Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 4

Montage: ögyr (unter Verwendung eines Gemäldes von John William Waterhouse und eines Fotos von falco/pixabay.com)

So wie einst eine Gruppe junger reicher Leute sich vor der Pest in Florenz des Jahres 1348 auf einen Landsitz flüchtete und sich ihre Zeit mit dem Erzählen von Geschichten vertrieb, versucht eine (noch unbestimmte) Anzahl von miteinander befreundeten Menschen fortgeschrittenen Alters und mit gesichertem Einkommen, der Gefahr einer Covid19-Erkrankung zu entkommen. Ein Mann hat von seinem Vater ein Bauernhaus auf einer jetzt unbewohnten Hallig geerbt, auf die sich er und seine Bekannten zurückziehen. Sie vertreiben sich die Zeit mit der Renovierung des Hauses, langen Spaziergängen, Kochen und eben dem Erzählen von Geschichten. Falls genügend Geschichten zusammenkommen, werde ich mich an die Arbeit machen und die Rahmenerzählung schreiben, später dann auch Zwischentexte und auch Kochrezepte nach dem Muster von Simmels „Es muss nicht immer Kaviar sein“. (Hannes Hansen)

Hier die vierte Geschichte von Hannes Hansen:


Die sprechende Nachtigall

Von Hannes Hansen

Ich war in Frankreich unterwegs, in Burgund. Eine Region, die ich nicht nur wegen ihres guten Essens liebe. In ihrem Süden liegt das Brionnais, eine hügelige sanfte Landschaft, geprägt von Kornfeldern, Viehweiden und Weinbergen. Nach einer kleinen Rundfahrt zu den romanischen Kirchen war ich erschöpft und fuhr an eine abgelegene Stelle am Kanal Digoin à Roanne, einem Seitenkanal der Loire, des vielleicht letzten großen in seiner Ursprünglichkeit weitgehend erhaltenen Flusses Westeuropas. Der schnurgerade Kanal dient heute ganz überwiegend den Touristenbooten, für die Berufsschifffahrt ist er zu schmal. An einer Brücke nahe dem Dörfchen Chassenard hat das Rote Kreuz eine Anlegestelle mit Toilette und Waschgelegenheit eingerichtet.

Der idyllische Ort kam mir gerade recht. Ich stellte mein Wohnmobil neben das Waschhäuschen, holte einen Klappsessel und einen Campingtisch aus dem Auto, goss mir ein Glas Rotwein ein und nahm mir ein Buch, um in der Abendsonne zu lesen. Am gegenüberliegenden Ufer machte eine Nachtigall mit artistischem Koloraturgesang einer Callas seligen Angedenkens Konkurrenz. Ihr antwortete in meinem Rücken eine ganze Schar von plebejischen Zikaden, die mit nervenaufreibender Gereiztheit, großer Lautstärke und unendlicher Geduld die Melodien der Primadonna zu zersägen bemüht waren. Mit Erfolg, muss ich leider sagen. Als über der Szene ein buttergelber Vollmond aufging, schwieg die Sängerin ob der Missachtung ihrer Kunst beleidigt, und die Plebejer hatten das Feld für sich und legten jetzt erst richtig los.

Ich musste in der lauen Sommernacht eingeschlafen sein, denn als ich die Augen aufschlug, war das Buch, in dem ich gelesen hatte, meinen Händen entglitten und lag auf dem Erdboden zu meinen Füßen. Der Mond war ein Stück weit weiter über den Nachthimmel gewandert und würde bald hinter dem Bauernhaus auf der anderen Seite des Kanals verschwinden. Vor mir auf dem Tisch saß ein unscheinbarer Vogel von etwa Spatzengröße und sagte mit hoher, melodischer Stimme:

„Bonsoir, Monsieur“.

„Bonsoir, Madame“, antwortete ich.
„Mademoiselle, s’il vous plaît.“

Ich war zwar verwundert darüber, dass vor mir ein Vogel saß, der sprechen konnte, sagte aber:
„Pardon, Mademoiselle“, um dann auf Deutsch hinzuzufügen:
„Ich spreche leider nur sehr unvollkommen Französisch. Wenn sie also …“

„Oh, das ist kein Problem. Ich bin der Sprache Goethes und Mozarts durchaus mächtig. Obwohl Mozart als Sprachkünstler ja seine Grenzen hat. Um es genauer zu sagen, er war wohl sehr vulgär. Nein, seine Talente lagen doch eher im tonkünstlerischen Bereich, meinen Sie nicht auch?“

