Annette Pullen inszeniert am Kieler Schauspiel Goethes „Faust“
Von Hannes Hansen
Kiel. Bekanntermaßen verkündet Mephisto am Ende von Goethes „Faust“ mit dem Spruch „Sie ist gerichtet“ das Urteil über die Kindsmörderin Gretchen. Dann aber interveniert eine „Stimme von oben“ (wohl der liebe Gott oder einer seiner Erzengel): „Ist gerettet.“
Aber nix da mit Rettung in Annette Pullens Inszenierung des „Faust“ am Kieler Schauspiel. Sie endet mit den ganz lapidar, ganz ohne herzzerreißendes Pathos gesprochenen Worten: „Heinrich! mir graut’s vor dir“ . Gerade dieser Einfall macht dann die Szene, in der Gretchen vor dem Andachtsbild der Mater dolorosa um Vergebung ihrer Sünden bittet, umso eindringlicher. Sehr schlicht, fast als ahne sie schon, das wird nichts mit der Vergebung, spricht sie die Worte „Ach neige, du Schmerzensreiche, dein Antlitz gnädig meiner Not“.
Damit ist es aber auch vorbei mit der Schlichtheit. Die auf knapp einhundert Minuten Spieldauer eingedampfte Inszenierung macht ordentlich Randale und bläst nicht nur den Staub, den zwei Jahrhunderte abgelagert haben mögen, vom „Faust“, sondern mit ihm auch, so weit es irgend geht, auf weite Strecken den religiösen Hintergrund von Schuld und Vergebung in Goethes opus magnum und spart auch ansonsten nicht mit kräftigen Streichungen. Was Stück und Inszenierung ausgesprochen gut tut und wohl auch dem alten Herren, der mit der Kirche und ihren Verheißungen ja nicht besonders viel am Hut hatte, gefallen hätte.
Iris Kraft baut der Regisseurin einen Schauplatz mit einer schmalen Vorderbühne ohne weitere Requisiten als eine durchlaufende Bank. Auf ihr agieren die Schauspieler im Diesseits der realen Welt. Ein halb durchsichtiges Gitter aus flirrrenden und zuckenden Gummischnüren trennt es vom Jenseits, das je nach Bedarf als Himmel, Hexentanzplatz und andere eher im Märchen oder Mythos verortete Stätte dient und auf weite Strecken an „Startrek“, Musikvideos oder andere poppige Clips erinnert. Ein glücklicher Einfall, wirkt die Verbindung der beiden Welten durch die je nach Fall mehr oder weniger behände durch das Gummigatter kletternden, plumpsenden oder sich zwängenden Akteure sinnfällig.
Geglückt auch die Besetzung des Mephisto mit Anne Rohde als androgynes Mischwesen in poppigem Outfit (Kostüme Barbara Aigner) à la David Bowie. Blitzschnell wechselt sie zwischen aalglatter Bösartigkeit und verlockender Erotik oder gibt sich als Kobold, der bei Shakespeares Kobold Puck aus dem „Sturm“ in die Lehre gegangen sein könnte. Ein Rollenverständnis von überschäumender Spielfreude.
Gegen diesen Mephisto hat es Faust schwer. Imanuel Humm gibt ihn zunächst als sich bedenklich dem Tattergreisentum nähernden Mann, der nicht weiß, was er eigentlich will: Erkenntnis oder Sex. Nach seiner Verjüngung ist dann von Wissensdrang nicht mehr viel zu spüren. Ihn lüstet es nur nach einer Liebesnacht mit Gretchen und sein Zaudern, seine späte Reue erweisen sich als reine Schutzbehauptung.
Auch Gretchen ist von Anfang an kein reiner Engel, kein Unschuldslamm. Schon gleich nach der ersten Begegnung mit Faust zeigt sie unverhohlen, dass es sie zwickt und zwackt. So gibt Tiffany Köberich sie von Lust an der Lust wie von Reue und Verzweiflung gleichermaßen geschüttelt. Ein Wesen, dessen Zwiespältigkeit sich in der Doppelrolle Tiffany Köberichs als Hexe offenbart.
Yvonne Ruprecht in Mehrfachbesetzung (HERR und Hexe) verleiht der ebenso schwatzhaften wie geilen Marthe karikaturhafte Züge, Tristan Steegs Wagner zeigt sich als dummschwätzender Streber ohne jede weiteren Charakterzüge und der Valentin Maximilian Herzogenraths ist genau das, was zu sein er behauptet, ein „Soldat und brav“.
All die Letztgenannten behandelt die Regie ein wenig stiefmütterlich in ihrem Bestreben auch die schwankhaften Züge des Stücks nicht zu kurz kommen zu lassen. Freilich lässt sich trefflich darüber streiten, ob die Zecher in Auerbachs Keller( Yvonne Ruprecht, Maximilian Herzogenrath, Tristan Steeg) ihre Rolle als dummbratzige, besoffene Pornotypen nicht plump überziehen. Bettina Rohrbachs musikalische Einstudierung lässt mit Anleihen bei Gershwin und den Rolling Stones nichts zu wünschen übrig und macht die leichtfüßige Inszenierung rund, auch wenn man sich fragen muss, ob dieser „Faust“ nicht streckenweise ein „Faust light“ ist. Spaß machte er jedenfalls.
Dass er den Zeitgeist trifft, zeigte der lang anhaltende Schlussapplaus.
Info und Termine: www.theater-kiel.de
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