Eso-Sprech“ vorsichtig karikierend.

Auch sonst können ihm die porträtierten Aussteiger kaum schräg genug sein, was den besonderen Reiz seiner Reportagen ausmacht. Im Hambacher Forst interviewte er Aktivisten, die seit Jahren gegen den Alptraum des Braunkohletagebaus demonstrieren. Aber auch deren Utopie – „Mehr David gegen Goliath geht nicht!“ – wirkte auf ihn seltsam rückgewandt: Denn nicht nur metaphorisch kehren die Aussteiger dorthin zurück, wo der Mensch vor Jahrmillionen einst herkam – auf die Bäume. Und die abenteuerlich schwankenden Brücken zwischen den Baumhäusern, in denen Möglich im schonungslosen Selbstversuch mitwohnte, sind vielleicht auch ein Symbol für die unsicheren Wege zurück in die Zukunft.

Deutlich realistischer wirkt da ein Ausstiegsszenario wie das von Julia, die in ihrem lauschigen Wohnwagen auf einem Parkplatz an der Autobahnausfahrt Lehrte-Ost dem ältesten Gewerbe der Welt nachgeht. Ihr Traum dabei: irgendwann genug Geld für ein Häuschen für sie und ihren Ehemann und vielleicht auch mal Kinder. So einfach können Utopien von einem Neuanfang eben auch sein.

Infos zum Buch: Rowohlt Verlag