„Ja, gewiss“, stimmte ich dem, wie gesagt unscheinbaren, Vogel zu und sagte dann:
„Aber wie kommt es …“

„Dass ich sprechen kann? Nun, das ist eine lange Geschichte. Ich will sie abkürzen. Glauben Sie an Seelenwanderung?“

„Eigentlich nicht.“

„Ach, das macht nichts.“ Der Vogel machte ein Geräusch, das wie Lachen klang. Ein hohes Lachen wie die Töne auf einer Glasharmonika. „Auch meine Artgenossen glauben nicht daran. Aber in mir lebt die Seele von Jenny Lind weiter.“

„Die ‚schwedische Nachtigall‘?“

„Ah, Sie kennen sie?“

„Nur aus der ‚Effi Briest‘ von Theodor Fontane.“

„Ohne Zweifel ein bedeutender Autor. Aber dann erahnen Sie auch, welch eine Vogelart sich die Seele von Jenny Lind für Ihre Seelenwanderung ausgesucht hat?“

„Eine, … eine Nachtigall?“

„In der Tat. Ich bin die wiedergeborene ‚schwedische Nachtigall‘, Mademoiselle Rossignol suédois. Wie sie sicher wissen, habe ich eine gewisse Zeit in Dresden gelebt.“

„Eine Frage noch. Die Zikaden hier …“

„Ach die. Pöbel gibt es überall, damit muss man leben. Aber jetzt genug davon. Schließen Sie die Augen, ich werde Ihnen ein Schlummerlied singen.“

Die wundersame Nachtigall setzte an und sang das Lied, das ich von allen Liedern, die ich meiner kleinen Tochter beim Zubettgehen, lange ist es her, vorgesungen hatte, am meisten liebte: „Guten Abend, Gute Nacht.“

Am nächsten Morgen wurde ich in aller Frühe vom Krähen des Hahnes auf dem Bauernhof am anderen Ufer wach. Alle meine Glieder schmerzten von der unbequemen Lage, die ich während des kurzen Schlafes eingenommen hatte. Die morgendliche Kühle ließ mich frösteln. Ich machte ein paar Dehnungs- und Lockerungsübungen und ging ein wenig auf und ab, um wieder warm zu werden. Die Ereignisse der Nacht erschienen mir wie ein Traum. Die Enten und Gänse des Bauernhofs taten das, was Enten und Gänse nun mal tun, wenn sie sich gestört fühlen, sie quakten und schnatterten, dass es nur so seine Art hatte.

Ich machte mir einen Kaffee und frühstückte ausgiebig. Dann ging ich auf einen längeren Spaziergang am Kanal entlang, winkte den Booten zu, die ihn befuhren, und beobachtete einen Sperber, der in einen Busch aufstiebender und empört tschilpender Spatzen stieß, aber keinen erwischte.

Den Rest des Tages verbrachte ich faulenzend und lesend. An das in der Nacht Erlebte dachte ich keinen Augenblick. Es war, als hätte ich es vergessen. Erst am Abend, als es wie gehabt zum Wettstreit von Nachtigall und Zikaden kam und wieder die Banausen über die Künstlerin siegten, erinnerte ich mich an das, was ich für meinen Traum hielt. Um mich abzulenken, holte ich mein Notebook und sah meine E-Mails durch. Hier an diesem abgelegenen Ort hatte ich keinen Netzzugang, und die Nachrichten waren zwei Tage alt. Meine Überraschung hätte kaum größer sein können, als ich eine Mail von einer alten Freundin aus Deutschland, mit der ich drei Jahre zuvor durch Frankreich gereist war, las. Sie lautete: „Kannst Du Dich daran erinnern, dass wir vor zwei Jahren auf einem Rote-Kreuz-Stellplatz an einem Kanal im Brionnais übernachtet haben? Am gegenüberliegenden Ufer sang eine Nachtigall. Es war wunderschön. Nur die verdammten Zikaden hinter uns störten. Zur Erinnerung daran schicke ich Dir eine You-Tube-Aufnahme eines Nachtigallgesangs.“

In aller Eile packte ich meine Sachen zusammen und fuhr in den nächsten größeren Ort, wo ich einen Supermarkt wusste, der ein Café mit Internetzugang hatte. Dort setzte ich mir Kopfhörer auf, öffnete den Link, den mir meine Freundin geschickt hatte und hörte eine Nachtigall singen. Es klang wie „Guten Abend, Gute Nacht“.


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