Altstadt-Träume oder semantische Verirrungen?

Ein kommentierender Befund von Helmut Schulzeck

Kiel. Die neue Wohnanlage „Alte Feuerwache“ in der so genannten „Kieler Altstadt“ wurde beim Deutschen Städtebaupreis 2018 als vorbildlich ausgezeichnet. Die Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung begründete dies damals mit der Feststellung, dass das Projekt „einen zentralen Beitrag zur Altstadtentwicklung Kiels und zur stärkeren Vernetzung der Stadträume“ leiste. – Nun, was lässt sich zu dieser Sicht des auch von seinen Bewohnern mit Lob bedachten neuen Wohnungskomplexes aus kritischer städtebaulicher Perspektive sagen?

Trostlosigkeit in Klinkerstein gehauen …

Ein „zentraler Beitrag zur Altstadtentwicklung Kiels“, heißt es in der Preisbegründung. – Was soll das heißen? Sind wir im Mittelalter und entwickeln wir für später eine Kieler Altstadt, die es aber nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr geben wird, soll heißen: heute schon seit mehr als 74 Jahren nicht mehr gibt? Was es in Kiel gibt, ist die auch andernorts beliebte Angewohnheit, Orte aus Bequemlichkeit, Anhänglichkeit, Traditionsbewusstsein oder aufgrund eines nostalgisch-romantischen Wunschdenkens mit Namen aus der Vergangenheit zu belegen oder diese Bezeichnungen beizubehalten, die heute nicht mehr der vorgefundenen Realität entsprechen.

So wird in Kiel z.B. das Wasserbecken zwischen Spielkasino und der Rückseite des „Nordlichts“, „Alter Bootshafen“ genannt, obwohl der schön längst kein Hafen mehr ist, geschweige denn sich dort auch nur ein einziges Boot findet. Auch die gefühlt ewig sich hinziehenden Bauarbeiten an der Holstenbrücke werden schließlich keinen „Kleinen Kiel-Kanal“ oder einen „Holstenfleet“ hervorbringen, sondern nur zwei betonierte, flache Wasserbecken, die über unterirdische Rohrleitungen mit dem Kleinen Kiel verbunden sein werden. Ebenso verdient das „Kieler Schloss“ schon lange nicht mehr seinen Namen, weil nur Weniges an ihm an das ursprüngliche Schloss erinnert; und, wie gesagt, der ursprünglich alte Stadtkern nicht mehr den Namen „Altstadt“, weil es neben der nach dem Krieg sträflich mit einer Flachdecke versehenen neugotischen Nikolai-Kirche, Teilen des Kieler Klosters und dem Warleberger Hof sonst nichts Altes dort mehr gibt.

Lange, versiegelte Fluchten …

Und mit dem Wort von der „stärkeren Vernetzung der Stadträume“ wird hier nolens volens in den Jargonfundus der infrastrukturellen Schlagwortkiste (oder soll ich sagen: „Mottenkiste“?) für Städteplaner gegriffen. Das mag andernorts noch seine Berechtigung haben, geht aber an den örtlichen Kieler Gegebenheiten völlig vorbei. Was soll hier einer stärkeren Vernetzung bedürfen, also miteinander verbunden werden? Der Hafen mit dem Kleinen Kiel nebst Hiroshima-Park? Das Rathaus mit dem „Schloss“? Die Oper mit dem NDR oder mit dem Rotlicht-Komplex? Vielleicht noch am ehesten Wohnen und Konsumieren.

Was früher als Stellplatz unserer heiligen Kuh, dem Auto, zum Opfer gebracht wurde, aber immerhin dem Kleinen Kiel als „natürlichem“ innerstädtischen Erholungsraum Luft zum Atmen ließ, wurde nun dem Bedarf an Wohnungen – wenn auch nur für finanziell Bessergestellte – „geopfert“. Die damit allher gehende, bedenkliche Verengung von städtischen Freiräumen scheint angesagt und kommt mit den ganz harmlos und in der heutigen Situation nur positiv klingenden Vokabeln „Baulücken schließen“ daher.

Spielplätze sind Pflicht – aber wer will hier spielen?

Zwar reicht die „Wut“ der Verklinkerung bei der „Alten Feuerwache“ nicht an das monströse Steinwüstenformat der Innenhöfe des benachbarten „Schlossquartiers“ heran. Auch wirken die zumindest bei Sonnenschein lichter anmutenden Klinker freundlicher, und man ist bemüht, die zwei bis drei Prozent unversiegelten Bodens mit Grün und blühenden Pflanzen zu humanisieren. Sogar ein Sandplätzchen für einen rudimentären Kinderspielplatz versucht, seine Verlassenheit inmitten der von der Preisjury so gelobten „unterschiedlichen Höhenstufungen, differenzierten Erdgeschosszonen sowie Vor- und Rücksprüngen für private Loggien, Balkone und Erker“ zu verbergen.

Doch auch hier können die im Vergleich zum „Schlossquartier“ gemäßigten Dimensionen nicht verhindern, dass die gesamte Anlage im Innenbereich eine gewisse leblose Strenge ausstrahlt und zum Kleinen Kiel hin dem Gewässer zu nah ans Ufer rückt und es somit aufdringlich überschattet.

„Klinkerharmonien“ …

Hier wie dort wird optisch beurteilt, vor allem in den Innenhöfen mit einem, nennen wir es mal, „Klinkerharmonien“ verschriebenen Ehrgeiz kaschiert, was dennoch vielen Betrachtern sofort ins Auge fällt: nämlich die unheimelige und steinige Enge dieser Innenschluchten, denen mit noch so vielen farbigen Klinkern, Balkonen und Fensterebenen nicht beizukommen ist.

Mögen die Bewohner das ignorieren, verdrängen oder sich mit der individuellen Einrichtung ihrer privaten Räume über die ihnen dämmernde Erkenntnis hinwegtrösten, selbst bei diesen stolzen Kauf- und Mietpreisen mit solch einer letztlich einfallslimitierten, unisonen Gestaltung vorlieb nehmen zu müssen, was besonders Architektur und Fassadengestaltung der meist wegeartigen Höfe betrifft. So kann beim nüchternen Anblick nichts darüber hinwegtäuschen, dass auch hier typischerweise ein zweiter Preis für innerstädtisches Wohnen erhoben wird, der sich an den inzwischen akzeptierten, ehemals übersteigerten Renditeerwartungen der Immobilieninvestoren bemisst und der u.a. mit dem euphemistischen Attribut „urban“ bemäntelt bzw. entschuldigt wird.

So gesehen wirkt das ganze Begründungsinstrumentarium der Preisjury des Deutschen Städtebaupreises von 2018 doch eher theoretisch, wenn nicht befremdlich. Und man könnte der nicht unberechtigten Vermutung anheim fallen, dass die Jury eher dem technischen Charme von Architekturplänen, vorteilhaften Projektionen und Fotos der „Alten Feuerwache“ erlegen ist, als dem tatsächlichen Befund vor Ort Rechnung zu tragen.