Von Hannes Hansen

Es war ein Nachmittag im Mai des Jahres 2020. Im nordfriesischen Schlüttsiel stand eine Gruppe Frauen und Männer eng aneinander gedrängt unter dem Vordach eines Cafés auf dem Deich hinter dem Fähranleger. Sie warteten auf das Schiff, das sie auf die Behnshallig bringen sollte, eine unbewohnte Hallig im Wattenmeer mit einem einzigen, jetzt leeren Bauernhaus samt Scheune.

Montage: ögyr (unter Verwendung eines Gemäldes von John William Waterhouse und eines Fotos von falco/pixabay.com)

Sven Andresen, ein ehemaliger Auslandskorrespondent für Hörfunk und Fernsehen und Reiseschriftsteller, hatte das Gebäude in noch gutem Zustand von seinem Vater geerbt. War er in der Heimat, hatte er dort hin und wieder nach dem Rechten gesehen und seit er in Rente war und wieder in Kiel lebte, hatte er häufig ein paar Tage hier verbracht. Jetzt hatte er alte Freundinnen und Freunde eingeladen, mit ihm einige Tage auf der Flucht vor dem Corona-Virus auf der Hallig zu verbringen. Um der Langeweile zu entgehen, sollten sie den Nachmittag und Abend mit dem Erzählen von Geschichten verbringen. Die Idee fußte auf Boccaccios „Decamerone“, das schildert, wie einige miteinander befreundete junge Frauen und Männer vor der Pest im Florenz des Jahres 1348 auf einen Landsitz flüchten und sich dort auf diese Weise amüsieren.
Alle hatten zugestimmt und Bente Dethlefsen, eine Kochbuchautorin aus Flensburg, hatte sich bereit erklärt, als Abrundung dieses „Schleswig-Holsteinischen Decamerone“ die Speisekarte mit typisch schleswig-holsteinischen Gerichten zu versehen. Alle Zutaten sowie weitere Lebensmittel und Getränke hatte sie an den Fährhafen liefern lassen.

Das Café auf dem Deich war geschlossen, und der flache Eingangsbereich schützte die Gruppe nur unvollkommen gegen den dünnen, stetigen Regen, den der Wind ihnen ins Gesicht trieb. Nebelfetzen jagten unter tief liegenden Wolken über den Himmel und ließen die Grenze zwischen Wasser und Luft verschwimmen. Die nahe Hallig war nur ein undeutlicher Fleck inmitten des Wattenmeers. Die Pricken, lange hölzerne Stangen mit einem Reisigbündel am oberen Ende, die die Fahrwasserbegrenzung markierten, hoben sich nur noch undeutlichgegen das stumpfe Grau von Meer und Himmel ab. Allein das Klatschen der Wellen gegen die Kaimauern des Hafens und der Klang der Glocken auf den Ansteuerungstonnen akzentuierten die Stille.
Im Grau in Grau der See wurde allmählich der Umriss eines kleinen Schiffes sichtbar, zunächst unklar, dann, als es näherkam, immer deutlicher. Als das Schiff angelegt hatte, konnten sie seinen Namen am Bug lesen: „Pidder Lüng“. Hein, der Helfer des Kapitäns kletterte über die eiserne Leiter an der Kaimauer auf den Anleger und winkte den Wartenden zu. Sie nahmen ihr Gepäck und die Lebensmittelkisten auf und begaben sich an Bord. Sven Andresen begrüßte den Kapitän:
„Moin, Momme. Kennst mich noch?“
„Ja“, antwortete der. „Beeilt euch! Wir haben ablaufendes Wasser.“
Die anderen sahen Sven fragend an. „So ist Momme. Macht nicht viele Worte. Darf ich vorstellen: Momme Bahnsen. Wir kennen uns seit langem. Nicht, Momme?“
„Ja“, sagte Momme, „Moin. Aber nun macht zu.“
„Die Ebbe hat eingesetzt“, erklärte Sven den anderen, „und wenn wir nicht rechtzeitig ankommen, liegt der Anleger trocken.“

