Florian Zellers Erfolgsstück „Vater“ als nüchterne Beobachtung im Kieler Schauspiel

Von Christoph Munk

Kiel. Zuerst vermisst er nur seine Uhr. Dann sieht sich André immer mehr bedrohlichen Irritationen ausgesetzt. Schließlich scheint ihm die ganze Welt abhanden zu kommen. Wie einen unaufhaltsamen Sog in die Isolation beschreibt der französische Autor Florian Zeller die Entwicklung einer Demenz in seinem Drama „Vater“, dessen Erfolgsspur nun auch ins Kieler Schauspiel führt und bei seiner Premiere respektvollen Beifall auslöste.

Keine emotionale Nähe erkennbar: der Vater (Werner Klockow), die Tochter (Isabel Baumert). (Foto: Olaf Struck)

Anne geht mit ihrem Vater nicht gerade zimperlich um. Isabel Baumert gibt der Tochter, immerhin die einzige Verwandte des Alterskranken, von Beginn an einen harschen Ton. Sie pflegt einen kantigen Umgang, geprägt von kühler Routine und überstrapazierter Geduld. Pflegerische Hingabe sähe anders aus. André aber wehrt sich. Werner Klockow stellt ihn als schlauen Widerspruchsgeist dar, zwar als einen Melancholiker, der sich jedoch nur selten zurückzieht und stattdessen lieber seine verbliebenen Energien erprobt. Seine Attacken gegen den schleichenden Verlust von Orientierung lassen nur allmählich nach. Noch gibt er den Kampf nicht auf.

Also herrscht Krieg zwischen André und dem verbliebenen Rest seines Umfeldes. Offen allerdings werden die Auseinandersetzungen keineswegs ausgetragen. Florian Zeller lässt seine Akteure in einem geläufigen, stellenweise sogar heiter angespitzten Konversationsstil aufeinander los. Und unter der Regie von Volker Schmalöer vollzieht sich das Geschehen elegant leichtgängig und in beinahe unheimlicher Konsequenz. Dazu trägt das Bühnenbild von Lilith-Marie Cremer erheblich bei, denn sie hat eine Wohnlandschaft wie aus einer angejahrten Möbelschau gestaltet, deren Stücke kreisen bei den Szenenwechseln auf einer Drehscheibe und verschwinden nach und nach. Wer der Konzeption des Regisseurs folgt, das Stück beschreibe „eine Reise in den Hirnkasten des Demenzkranken“, mag darin die Darstellung einer krankhaft gestörten Wahrnehmung erkennen. Auf der Ebene der Bühnenrealität aber erlebt der Zuschauer die szenische Veränderung nicht als Bild einer subjektiven Anschauung, sondern als eine objektiv nachvollziehbare Maßnahme.

Auf dem Weg in die Ausgrenzung. Szene mit Werner Klockow, Claudia Friebel und Isabel Baumert (rechts). (Foto: Olaf Struck)

Auch die übrigen Störfeuer gegen Andrés Bewusstsein erfolgen von Außen, von den Personen in seiner Umgebung – allen voran Anne, die Tochter. Sie hat beschlossen, von Paris nach London zu ziehen und den Vater in fremder Betreuung, also allein zurück zu lassen. Pierre, der neue Mann in ihrem Leben, wirkt in der Darstellung durch Christian Kämpfer weitgehend unsensibel und bestärkt sie in ihrem Beschluss. Claudia Friebels harmlose Betreuerin Laura bemüht sich vor allem um Konfliktvermeidung. Fabian Monasterios bleibt ein unnahbarer und darum bedrohlicher Mann. Selbst Ellen Dorn in der Rolle der Krankenschwester am Ende von Andrés Weg in die Einsamkeit offenbart nur professionelle pflegerische Pflichterfüllung. Nirgendwo ein Hauch von Nähe.

Unverständnis, Ablehnung, Ausgrenzung – das sind die Stationen, an denen Florian Zeller die Krankheitsgeschichte seines Protagonisten abhandelt. Sein Patient leidet nach dieser Auffassung weniger an einem psychischen Defekt als an sozialen Defiziten. Und Regisseur Volker Schmalöer folgt absichtsvoll nüchtern diesem Prozess: Er erzählt kein persönliches Drama sondern eher eine Tragödie, die von fehlender Zuwendung und  von ausbleibender menschlicher Opferbereitschaft handelt. Immerhin. Wenn sich André, anders als im Text vorgegeben, mit erwachtem Selbstbewusstsein dem Publikum stellt, formuliert die Regie über alle inszenatorische Glätte und drohendes Betroffenheitspathos hinweg eine bittere Anklage. Doch wer die Verhältnisse in der Realität erlebt, dürfte das als zu wenig empfinden.

Infos: www.theater-kiel.de