Lesung zum 50. Todestag von Wilhelm Lehmann

Von Jörg Meyer

Eckernförde. Vor 50 Jahren starb der Dichter Wilhelm Lehmann, Ehrenbürger von Eckernförde und einer der wichtigsten und zugleich unbekanntesten Naturlyriker der – oder auch gegen die – Moderne. Im Rahmen der Wilhelm-Lehmann-Tage lasen im Eckernförder Ratssaal gleichsam als Erben des „eigensinnigen Überläufers“ die Lehmann-Preisträger Stephan Wackwitz, Doris Runge, Ulrike Almut Sandig und Mikael Vogel aus ihren von Lehmann inspirierten Werken.

„Als ich jung war, ein kleines Mädchen, war Lehmann mein Gott“, bekennt die Lyrikerin Doris Runge. „Er war mein Sprachzauberer, seine Dichtung war Magie.“ Doch auch „Dichter-Götter“ müssen irgendwann entzaubert werden, damit ihr Zauber bleiben kann, und so betitelte Runge einen Essay über ihn „Wiederbegegnung mit einem Unbekannten“. Unbekannt mit sich selbst und der Welt und daraus eben seine kreative Energie schöpfend war wohl auch Lehmann, wie der Germanist Stephan Wackwitz in seinem eindrücklichen Vortrag „Klassiker des Eigensinns“ erläutert.

Postuliert den Eigensinn als Grundlage des Dichtens: Stephan Wackwitz. (Foto: ögyr)

Mehrmals desertierte Lehmann als Soldat im 1. Weltkrieg, wie er in seinem Roman „Der Überläufer“ beschrieb. In „Provinzlärm“ zeichnete der seit 1923 in Eckernförde ansässige Autor die Geschichte der Machtübernahme der Nazis in Schleswig-Holstein nicht ohne Ironie nach, um sich dann in einer Art innerer Emigration ins unverfänglich Naturlyrische zurückzuziehen. Denn Natur ist nicht nur in totalitären Regimen ein Rückzugsraum, vielmehr überhaupt die Sphäre für einen „Sonderling“ wie Lehmann. Und „Sonderlinge“ und „Narren“, so postuliert Wackwitz, sind eh die Keimzelle für „Dichtung, die uns alle nährt“ (Beate Kennedy, Vorsitzende der die Lesung veranstaltenden Wilhelm-Lehmann-Gesellschaft, in ihrer Einführung.)

„Eigensinn ist ein Ausdruck von als Individuum behauptetem humanem Eigenwert“, weiß Wackwitz. Zugleich seien die eigensinnigen Sonderlinge befremdend, weil sie sich nicht in „normale“ gesellschaftliche Raster einfügen – „manchmal auch nervig“. Ernst Jünger, Zeitgenosse Lehmanns, habe in seinem Essay „Der Waldgang“ „sozusagen eine Betriebsanleitung für den Umgang mit Eigensinn“ und dem Exil in der Naturlyrik gegeben, wie man „das Schiff der Moderne verlassen könne, ohne mit ihm unterzugehen.“

Doris Runge: „Lehmann war mein Gott.“ (Foto: ögyr)

Naturromantischer Widerstand à la Henry David Thoreau und der Öko-Bewegung der 1980er Jahre, in deren Zuge Lehmann nach langem Vergessen wieder mehr wahrgenommen wurde, sei dennoch nicht das einzige Muster für eine aktuelle Lehmann-Rezeption. Denn gegen diese, gleich welcher politischer und poetologischer Herkunft, sperre sich sein eigentümlich eigensinniges Werk.

Auch Ulrike Almut Sandigs „Grimm“ (nicht nur über die Märchen der gleichnamigen Brüder) entzieht sich solcher Einordnung, ebenso Mikael Vogels „Über die Auslöschung der Arten“. Beide postulieren einen Eigensinn, den sie unter anderem von Lehmann lernten. Und zeigen damit, dass die eigensinnig widerständige Natur des Dichtens nicht ausgestorben ist, sondern – ganz in Lehmanns Sinne – (über-) lebt und sich erweitern lässt.

Die Ausstellung „Der Wanderer und der Weg“ über Wilhelm Lehmanns Werk läuft noch bis 6.1.2019 im Museum Eckernförde.