Der griechische Operndesigner Paris Mexis unterwirft Donizettis „Lucia di Lammermoor“ einem strengen Konzept

Von Christoph Munk

Kiel. Ursprünglich entspringt die Tragödie einer jungen, um ihre Liebe betrogenen Frau dem ritter-romantisch wilden Schauerroman des Schotten Walter Scott. Der Italiener Gaetano Donizetti verwandelte den Stoff in das melodienselige, herzzerreißende  Belcanto-Spektakel „Lucia di Lammermoor“, dem nun der griechische Theater-Designer Paris Mexis im Auftrag des Kieler Musiktheaters ein kühl kalkuliertes Konzept verordnet, ein Planspiel, in dem immense Gefühle schematisch in Farben und Formen aufgelöst werden.

Gesang unter bedeutungsvollen Zeichen: Szene mit (v.li. im Vordergrund) Ivan Scherbatyh, Fred Hoffmann und Tomohiro Takada. Fotos Olaf Struck

Es ist ja die alte Geschichte: Die Sopranistin liebt den Tenor, der Bariton stört. Das Muster lässt sich so schön über viele Opernhandlungen legen, auch über „Lucia di Lammermoor“. Da sind Lucia (Sopran) und Enrico (Bariton) Geschwister der schottischen Adelsfamilie Ashton. Und Edgardo, der Tenor, gehört dem feindlichen Clan der Ravenswood an. Klar, dass unter diesen Verhältnissen die innigsten Beziehungen leiden müssen, zumal der Bruder seine ganze eigene Existenz auf eine anderweitige Verheiratung der Schwester setzt. Da reicht eine Portion Intrige und ein gefälschter Brief, um die Braut in die Verzweiflung zu treiben. Ihr verdankt die grausame Geschichte ihren dramatischen und musikalischen Höhepunkt: Lucias Wahnsinns-Arie, ein zwischen Umnachtung und Glückserfüllung changierendes Kunstwerk, das von Koloraturen umrankte Bravourstück aller Primadonna-Träume.

Donizettis Librettist Salvadore Cammarano hat den simplen Handlungsablauf grob portioniert, ohne Sorge dafür zu tragen, dass sämtliche Motivationsstränge erkennbar bleiben. Doch dem Designer Paris Mexis, Regisseur und Ausstatter in einer Person, reicht das nicht. Er teilt zusammen mit dem Dramaturgen Ulrich Frey das Geschehen in zwölf Kapitel mit markanten Überschriften ein: „Der Hass“ steht darum auf Zwischenvorhängen, oder „Die Überwindung“ und „Die Konfrontation“ und „Treibsand“. Dem Publikum ist da mehr als eine Gebrauchsanweisung an die Hand gegeben; es mag  daran erkennen, wie sehr der Gestalter, eher konsequenter Denker als spielerischer Schöpfer, seinem Bedürfnis nach Ordnung folgt und dabei, wie etwa im Falle von Edgardos Sterbeszene, Gefahr läuft, einen inneren Prozess zu zerteilen.

Befreit von ihrem historischen Hintergrund aus dem 16. Jahrhundert, habe er die Geschichte in „einen ausgeklügelten Rahmen aus Farbe, Form, Platzierung und Gestik gesetzt“, erläutert Mexis im Programmheft-Interview. Als sein wichtigster Partner steht ihm in dieser Anstrengung der Lichtgestalter George Tellos bei, der aus der leeren Bühne wundervolle Räume herausleuchtet, der mit Farben und Strahlen Stimmungen malt oder grafische Zeichen in die Luft gaukelt. Damit kokettieren Mexis und Tellos mit Bauhaus-Ästhetik, erzielen magische Wirkungen, wecken allerdings auch den Verdacht, hinter den Lichtspielereien verberge sich tiefere Bedeutung.

In dieser nach strengen Regeln funktionierenden Zauberwelt spielt die menschliche Figur eine untergeordnete Rolle. Sie wird, auf der Drehscheibe installiert, zunächst bewegt,  anstatt sich selbstständig zu bewegen. Der Chor, wie stets von Lam Tran Dinh gesanglich vorzüglich präpariert, verhält sich wie eine graue, bewusst anonym gehaltene Massenversammlung. Davor scheinen die Protagonisten in ihren Kostümen und verfremdeten Masken eingezwängt und lösen sich erst  allmählich, um sich  wenig erkennbare Charakterzüge anzueignen. Denn sie gewinnen kaum herausragende individuelle  Persönlichkeit und wirken stattdessen wie fremdgesteuerte Figuren in einem konstruierten System.

In der Einsamkeit der Räume: Hey Jung Lee als Lucia und Yoonki Baek als Edgardo.

Entsprechend rollengerecht agieren die Solisten, als wollten sie auch ihre Sängerqualitäten ganz in den Dienst des Regiekonzeptes stellen. Tomohiro Takada präsentiert sich als disziplinierter Kammersänger und führt als Enrico mehr seine ausgereifte Bariton-Kultur und weniger entschlossenen Ausdruckswillen vor. Yoonki Baek stellt sich überzeugend den tenoralen Herausforderungen der heiklen Edgardo-Partie. Höchsten Respekt erwirbt sich Hye Jung Lee in der Titelrolle. Denn ihre Lucia verzichtet klug auf jede großartige Diven-Attitüde und bleibt leidende Kindfrau, nicht auftrumpfend mit der Virtuosität der Wahnsinn-Koloraturen, sondern sensibel in der Darstellung ihrer Gefühlsverwirrung. Ivan Scherbatyh bringt als Raimondo zuverlässige Bass-Stabilität mit, Michael Müller-Kasztelan absolviert mit Noblesse den kurzen, aber anspruchsvolle Auftritt als Arturo. Harmonisch fürgen sich Margaret Newcomb und Fred Hoffmann ins Ensemble ein.

Herz oder Kopf? Auf der Bühne mag Paris Mexis mit seinem am bedeutungsträchtigen  Design orientierten Konzept eher die gedankliche Auseinandersetzung mit Donizettis „Lucia“ suchen. Doch im Graben wird mit Herz musiziert. Sergi Roca animiert das engagiert aufspielende Philharmonische Orchester zu schmelzendem Melodienreichtum und energischen Rhythmen. Und wenn bei manchem Bläsereinsatz zu viel Überschwang hörbar wird, überzeugt das Ensemble mit musikalischer Delikatesse und solistischer Feinarbeit.

Wer sich von der Musik hinreißen und von den doppelt tödlich endenden Konflikten gefangen nehmen lässt, wird nicht anders können, als sich Hals über Kopf in dieses Dramma tragico zu stürzen. Paris Mexis verfährt nach einem anderen Prinzip: Kopf über Herz. Und erntet respektvoll kühlen Premierenapplaus.

Info und Termine. www.theater-kiel.de