Dariush Yazdkhasti präsentiert entspannt und konzentriert „Mary Page Marlowe – Eine Frau“ im Kieler Schauspiel
Kiel. „Ich hatte ein gutes Leben. Von den Sachen, die ich machen wollte, hab ich viel gemacht.“ Als Mary Page Marlowe in dieser Überzeugung spricht, ist sie 69 Jahre alt und bereit zu sterben. Doch das Ende ihres Lebens markiert nicht das Finale des Theaterstücks, das ihren Namen im Titel führt. Viel mehr platziert sein Autor, der Amerikaner Tracy Letts, die Erkenntnis ins Zentrum einer fiktiven Frauenbiografie, die auf der Bühne keiner Chronologie folgt und doch eine gewisse Logik erkennen lässt. Dariusch Yazdkhasti erzählt sie in seiner Inszenierung für das Kieler Schauspiel unangestrengt und doch voll konzentrierter Spannung.

Vier Mary-Darstellerinnen zu einem Titelbild vereint (v.li.): Stella Roberts, Olga von Luckwald, Ellen Dorn, Claudia Macht. (Foto Struck)
Ein leuchtender schmaler Rahmen füllt nahezu den gesamten Raum im Bühnenportal. Da hinein treten gemeinsam die vier Schauspielerinnen, die die aufgeteilten Rollen der Mary Page Marlowe verkörpern werden. Hintereinander sprechen sie das dem Geschehen vorangestellte Motto aus einem Essay von Joan Didion: „Ich finde, wir sind gut beraten, die flüchtige Bekanntschaft mit den Leuten, die wir damals waren, zu pflegen …“ Mit diesen Worten beginnt die Ermahnung zur Selbstbesinnung, die dann folgen wird. Und wir hören und sehen: Dies ist das Titelbild eines im Theater präsentierten Buches über Erinnerungsarbeit.
Die Figuren trennen sich, um in einzelne Kapitel einzutreten, präzis bezeichnet nach Jahren und Lebensaltern, aber nicht im üblichen Verlauf geordnet. Der große Rahmen wird gewendet und schnell wird klar, dass Dariusch Jazdkhasti Anna Bergemanns Bühnenarchitektur wie ein überdimensionales Fotoalbum nutzt und darin blättert – vor und zurück, wieder vor und so weiter, scheinbar wahllos und doch von einem tieferen Sinn gesteuert.
Muster und Motive werden erkennbar, wie sie sich im Lauf eines Lebens wiederholen. In der ersten Szene beispielsweise muss Mary, 40 Jahre alt, ihre Kinder nach einer Scheidung und wegen einer neue Stelle beim Vater zurück lassen. Spätere Episoden erzählen von früheren Ereignissen, in denen das Kind Mary mit ähnlichen, schmerzlichen Erfahrungen konfrontiert war. Oder: Ein Glas Alkohol zu viel in Sorge um den verschwundenen Sohn entwickelt sich zur Sucht, ein schwerer Autounfall ist die Folge, Strafe, Verlust der Freiheit. In zeitlichen Sprüngen, aber in der Gesamtschau werden immer die Geheimnisse um die inneren Bewegründe dieser Frau erkennbar, die zwar Pläne und Träume hat, aber immer wieder von ihrer Linie abweicht. Sie entscheide nicht, sagt sie zu ihrem Therapeuten, „in welche Richtung sich mein Leben entwickelt … Für nichts davon habe ich mich entschieden. Das ist mir alles passiert …“
Mit „Mary Page Marlowe – Eine Frau“ gibt Tracy Letts seinem Stück einen exemplarischen Titel. Diese eine Biografie mag für viele stehen. Aber was macht es so interessant, gerade diesem Lebensbericht zu folgen, dass gegenwärtig zahlreiche Bühnen den Titel in ihrem Repertoire führen? Unterhaltsam wirkt der Stoff gewiss, weil Letts ihn weder schulmäßig chronologisch nacherzählt, noch mit einem lebensklugen Zeigefinger ausdeutet. Und doch führt der Dramatiker in der bewährten Manier des „well made plays“ die Story aus einem scheinbaren Chaos in eine angenehme Ordnung, findet auch keine wahrhaftige Antwort auf die Allerweltsfrage nach den Grenzen der Selbstbestimmung und verwandelt verstörende Konflikte in eine heilsame Harmonie. Beispielhaft dafür darf Marys Antwort auf die über allem stehende Frage, in welchem Maße der Mensch sein Glück in der eigenen Hand hält, gelten: „Ich hatte ein gutes Leben. Von den Sachen, die ich machen wollte, hab ich viel gemacht.“ Zufriedenheit vor dem Ende.
Für seine Kieler Inszenierung findet Regisseur Dariusch Yazdkhasti seine eigene überzeugend einfache Form. Statt die im Text angedeutete symbolisch gemeinte Präsentation in der Art eines Flickenteppichs, eines im Amerikanischen beliebten Quilts, stellt er unter weitgehendem Verzicht auf Kulissen und Möblierung in Anna Bergemanns Rahmen und mit den realistisch markanten Kostümen von Rahwa Oreyon immer neue Familienfotos zusammen und blättert sie in gemächlich besinnlichem Tempo von Szene zu Szene durch.
Dazu bestückt er seine Bilderschau mit geschickt ausgewähltem und versiert geführtem Personal: Olga von Luckwald – nebenbei in virtuoser Verwandlung auch als Tochter Wendy aktiv – gibt die kindliche, verträumte und aufbegehrende Mary. In der Gestalt von Stella Roberts ist die lebenshungrige, für alle Abenteuer offene Mary der jungen Jahre zu erleben. Ellen Dorn erzählt mit Temperament und Leidenschaft von den Kämpfen und Zwängen in den Lebensjahren von 40 bis 50. Und Claudia Macht führt eine gereifte, zwischen Resignation und Gelassenheit pendelnde Frau vor. Die weiteren Figuren auf den Fotografien in diesem Album werden von Isabel Baumert, Marius Borghoff, Imanuel Humm, Felix Zimmer und Werner Klockow, jeder auf seine Art um knappe Charakterisierung besorgt. Alles gut. Am Ende: angeregter Applaus.
Info und Termine: www.theater-kiel.de
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