Szenisch nüchtern, musikalisch opulent: Korngolds Geniestreich „Die tote Stadt“ im Kieler Opernhaus
Von Christoph Munk
Kiel. Ein Opernerlebnis der krassen Gegensätze: Unten im Orchestergraben entfacht Generalmusikdirektor Benjamin Reiners mit den Kieler Philharmonikern einen wuchtigen Orkan der Gefühle. Oben auf der Bühne weht unter der Anleitung der jungen Gastregisseurin Luise Kautz eine bescheidene Böe durch den bürgerlichen Alltag. Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“, der frühreif aufgewühlte Geniestreich eines eben über 20-Jährigen aus dem Jahre 1920, zeigt sich mit Sängerdarstellern bestückt, die bei hoch anständigen Gesangsleistungen in musterhaften Figuren feststecken.
Paul erscheint weniger als seelisch wankender, sondern eher gehemmt auftretender Bewohner der abgestorbenen Stadt Brügge. Er wirkt zu Beginn der Opernhandlung positiv irritiert, denn ihm, so berichtet er freudig, sei gerade das Ebenbild seiner längst verstorbenen Frau erschienen. Kein Grund, so legt es Norbert Ernsts diszipliniert ausgeführte und mit geschliffenem Sicherheitstenor ausgestattete Personenzeichnung nah, mit massiver Verunsicherung oder gar emotionaler Erschütterung zu reagieren. Das ist kein gebrochener Mann, der die Erinnerung an die einzigartige Liebe mit Passion in seiner „Kirche des Gewesenen“ heiligt, sondern eher ein rührender Pedant, der die nicht ganz bewältigte Vergangenheit wie eine Akte verwaltet.
Das soeben in seine triste Existenz hereingeflatterte Mädchen Marietta ist auch nicht ganz ernst zu nehmen. Denn Agnieszka Hauser stattet sie zwar mit prächtig aufgeblühtem Sopran aus, lässt aber statt geheimnisvollen Zaubers eher Züge des Gewöhnlichen erkennen: ein im Grunde derbes Ding von der Straße, das mit Koketterie seine Chance sucht. Und da Tatia Jibladze (Brigitta) und Tomohiro Takada (Frank) ihre Partien jeher pflichtgemäß als inspiriert absolvieren, bleibt Paul in trübsinniger Isolation hängen.
Kaum merklich unternimmt er einen Ausflug in imaginäre Welten. Auch dort herrscht statt eines traumverlorenen Chaos’ eine geregelte Ordnung: eher „ein Traum der bittren Wirklichkeit“ als „ein Traum der Phantasie“. Streng nach dem Muster französischer Gartenkultur geschnittene Efeuhecken (Bühnenbild: Valentin Mattka) begrenzen die Szenerie. Weder die um Laune bemühte Gauklertruppe noch die brav aufmarschierende Prozession sorgen irgendwie für überraschende Erregungen. Pardon: Alles kommt mir betont nüchtern arrangiert, mutlos und ohne wirklich bildschöpfende Inspiration auf die Bühne gestellt vor. Da entwickeln sich keine bedrängenden Visionen, die einen Gefühlshaushalt umkrempeln könnten. Es bleibt dabei. Da geht ein engherziger Bürokrat in seiner Trauerarbeit einem leichtlebig amüsierwilligen Dämchen auf dem Leim. Und spätestens im dritten Akt versinkt ein tiefes Seelendrama vom Ringen um Liebe und Tod in eine schale Hintertreppen-Tragikkomödie.
Auf die szenische Schmalspur setzt Benjamin Reiners ein musikalisches Großformat. Der Generalmusikdirektor präsentiert das Philharmonische Orchester als Ensemble der Alleskönner. Er führt es souverän über alle rhythmischen Klippen, öffnet den instrumentalen Strom für weitgefächerte Farben, zeigt immense Präzision, wenn die Begleitung der Sänger dynamische Disziplin fordert, und feiert leidenschaftlich die Höhepunkte klanglicher Wucht. Und doch verpasst Reiners die eine oder andere musikalische Delikatesse. Beispielsweise, wenn er die Operetten-Qualitäten von Pierrots Tanzlied (kultiviert, aber ohne Verve: Tomohiro Takada) unter einem breiten Tempo begräbt.
Das Ende vollzieht sich im eher harmlosen Spannungsfeld zwischen tröstlich und betrüblich. Paul zeigt sich durch die Erkenntnis „ein Traum hat mir den Traum zerstört“ als eher unvollkommen geheilt. Dem Freund Frank verweigert er die Antwort auf die Frage „Sag, willst du mit mir? Fort aus der Stadt des Todes?“. Der Entschluss „Ich wills – ich wills versuchen…“ bleibt unausgesprochen. Stattdessen sinkt der vom Leben wie vom Traum enttäuschte Wittwer nieder und bedeckt sich mit totem Laub und Erde als suche er den Schutz des Mutterleibs. Mehr Entscheidungskraft mag sich Luise Kautz nicht abverlangen. Ihre Inszenierung verzagt so mutlos wie deren Hauptfigur. Dahinter steckt eine Haltung von Resignation, die zwar ihre illusionslos abgehandelte Geschichte konsequent abschließt, aber hörbar im Widerspruch zu Korngolds kompositorischer Euphorie steht. Dennoch: engagierter Beifall nach der mäßig besuchten zweiten Aufführung.
Info und Termine: www.theater-kiel.de
20. Oktober 2019 um 19:03
Nach unserem kurzen Zusammentreffen am Do. ist mir klar, warum die Besprechung so ausfallen musste. Wir sind halt doch Provinz und nicht erste Sahne