Aubers Grand Opéra „La muette de Portici“ in einer ehrgeizigen politischen Deutung im Kieler Musiktheater
Von Christoph Munk
Kiel. Alles muss monumental erscheinen, aufwendig und effektvoll. Dann sind die Anforderungen der Gattung „Grand Opéra“ erfüllt. Insofern genügt die Produktion von Daniel François Esprit Aubers „La Muette de Portici“ (Die Stumme von Portici) am Kieler Musiktheater den Ansprüchen. Und die Inszenierung von Valentina Carrasco setzt darauf zusätzlich eine politisch aktualisierte Interpretation des Revolutions-Themas, die trotz gewisser Verzerrungen anerkennenden Premierenbeifall erzielt.

Aus Freunden werden Gegenspieler: Anton Rositskiy als Masaniello (links) und Tomohiro Takada als Pietro. (Fotos: Olaf Struck)
Wuchtige Schläge in den Anfangstakten, die zarte Melodie danach von süßestem Holz, energische Einschübe, muntere Streicherfiguren, tanzende Rhythmen, treibende Kräfte und immer wieder dramatische Steigerungen – keine Frage: Schon die Ouvertüre offenbart, dass Daniel Carlberg das Philharmonische Orchester hellwach und engagiert durch alle Kontraste, Farbwechsel, Klippen und Feinheiten der Partitur steuert. Kiels Erster Kapellmeister und stellvertretender Generalmusikdirektor garantiert der mehr als dreistündigen Aufführung einen nie nachlassenden Energiefluss, peitscht die wiederkehrenden Massenauftritte immer neu und kraftvoll an, hält inne in den intimen Momenten, befeuert die Bewegungen zur Revolte, ermuntert zu Frohsinn und Tänzen, setzt entschlossen Akzente und Zäsuren. Wann immer die Handlung Direktiven und Impulse braucht, gibt ihr die musikalische Begleitung einen Orientierungsrahmen.
Auf der Basis dieses zuverlässigen Klangstromes bewegen sich die von Lam Tran Dinh fabelhaft vorbereiteten Chöre sicher und variabel im geforderten, reich abgestuften Spektrum zwischen stillem Gebet, Jubelgesängen, festlichem Liedgesang und revolutionärem Pathos. Auffällige Konturen finden auch die Solisten eher in der Gestaltung ihrer Gesangspartien als in den Zeichnungen der Figuren. César Cortes gibt dem adligen Herrscher und reuigen Verführer Alphonse vor allem mit geschmeidig und elegant ausgeführtem Tenor Stand und Statur; Hye Jung Lee vermittelt der wenig glücklichen Braut Elvira mit leichtem und mühelosem Sopranglanz Gefühl und Charme; und Anton Rositskiy verleiht dem Fischer und Anführer Masaniello in erster Linie Charakter, weil er die schwierige Partie mit gesteigerter Durchschlagkraft und höchster Piano-Finesse ausstattet. Tomohira Takada steht gewohnt kultiviert singend ihm als Freund und späterer Gegner Pietro zur Seite; Matteo Maria Ferretti, Fred Hoffmann, Ivan Scherbatyh, Pauline Kringel und Andrzej Bernagiewicz liefern markante Nebenfiguren.
Die szenische Realisierung durch Valentina Carrasco versucht, mit dieser musikalisch imposanten Vorgabe Schritt zu halten. Und scheitert ehrgeizig. Eine seltsam ungelenke Personenführung und immer wieder gleichförmig arrangierte Massenszenen verhindern, dass klare, die Handlung ordnende Bilder entstehen. Der Eifer der argentinischen Gastregisseurin konzentriert sich darauf, der Revolutionshandlung einen ideologischen Überbau zu verschaffen. Darum verlegt sie die Geschichte vom (gescheiterten) Aufstand der neapolitanischen Fischer gegen die Herrschaft des spanischen Vizekönigs aus dem 17. Jahrhundert in eine Zeit, die nur vage bestimmt ist. Den Schauplatz markiert eine rostige Schiffsruine (Bühne: Justin Arientin). Seine Bewohner werden durch die Kostümierung von Elena Cicorella nach Klassen unterschieden: Der Adel ist feiner angetan als das arbeitendes „Proletariat“ der Fischer. Und die ziehen in ihren Netzen Plastikmüll und Unrat an Land. Die Verschmutzung des Meeres zeigt sich eben unübersehbar; Videos (Frank Scheewe) künden von gewaltsamen Straßenschlachten, da wird scharf geschossen, während sich die Aufständischen mit Holzknüppeln rüsten. Und wo das Volk munter tanzen könnte, vollführen zu Aubers Ballettmusiken unartige Buben Choreografien (Massimiliano Volpini), die ein bisschen aggressiv aussehen sollen.
Alles ist eben nicht so schön, wie es sein könnte, wenn die Bewohner Neapels das hätten, wofür sie kämpfen möchten: ihre Freiheit. Aber wo ist der Gegner? Wer verantwortet die sichtbaren Zivilisationsschäden? Wer hängt die Netze auf, in denen sich die Opfer der Verhältnisse fangen? Die Fronten verlaufen so unübersichtlich, dass die eigentliche Hauptfigur, die stumme Fenella, nicht nur die verschmähte und verfolgte Liebhaberin geben muss, sondern einfach keine Heimat findet. Und da die Regie die Figur mit einer Farbigen besetzt (drastisch gestikulierend: Dayan Kodua), wirft sie zusätzlich das Thema Ausgrenzung von Fremden in die Debatte.
Ehrgeizig entwirft die Regisseurin das diffuse Bild einer verstörten Gesellschaft, ohne andere Verursacher zu benennen als jene dämonische Horde unseliger Geister, die zunächst nur immer wieder Fenella heimsuchen, doch später nach der finalen Katastrophe triumphierend ihr Unwesen treiben. Wer sind diese schwarzen Dämonen? Man wird die Antwort weder im Libretto noch in Aubers Partitur finden. Denn etliche von Carrascos szenischen Erfindungen bleiben als bloße Behauptungen unzulänglich begründet. Kann passieren, wenn eine engagierte Inszenierung aus dem historischen Sujet einer Grand Opéra ein Weltendrama destillieren möchte. Immerhin: gut gemeint.
Info und Termine: www.theater-kiel.de
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