Eine juristische (Weihnachts-) Kurzgeschichte von Gerald Grote
Der Auslöser für eine der größten Krisen der kommenden Zeit wird ein einfacher Brief sein. Ein fein im Zickzackfalz geknicktes Schriftstück mit dem gewissen Kniff, dessen brisanter Inhalt sich dadurch erst ganz allmählich entfalten wird. Außerdem werden die Empfänger über die Bedeutung jener Zeilen lange und ausgiebig nachdenken müssen. Das ist wie bei einem guten Wein, der ja auch erst nach dem Einschenken in ein Glas allmählich sein Aroma entwickelt.
Was heute noch wie ein Märchen klingt, kann morgen Wirklichkeit sein. Hier ist so ein Märchen von demnächst. Eine Vorahnung, eine düstere Hellseherei. Nutzen wir diese einmalige Gelegenheit und entziffern die kommenden Buchstaben. Aber wir sollten dabei äußerte Vorsicht walten lassen! Der Sinnzusammenhang der künftigen Schriftzeichen entwickelt nämlich bisweilen kriminelle Fertigkeiten, denn er ist in der Lage, unseren Verstand zu rauben.
Jener Brief kam kurz vor Weihnachten, stammte von der amerikanischen Firma „Mon Santa“ und richtete sich an die Bundesregierung. In dem Schreiben mahnte man an, dass der Weihnachtsmann eine Erfindung der USA sei, und deshalb müsse die weihnachtliche Amtssprache künftig Englisch sein. Womit wohl die minimale Variante der britischen Artikulationsweise gemeint ist, die man im Land jenseits des Atlantiks von sich gibt.
Außerdem, so hieß es in dem Schriftstück weiter, habe die Firma „Christmas Mass“ vor wenigen Wochen sämtliche Rechte an dem Jahresendfest gekauft. Weltweit. Mit weitreichenden Konsequenzen. Alle Attribute der feierlichen Tage müssten nämlich, vom nächsten Jahr an, beim Lizenzinhaber angefragt und erworben werden. Gegen eine entsprechende Gebühr selbstverständlich.
Jeder Weihnachtsbaum, jede Weihnachtskerze, jedes Weihnachtsornament wird künftig nicht mehr der Allgemeinheit gehören, sondern einem Konzern, dessen Juristen sogar prüfen, ob Neuschnee nicht auch zu diesen lizenzpflichtigen Produkten gehören müsse.
Welche Bedeutung haben diese ungeheuerlichen Vorgänge? Werden wir bald ausgenommen wie eine Weihnachtsgans? Was ist mit Bescherung, Besinnlichkeit und Bratapfel? Gabentisch, Glockenklang und Gaumenfreuden? Sind nun für alle Zeiten die Lebkuchen gestorben?
Ein komplex-kompliziertes Regelwerk lässt keine rechtlichen Lücken, keine legitimen Schlupflöcher mehr offen. Man habe aus der geräteunabhängigen Haushaltsabgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland gelernt, hieß es dazu aus der amerikanischen Konzern-Zentrale. Deren Anwälte vor Aktivitäten nur so strotzen. Im Zuge ihrer Rechtsbesessenheit haben sie der Jägerschaft von Forstheim irrtümlich eine Abmahnung geschickt, um das traditionelle Herbstfest zu verbieten, die altehrwürdige Geweihnacht.
Ja, man konnte es fast hören: hier pochte jemand auf sein Recht.
Indes bemühte sich die Politik, Beschwichtigungsformeln und Verharmlosungsfloskeln über die Medien zu verbreiten. Ohne Erfolg. Das gesellschaftliche Leben war erstarrt, weil die Bevölkerung in einen andauernden Schockzustand verfiel. Die Volksgesundheit veränderte sich dramatisch. Chronisch stabile Schwindelanfälle mit gelegentlichen Flunkereien waren da noch das kleinere Übel. In einigen Gegenden gab es sogar Bluthochdruckgebiete.
Reihenweise sahen sich Unternehmen in ihrer Existenz bedroht, die mit der Produktion von Weihnachtsartikeln ihr Geld verdienten. Christbaumkugel-Fabriken stellten vor Schreck birnenförmigen oder sogar eckigen Hängeschmuck her, Wachskerzen schrumpften ohne erkennbaren Anlass, stattliche Schokoladenweihnachtsmänner verloren ihre stramme Haltung und sackten in sich zusammen. Der so typische Weihnachtsduft verflüchtigte sich, Weihnachtslieder verstummten, und auch jeder andere Brauch lag brach. Kein einziger Weihnachtsbaumverkäufer kam mehr auf einen grünen Zweig. Die allgemeine Weihnachtsstimmung war auf einem ungeahnten Tiefstand. Und über allem stand die bange Frage: Lässt sich das Rad der Weihnachtsgeschichte vielleicht doch noch zurückdrehen?
Die Nachrichten-Korrespondenten berichteten tagelang von nichts anderem. Arbeiter gingen auf die Straße, die Vorsitzenden der neugegründeten Weihnachtsgewerkschaft sprachen zum Volk, Kinder weinten weltweit auf allen Kanälen. Und Minister taten, was sie in besonders wichtigen Angelegenheiten gelegentlich schon mal gemacht hatten, auch wenn es ihnen jetzt schwerfiel: Sie ergriffen die Sache für die Partei, und sie ergriffen Partei für die Sache.
Das hässliche Wort „Krise“ machte die Runde. Die Verbraucher befiel Panik. Nicht nur in Tierhandlungen kam es zu Hamsterkäufen. Der Einzelhandel befürchtete für die Zukunft das Ausbleiben des alljährlichen Shopping-Tinitus, des Kauf-Rausches. Die Weihnachtswirtschaft drohte in allergrößte Schwierigkeiten zu geraten …
Der Rechtsanwalt Kuno Kadi las gerade seine Morgenzeitung, die zum wiederholten Male das leidige Weihnachtsthema mit großen Überschriften in vielerlei Artikeln und Kommentaren bearbeitete. Der Jurist schüttelte ob dieser einseitigen inhaltlichen Ausrichtung gerade den großen Kopf, als ihn, ausgelöst durch jene Hauptbewegung, ein durchtriebener Einfall abrupt zusammenzucken ließ und ein nachfolgender, ziemlich gewitzter Gedanke zum Lächeln brachte. Ja, so könnte es tatsächlich gehen, dachte der findige Advokat, und trank einen großen Schluck Pfefferminztee, der mit einer extra großen Portion raffinierten Zuckers gesüßt worden war. Dadurch war der Jurist jetzt besonders auf Zack.
Er ging pfiffig zum Garderobenspiegel und band sich wie jeden Morgen ein Paar teure, farblich aufeinander abgestimmte Schleifen unter den seidenen Hemdkragen. Das Ritual war übrigens seiner wöchentlichen Diskussions-Fernsehsendung geschuldet, deren Titel ihn zu dieser optischen Doppeldeutigkeit veranlasste. Ein Wortspiel, das zudem die Redegewandtheit ihres Moderators herausstellte: „Zwei Fliegen mit einer Klappe“.
Als Kuno Kadi mit gewieftem Gesichtsausdruck in seinen ausgebufften Anzughosen leichtfüßig das Büro betrat, wusste er genau, was nun zu tun war. Mit etwas trickreicher Taktik und einer lustigen List werde er das Kind schon schaukeln. Außerdem sprachen auch die optischen Gegebenheiten für einen erfolgreichen Verlauf seines Vorhabens. Beispielsweise ein plumpes Erbstück, welches er mit Stolz trug: Das noch funktionsfähige, etwas klobige Hörgerät seiner Großmutter, was dazu beitrug, dass er es faustdick hinter den Ohren hatte. Und durch sein Hobby, der jahrelang betriebenen Hochseilartistik, welche er bei jeder Gelegenheit in seinem Büro ausübte, war er sowieso immer auf Draht.
Deshalb war ja auch auf seiner Visitenkarte ein Stehaufmännchen abgebildet sowie als Wahlspruch zu lesen: „Clevererer als alle anderen“, und genau das wollte er jetzt beweisen.
Er nahm das juristische Standardwerk „Schwörarbeit“ zur Hand, die Luxus-Ausgabe mit paragraphengrauem Leitfaden, herausgegeben von den Rechtsgelehrten R. Lass, D. Kret, G. Heiß und B. Fehl. Nach kurzem Blättern legte er das Buch beiseite. Denn jetzt wusste er, wie er vorgehen musste. Also rief er seinen Gehilfen Dick Tat, um ein schnelles Stenogramm aufzunehmen.
Während Kuno Kadi seine wohlgesetzten Worte zu Papier bringen ließ, hatte er sich sein Strickzeug aus der Schreibtischschublade genommen und setzte die Nadeln in Bewegung. Derartiges tat er immer in Situationen, die Anlass gaben, sich in die Wolle zu kriegen. Und das war hier im höchsten Maße der Fall. Darum zog er die Maschen des Gesetzes auch besonders eng.
Sein kurzer Brief an „Mon Santa“ hatte es dreifach in sich. Er war wie ein Tritt in die Kanzlei, ein Hieb ins Büro und ein Schlag ins Kontor. Und dieser Anstoß zwang das Unternehmen in die Knie. Mit gehisster weißer Fahne wurde die Flinte ins Korn geworfen. Kleinlaut musste man einlenken und alle Versuche, sich des Weihnachtsfestes zu bemächtigen, aufgeben. Aus den Wogen wohlgezielter Worte waren beim Adressaten hochschlagende Wellen geworden, deren Brechern man wenig entgegenzusetzen hatte:
„Womöglich ist der Weihnachtsmann eine amerikanische Erfindung. Kann unter Umständen eventuell gegebenenfalls vielleicht sein. Sicher aber ist Amerika eine europäische Entdeckung. Und der Name wahrscheinlich sogar deutschen Ursprungs. Als nämlich ein Freiburger Kartograph im Jahr 1507 eine Weltkarte zeichnete, nutze er erstmalig das Wort ,Amerika’. Und das kam so: Auf der Suche nach einem Terminus für den neuen Kontinent fiel ihm seine Tante Erika Am ein, die immer in Fahrt und häufig aus dem Häuschen war; durch die umgekehrte Zusammensetzung ihres Namens fand er den gesuchten Begriff.
Ähnliches ist übrigens bei den späteren Benennungen einiger ihrer heutigen Bundesstaaten geschehen. Denken Sie nur an Egon Or oder Diana In. Noch eindeutiger geben andere Bezeichnungen ihren Ursprung preis: Ida Ho, Michi Gan, Mary Land, oder Louis Iana.
Sollten Sie nun auch weiterhin darauf bestehen, Ihre Rechte an Weihnachten zu beanspruchen, werden wir Ihnen die mehr als fünfhundert Jahre währende unentgeltliche Nutzung des Namens ,Amerika’ in Rechnung stellen und uns bezüglich der Bundesstaaten weitere Schritte vorbehalten.“
Dem Brief legte Kuno Kadi noch zwei Dinge bei: einen Bleistift, um einen Schlussstrich zu ziehen, und einen Schwamm, mit dem man über die unrühmliche Angelegenheit wischen sollte.
Das zeigte Wirkung. Auf diese Art und Weise konnte ein einzelner Anwalt mit der Kraft seiner Worte das Weihnachtsfest retten. Er hat mit seiner Geistesgegenwart der Zukunft zum Sieg verholfen. Zumindest in diesem Märchen von demnächst.
Aber eines ist auch wieder deutlich geworden: Angesichts vielfältiger ungelöster Aufgaben, Krisen und Probleme wird es von Jahr zu Jahr immer mühevoller, den Festtagen eine feierliche Fröhlichkeit abzugewinnen. Die Nüsse, die es zu knacken gilt, werden immer härter. Ja tatsächlich, es weihnachtet schwer.
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