Kieler Stadtgalerie: „An der Nordkante – Der Mensch in der finnischen Gegenwartskunst“
Von Hannes Hansen
Kiel. Was ich vor zwei Jahren in diesem Blog zum Thema der Ausstellung „Licht in der finnischen Gegenwartskunst“ in der Kieler Stadtgalerie schrieb, gilt unverändert: „Finnische Kunst, schrieb vor kurzem eine Kunstzeitschrift, sei in Deutschland unbekannt. Das mag südlich der Elbe so sein, gilt aber … für Schleswig-Holstein ganz und gar nicht. Mehrmals haben die Kieler Stadtgalerie und Norbert Weber in seiner Galerie NEMO in Eckernförde unterschiedlichste Positionen finnischer Künstler von Kain Tapper bis Tuomo Manninen präsentiert.“
Mit „An der Nordkante – Der Mensch in der finnischen Gegenwartskunst“ setzt die Stadtgalerie diese Tradition fort. Wieder, wie schon vor zwei Jahren, hat die in Bonn lebende finnische Kunsthistorikerin Ritva Röminger-Czako die Ausstellung kuratiert. Sie zeigt Werke von zehn Künstlerinnen und Künstlern, die unterschiedlichste künstlerische Positionen in den Genres Malerei, Skulptur, Foto- und Videokunst vertreten. Vergleichsweise stark vertreten ist die Fotografie mit fünf Beteiligten. Das dürfte neben dem speziellen Interesse des Stadtgaleriedirektors Peter Kruska vor allem an der überaus bedeutenden Rolle (Stichwort „Helsinki-Schule“) liegen, die die Fotokunst in Finnland spielt, einem Land, das erst spät den Anschluss an die internationale Kunst gefunden hat und deswegen weniger von traditionellen Vorurteilen geprägt ist als die Platzhirsche und Kunstgurus anderer Länder.
Gleich beim Eintritt in die Stadtgalerie bilden neunundzwanzig in düsteren Grau- und Schwarztönen gehaltene Betonbüsten eine Art Barriere, die mit einem energischen „Halt“ Aufmerksam- und Nachdenklichkeit einfordert. Kaisaleena Halinens vermummte Männer- und Frauenköpfe sind weitgehend entindividualisiert, doch unter den Sturmhaben zeigt sich ein Rest Persönlichkeit, der uns daran erinnert, dass sich unter dem vereinheitlichenden Rubrum „Terrorist“ ein Mensch mit seinen jeweils individuellen Ängsten und Hoffnungen, seiner unverwechselbaren Geschichte und seinem ganz eigenen Schicksal verbirgt.
Nelli Palomäkis großformatige Schwarz-Weiß-Porträts von Kindern und Jugendlichen scheinen auf den ersten Blick dem Genre der klassischen Porträtfotografie anzugehören. Doch ein zweiter Blick auf die stillen Bilder lässt Fragen aufkommen. Sind diese Umarmungen und Gruppenaufnahmen von Geschwistern Zeugnisse von Zärtlichkeit oder Gewalt? Ist es Liebe, was die Beteiligten verbindet, oder Hass, Hilfsbereitschaft oder Konkurrenzkampf? So wird aus dem altehrwürdigen Genre der Familienfotografie, das einen vermeintlich heilen und idyllischen bürgerlichen Kosmos zeigt, eine Welt des Zweifels und der verlorenen Illusionen.
Janne Räisänens von einem wilden, anarchischen Humor geprägten Figuren und Alltagsszenen repräsentieren in der Tradition des „Bad Painting“ mit seinen Kritzeleien und (scheinbaren) Kinderzeichnungen den Lebensbereich von Street Art und Subkultur, während Sami Lukkarinen Selfie-Fotos malerisch verpixelt und die Grenzen zwischen Fotografie und Malerei aufhebt und dabei die ins Riesige vergrößerten Pixels skulptural-abstrakte Qualität gewinnen lässt.
Die Samin Marja Helander lässt in ihrem Kurzfilm „Birds in the Earth“ zwei Balletttänzerinnen in der lappländerischen Landschaft und vor dem finnischen Parlament auftreten. Auf ebenso poetische wie entschiedene Weise macht sie auf die in Finnland umstrittene Frage des Landbesitzes der samischen Ureinwohner aufmerksam, ohne dabei in plumpe Agitprop-Kunst abzutauchen.
Das Künstlerduo Tellervo Kalleinen und Oliver Kochta-Kalleinen hat für seine interaktive Videoinstallation „101 für alle“ 100 „Durchschnittsfinnen“ verschiedensten Alters, Herkommens und sozialen Status’ zu ihren Einstellungen zu bestimmten Fragen interviewt. Fragen wie der ob Butter oder Margarine vorzuziehen sei, ob Euthanasie erlaubt sein sollte oder ob Einwanderung die finnische Eigenheit bedrohe. Die Antworten räumen nachdrücklich mit dem Vorurteil auf, es gebe einen „Durschnittsfinnen“.
Aino Kannisto inszeniert sich in ihren Fotos in immer neuen Rollen als multiple Persönlichkeit, und Anni Leppäläs Fotos zeigen junge Frauen in einer Welt zwischen Traum und Wirklichkeit. Vesa Ranta schließlich betreibt im Stile der teilnehmenden Beobachtung Dokumentarfotografie und
zeigt das Leben einfacher Menschen in von der Landflucht betroffenen eponymischen „Nordkante“ Finnlands.
Fazit: „An der Nordkante“ ist eine faszinierende Ausstellung. Besuch wärmstens empfohlen.
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