Als das Schiff abgelegt hatte, hörte es auf zu regnen, und der auffrischende Wind riss die Wolkenwand auseinander. Die Sonne brach durch, und große Flecken Himmelsblau mischten sich unter das Grau. Das silbrige Licht ließ die Schaumkronen auf den Wellen aufleuchten. Silbermöwen begleiteten das Schiff. Sie verharrten fast bewegungslos in der Luft, beäugten die Passagiere und warteten auf zugeworfene Brotbrocken, die sie in schnellem Sturzflug und mit harschen Schreien erhaschten, wenn ihnen wendige Seeschwalben nicht zuvorkamen. Die Behnshallig mit dem Bauernhaus auf der Warft nahe dem Anleger schien über dem Wattenmeer zu schweben.
Nach knapp halbstündiger Fahrt durch die sich unregelmäßig windende Fahrrinne zeichnete sich deutlich der Anlegersteg der Hallig ab. Momme beugte sich aus dem Fenster der Schiffsbrücke und rief zu ihnen hinunter:
„Das wird nichts. Zu flach. Wir müssen den Nordanleger nehmen.“
Die „Pidder Lüng“ wendete und nahm Fahrt auf. Hier gab es weder Pricken noch Ansteuerungstonnen, und die Fahrrinne war nicht zu erkennen. Einer aus der Gruppe sagte:
„Wenn das nur gut geht.“
„Lasst Momme mal machen“, beruhigte Sven. „Der kennt das Gewässer wie seine Hosentasche.“
Die „Pidder Lüng“ kam in weiten Kurven der Hallig mal näher, mal entfernte sie sich von ihr. Das frische Grün der Wiesen leuchtete, und der Wind trieb die rauen Rufe grauer Vögel, die zu Hunderten auf ihnen weideten, herüber. Die Steinpackung, die die Hallig umgab, glänzte im Sonnenlicht. Eine der Frauen deutete auf sie und sagte:
„Ich dachte, Halligen haben keinen Deich.“
„Das ist auch kein Deich“, erwiderte Sven. „Die Steine schützen die Uferkante nur nur vor den Wellen. Ohne sie wären die Halligen längst untergegangen. Bei Sturmfluten werden sie immer noch überspült. Landunter. Deshalb stehen die Häuser auch auf Warften. das sind künstliche Erdhügel.“
Die Frau fragte:
„Werden wir auch Landunter erleben?“
„Wahrscheinlich nicht. Die schweren Sturmfluten kommen erst im Herbst. Aber man kann nie wissen. Bald haben wir Vollmond. Dann wirkt die Anziehungskraft von Mond und Sonne stärker. Springtide. Das Wasser läuft bei Flut höher auf und zieht sich bei Ebbe weiter zurück. Übrigens Steinpackung. Wisst ihr, wer die hier angebracht hat?“
Keiner wusste es.
„Nun, das ist eine Story für sich. Das waren Italiener aus der Lombardei. Kamen um die vorletzte Jahrhundertwende. Geübte Leute, die bei der Ufersicherung des Po ihr Handwerk gelernt hatten. Und wisst ihr was?“ Sven grinste. „Die Schwester meines Großvaters hat einen von ihnen geheiratet. Einen Mantovani. Der Name kommt in der Lombardei häufiger vor. In Nordfriesland eher selten.“
Alle lachten.
„Die alte Dame hatte auf einer anderen Hallig einen Hof von einem Verwandten geerbt. Sie konnte aber keinen Mann finden, weil sie, so sagt die Familiengeschichte, spuckhässlich war. Und dann kam der schwarzlockige Italiener. War ein gutes Stück jünger als sie und sagte sich: Schönheit vergeht, Besitz besteht. Oder wie immer das auf Italienisch heißt.
Wieder lachten alle. Nur eine der Frauen empörte sich: „Typisch Mann. Nutzt die Lage der armen Frau aus.“
