Juli Zehs Roman „Spieltrieb“ in strenger Ordnung auf der Bühne des Kieler Schauspielhauses
Von Christoph Munk
Kiel. Das Porträt einer ganzen Generation zu Beginn unseres Jahrhunderts? Oder doch nur ein gewollt abseitiger Blick auf zwei extrem sonderbare Gestalten? Große Bedeutung oder kleiner Pieps? Reichweite und Wirkungskraft von Juli Zehs Roman „Spieltrieb“ von 2004 lässt sich auch angesichts von Bernhard Studlars Bühnenfassung zwei Jahre später kaum einschätzen. Immerhin versucht jetzt Mona Kraushaars Inszenierung für das Kieler Schauspiel, dem Konstrukt durch grafisch strenge Ordnung Kontur zu geben und holt sich dafür beachtlichen Premierenapplaus.

Kalkuliertes Figurenarrangement: Szene aus „Spieltrieb“ mit (.v.li.) Christian Kämpfer, Claudia Friebel, Anne Rohde, Jasper Diedrichsen und Ellen Dorn (im Hintergrund). (Foto Olaf Struck)
Alles ist Plan. Auf einem riesigen Geviert sind auf weißem Grund Linien zu sehen. Schnittmuster? Sportfeldmarkierungen? Egal, denn es geht jedenfalls erkennbar um Regeln und Abgrenzungen von fraglichem Gewicht. Denn Bühnenbildnerin Katrin Kersten hat das Tableau über Eck aus dem Rahmen gekippt. Jetzt steigt es als steiler Spielplatz in den Bühnenhintergrund: abschüssiges Gelände, schiefe Ebene, unsicherer Grund. Den Figuren darauf fällt es nicht leicht, Stand zu gewinnen, Haltung zu zeigen.
Nur Ada zeigt keine Mühe. Im obersten Winkel hat sie Posten bezogen. Als ob sie es nichts anginge beobachtet sie, was unter ihr geschieht, was die Erwachsenen treiben, von denen sie sich zunächst distanziert. Am Ende steht sie an der untersten Ecke an der Rampe und direkt vor ihren Zuschauern und predigt von glücklichen Menschen, die zwar sexuellen Missbrauch ausgeübt oder erlitten haben, aber im Innern unverletzt geblieben sind, weil sie, wie sie behaupten, weder Angst kennen noch eine Seele brauchen und jetzt nur Ruhe vor Reglementierungen suchen. Ada oben unnahbar kühl und Ada unten erhitzt von missionarischem Eifer – zwischen diesen Positionen spielt sich die ganze Geschichte ab. Spieltrieb heißt ihr zentrales Thema.
Es ist die Geschichte eines jungen Mädchens, intellektuell hochbegabt und entwicklungspsychologisch womöglich nicht ganz störungsfrei, das sich in Familie und Schule: unzugänglich für die Mutter (etwas ordinär auftrumpfend: Ellen Dorn), strickt ablehnend gegenüber dem wertkonservativen Lehrer (sympathisch moderat: Imanuel Humm), emotionslos gleichgültig zum Mitschüler (treuherzig: Tony Marossek). Nichts scheint die 15Jährige aus dem Eis ihrer überhöhten Ansprüche zu lösen. Lustlos und beinahe zwanghaft läuft sie ihre einsamen Runden, bis Alev ihre Wege kreuzt. Der Junge, ein paar Jahre älter und ein scharfsinniger Vagabund, nimmt sich wie ein juveniler Mephisto ihrer an. Von nun an schmieden die beiden Leugner von Gesetz und Moral einen von Nihilismus genährten Plan.
Wenn das Planspiel beginnt – in Teil zwei nach der Pause – gewinnt das von Mona Kraushaar wie eine Versuchsanordnung arrangierte Geschehen auf der Bühne an Zielführung und Spannung. Dann entwickelt sich aus Textklauberei zwischen Tiefsinn und Klugscheißerei der Vollzug eines abgefeimt inszenierten Skandals: sexueller Missbrauch und Erpressung. Sein Opfer: der brave Lehrer Smutek, den Christian Kämpfer betont als naiv und bodenständig charakterisiert, aber kaum erkennbar macht, dass er am Konflikt zwischen Triebhaftigkeit und moralischer Pflicht leidet. In seinem Schatten beschädigt: Frau Smutek, laut Rollenbezeichnung eine Erscheinung, die Claudia Friebel allmählich in die Belanglosigkeit verschwinden lässt.
„Der Spieltrieb bleibt“ – wenn man dem Menschen alle seine Wertvorstellungen nehme. Die zentrale These in Juli Zehs Text orientiert sich deutlich an Friedrich Schillers Idee vom Menschen, der „nur ganz da Mensch ist, wo er spielt“. Doch in der Umsetzung auf der Bühne wirkt das Ideal wie eine Rechtfertigung für Handlungen die mit Zwang, Übergriffen und dem Raub von Freiheit verbunden sind. Und sie werden von Tätern verursacht, die ohne Moral sind, sich außerhalb der Gesetze stellen und darum wie lebensferne Schattengestalten wirken. Anne Rohde als Ada in Oversized Shirt und Schlabbershorts verharrt ohne sichtbare Regung in Ausdruckslosigkeit: eine kraftvolle Anstrengung, aber keine Anteilnahme, keine Freude, kein Schmerz. Und Jasper Diedrichsen verweigert dem Alev jede positive Antriebskraft: sein Formalist als Funktionär besteht aus Kalkül und Machtwille. Traurige Figuren, alle beide.
Termine und Info: www.theater-kiel.de
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