Michael Wallner inszeniert Wajdi Mouawads „Vögel“ am Kieler Schauspielhaus
Von Hannes Hansen
Kiel. Die Bühne eine schräge Rampe, Projektionsfläche für Schriftzeichen, Fotos, Nachrichten. Auf ihr öffnen sich Klappen, aus der die handelnden Figuren auftauchen und verschwinden. Eine Spielfläche, die schnelle Szenen- und Zeitebenenwechsel ermöglicht. Schräg in sie hinein sticht eine Konstruktion, die Schwebebalken, Mauer und Grenze zugleich assoziiert, ein Splitter im Auge des Betrachters. Till Kuhnerts Schauplatz für Michael Wallners Inszenierung von Wajdi Mouawads Erfolgsstück „Vögel“, das in dieser Saison allein an sechzehn deutschen Bühnen gespielt wird, setzt ein sinnfälliges Zeichen: Die Akteure werden aus der Balance geraten, sie werden straucheln und stürzen, körperlich wie seelisch.

Etgar (Werner Klockow), Eitan (Rudi Hindenburg), Leah (Claudia Macht), Norah (Ellen Dorn), David (Zacharias Preen)
Auf dieser Bühne tritt auf Eitan Zimmermann, ein in New York lebender Wissenschaftler im Bereich Genetik. Der Sohn israelisch-deutscher Juden ist verliebt in Wahida, eine Amerikanerin mit arabischen Vorfahren. Beiden ist ihre Herkunft aus verfeindeten Nationen zunächst kein Problem. Sie sind Deutscher und Amerikanerin, Punkt. Was gehen sie die Kämpfe in der Heimat ihrer Eltern an? Rudi Hindenburg gibt den Eitan zunächst als bis über beide Ohren verliebten, ansonsten aber weitgehend vernunftgesteuerten, aufgeklärten Zeitgenossen. Jennifer Böhm ist ihm eine gleichwertige Partnerin. Die verlockende Schönheit ist keine dumme Sexbombe, sondern eine intelligente moderne Frau, die weiß, was sie will. Jedenfalls nicht den Streit ihrer Vorfahren neu beleben.
Beider Selbstgewissheit ändert sich, als Eitan bei seinem Vater David auf entschiedenen Widerstand gegen die geplante Ehe stößt. Zacharias Preen gibt ihm mit Wutanfällen, Selbstmitleid und tönender Rhetorik die Konturen eines israelischen Chauvinisten, der seine Daseinsberechtigung aus der Shoah bezieht. In einer Mischung aus Selbsthass und Superioritätsgefühl instrumentiert er seine Schuldgefühle als Überlebender – der er als Spätgeborener nicht ist – als Auserwählter. Strikt weigert er sich, die Verlobte seines Sohns auch nur kennenzulernen, da mag ihm sein altersmilder Vater Etgar (Werner Klockow), der als einziger seiner Familie Auschwitz überlebt hat, noch so sehr zum Ausgleich überreden. Ellen Dorn als Davids Frau bleibt ihm mit einer forschen Mischung aus überheblichem Psychogeschwafel und Rotzigkeit eine unentschiedene, jedem Streit abholde Ehefrau.
Eitan, der die DNA seines Vaters untersucht hat, begibt sich auf die Suche nach seiner Identität nach Israel und sucht seine Großmutter Leah auf, die behauptet, ihn und seinen Vater nicht zu kennen. Bei Claudia Macht ist sie eine vitale, von Schuldgefühlen gegenüber ihrer Familie geschüttelte, sie aber mit Verve und scheinbar unerschütterlicher Chuzpe überspielende alte Frau. Keine Dame, eher eine Hexe oder, wie sie sich selbst nennt, eine „Schlampe“. Mit Eitan geht Wahida, die nun ihrerseits ihre arabischen Wurzeln erforschen will, nach Israel. Schwierigkeiten bei der Einreise bereitet ihr Yvonne Ruprecht als misstrauische, resolute israelische Soldatin Eden, die sich gleichwohl – eine Nebenerzählung – von den Reizen der schönen Frau mit palästinensischen Wurzeln betören und zum Umdenken bewegen lässt.
Als Eitan bei einem Bombenattentat schwer verletzt wird, geraden die Verhältnisse endgültig in jenes Schwanken, das das Bühnenbild assoziiert. Die Ereignisse überstürzen sich. David stirbt, nachdem ihm sein Vater seine wahre Herkunft enthüllt, und ein orientalischer Märchenerzähler (Felix Zimmer) versucht, mit einer Legende, die einen Vogel zugleich einen Fisch sein lässt, zwischen den Gegensätzen zu vermitteln.
Wajdi Mouawad, im Libanon geboren, in Kanada aufgewachsen und in Frankreich lebend, hat mit seinem Erfolgsstück „Vögel“ ein Bühnenwerk geschaffen, das anfängliche Befürchtungen, hier könnte man mit wohlfeiler Betroffenheitsdramatik konfrontiert werden, schnell vergessen lässt. Die auf den Kopf gestellte Romeo-und-Julia-Konstellation weitet sich schnell zu einer Parabel über die Last der Vergangenheit im Zusammenspiel mit der Suche nach dem individuellen Glück aus. Dem Drama von Shakespearescher Wucht mag man selbst das nachsehen, was man in der Boxersprache einen „Heumacher“ nennt, nämlich dass man den entscheidenden Schlag, den Eitans Vater erhält, schon lange vor dem Ende kommen sieht. Und Michael Wallners Inszenierung hält trotz mancher Längen des Stück mit großer Intensität die Spannung über zweieinhalb Stunden aufrecht.
Termine und Info: www.theater-kiel.de
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