„Soll ja auch umgekehrt vorkommen. Jedenfalls scheint die Ehe glücklich gewesen zu sein. Die beiden hatten sechs Kinder.“
„Du schast nich so veel schnacken.“ Momme Bahnsen sprach Platt. „Dat sünd allens Lögengeschichten, de du vertellen deist.“
„Nu laat mool good ween. Büst ja sülvst een halwen Mantovani vun dien Grootmudder.“
„Sabbel nich. Nimm mol lever de Vöörlien wohr. Wi sünd dor. Hein nimmt de Achterlien.“
Die „Pidder Lüng“ lag längsseits des hölzernen Anlegers. Hier gab es keine Leiter und Hein schob eine Brücke auf den Steg und stieg mit der Achterleine hoch. Sven nahm die Vorleine und Hein reichte ihm die Hand und half ihm hinauf.
„Nimm du den“, sagte er und zeigte auf einen der Pfosten am Steg, „ich nehme den da hinten.“
Sie belegten die Leinen. Die anderen stiegen vorsichtig die steile Brücke hinauf. Momme reichte ihnen das Gepäck hoch: „Wenn ihr was braucht, Sven, ruf mich an. Sonst bis in zehn Tagen. Tschüs.
„Danke, Momme. Tschüs. Und grüß Grootmudder Mantovani von mir.“
Momme Bahnsen drohte ihm lachend mit der Faust. „Is all lang doot“.
Bente trat an die Steinkante und blickte hinunter.
„Sag mal, Sven, sind das etwa Austern, da unten?“ Sie klang begeistert.
„Klar“, antwortete Sven, „die haben sich hier ausgewildert von den Austernbänken vor Sylt.“
„Leider sind das Pazifische Austern“, erklärte Neuton Lorenz, ein Apotheker aus Husum und Hobbyornithologe und -botaniker. „Holländische Muschelzüchter haben sie eingeführt. Sie sind größer als die einheimische Art und haben sie fast völlig verdrängt. Die Biester überwuchern die Miesmuschelbänke. Wenn man nichts dagegen unternimmt, gibt es im Wattenmeer bald keine mehr.“
Betretene Stille. Doch Bente rief:
„Wir können die trotzdem essen. Natur mit ein bisschen Zitrone oder gebraten mit einer Käsesahnesauce oder … hast du auch einen Grill, Sven?“
„Müsste noch in der Scheune stehen“.
„Prima.“
„Austern, kleine Fotzen der See.“ Orje M. Iger hatte es gesagt. Seine Worte lösten wieder ein verlegenes Schweigen aus.
„Du schämst dich wohl gar nicht.“ Zornig schnitt eine Stimme in die Stille. Sie gehörte der Frau, die sich schon über die Anekdote von Mommes Großmutter empört hatte.
„Das ist nicht von mir. Das ist aus einem Gedicht von Volker Braun.“, verteidigte sich Orje. Der 56-Jährige war in den „besten Jahren“ oder auch im „soundsovielten Frühling“. Er nannte sich selbst einen Connaisseur „und zwar in allen Belangen“, wie er gerne betonte.
„Und das soll wohl alles entschuldigen. Wer ist überhaupt dieser Volker Braun? Wohl irgend so ein Macho.“
„Fotze oder nicht Fotze, essen tu ich das glibberige Zeug jedenfalls nicht“, sagte Lilli Lutterbek. Sven kannte Lilli seit Schulzeiten. Damals war sie eine aufgeweckte, auf unwiderstehliche Weise freche Göre, Tochter von Nachbarn. Jetzt hatte er gezögert, sie auch auf die Hallig einzuladen. Sie schätzte Alkohol jeder Art und nach einen Schluck zu viel die Gesellschaft von Männern, gerne auch jüngeren. Andererseits war sie ein Spaßvogel und versprühte gute Laune und Lebensfreude. Beides würde hilfreich sein. