„Die Trojaner“ von Hector Berlioz in der Kieler Oper – Anmerkungen zu Alexandra Liedtkes Inszenierung

Von Christoph Munk

Kiel. Es geht – wie so oft – um eine Liebe im Schatten des Krieges. Doch diesmal steckt mehr dahinter: Denn hier wird vom Schicksal eines ganzes Volkes erzählt und von der Nichtigkeit menschlichen Strebens unter der Allmacht der Götter. „Die Trojaner“, die Grand Opéra  von Hector Berlioz, fordert in ihrer tragischen Wucht und musikalischen Opulenz immense künstlerische Kräfte – eine Herausforderung, die Gastregisseurin Alexandra Liedtke und der Stellvertretender Generalmusikdirektor Daniel Carlberg im Kieler Musiktheater imposant bestehen.

Ein Junge hantiert mit einem Speer, einer Lanze in scheinbar leichtfertigem Spiel auf befreiten Gelände – und rennt weg. Mit der Schärfe eines Appells ruft dieses Anfangsbild Szenen und Ortsbeschreibungen aus gewohnten Nachrichtensendungen vor Augen: aus Aleppo vielleicht oder ganz aktuell Idlib? Die Botschaft: Die Zivilbevölkerung scheint betroffen, ein Waffenstillstand kann trügerisch sein. Solche Verweise bedrängen, denn   mit ihnen zieht die Regie das Geschehen aus der Antike in unseren Wahrnehmungshorizont.

Mahnende Schatten: Tatia Jibladze als Seherin Kassandra. (Fotos Olaf Struck)

Die so gewählte Methode der distanzierten und doch teilnehmenden Betrachtung bleibt. Denn die Seherin Kassandra, direkt an der Rampe vor die Massenbewegungen der trojanischen Bevölkerung im Hintergrund gestellt, verhält sich wie eine TV-Berichterstatterin: Sie kommentiert das Geschehen aus gesicherter Entfernung; gleich wird die Auslandskorrespondentin ihre Einschätzung der Lage vortragen. Damals wie heute: die Aussichten eher katastrophal.

„Der Untergang Trojas“, der erste Teil der Berlioz-Oper, leidet weiter unter einer gedämpften Stimmung, obwohl sich die Stadt doch gerade vom Feind befreit hat. Denn das Regieteam folgt der Skepsis der Seherin: Philip Rubners betonschroffer Bühnenraum erdrückt jeden Anflug von Befreiungsjubel; die Trojaner sind von Johanna Lackner in stumpfe Militärklamotten gesteckt, unter Steppnähten und in Watte gepackt scheinen sie Schutz zu suchen. Wo Kälte herrscht und Gefahren drohen, kommt keine Freude auf. Im Aufmarsch des Königs vereint Daniel Carlberg das Orchester und den Chor zu einem bedrohlich tönenden Raumklang. Den Auftritt der verstummten Andromache, Witwe Hektors, gestaltet Heather Jurgensen als traurig bewegenden Schmerzenstanz. Der Rettungselan des Helden Aeneas stockt. Kein Zweifel: Jede Wendung der Ereignisse ist  dem schweren Schatten Kassandras unterworfen.  Und Tatia Jibladze gibt dieser Gestalt eine wundersam klangvoll zwischen eindringlicher Mahnung und todesmutiger Verzweiflung changierender Stimme.

Bedroht von feindlichen Speeren, aber mit dem trojanischen Schatz im Gepäck, so  entkommt Aeneas mit den Seinen dem heimatlichen Chaos. „Die Trojaner in Karthago“, Bizets zweiter Teil seines musikdramatischen Monumentalwerkes nach dem Epos von Vergil, führt das Volk in ein weites Land am Meer. Und mit dem Schauplatz wechselt Alexandra Liedtke das Genre: vom Kriegsreport ins Rührstück. Am afrikanischen Strand huldigen die Karthager siegestrunken ihrer auf alle Fortschritts-Segnungen stolzen Königin Dido. Die öffnet ihr Land den Fremdlingen und ihr Herz deren Anführer. Neue, heitere Bilder: Veranda-Blick auf malerische Sonnenuntergänge zwischen Topfpalmen, Sinnesrausch und amouröser Wonnegesang. Und Daniel Carlberg mit dem Philharmonischen Orchester widmet sich auch in dieser Hinsicht souverän allen Delikatessen der Partitur, in feinster Abstimmung mit den nun freundlich sandfarben angetanen Chorscharen, die sich szenisch harmonisch eingegliedern und von Lam Tran Dinh musikalisch perfekt gestimmt zeigen..

Am Ende einer großen Liebe: Agnieszka Hauzer als Dido und Ji-Min Park als Aeneas.

Agnieszka Hauzers Dido mit zauberhaft ins Sanfte gewendetem Sopranglanz und Ji-Min Parks Aeneas mit den lyrischen Farben seines biegsamen Tenors geben als Höhepunkt ein harmonisch zwitscherndes Mondscheinduett. Wenn es nur ewig so bliebe! Doch der Wille der Götter lenkt das Melodram in eine andere Richtung: Die Pflicht ruft, Aeneas muss – so lautet ja der Befehl der Götter – sein Gefolge gen Italien führen. Als Folgen werden sich Enttäuschung, Trennungsschmerz und verzweifelte Todessehnsucht einstellen – krasse Stimmungskrisen, die sich mit überzeugenden Nuancen in den Stimmen der Solisten niederschlagen.

Für so ein deprimierendes Finale wählt die Regisseurin wiederum einen Wechsel von Ort und Perspektive. Eine Rückkehr der Trojaner in ihre Heimat widerspräche der in Vergils Epos und Berlioz’ Libretto vorgegebenen Handlung und besonders dem Willen der Götter. Aber als kollektive Heimsuchung lässt sich die erneute szenische Verwandlung verstehen: Die düster betonierte Tristesse der zerstörten Stadt kehrt wieder, ebenso die mahnenden Schatten Kassandras und der anderen Toten.

Konsequent steuert die Regisseurin ihre Form der szenischen Erzählung in diesen erneuten Klimawandel. Er bildet den logischen Endpunkt ihres weiten Bogens durch Berlioz‘ Grand Opéra. Alexandra Liedtke hat ihn  über  ausdrucksvolle Szenen gespannt, mit einem stimmlich wie darstellerisch ausgewogen agierenden Ensemble erfüllt und dank grandioser musikalischer Begleitung hoch gestimmt. Und sie vollendet diesen Weg in einem letzten fatalen Bild: Der Held endet von den Speeren der Feinde durchbohrt – getreu dem finalen Racheschwur des nachklingenden Chores: „Ewiger Hass dem Volk des Aeneas“.

Info und Termine: www.theater-kiel.de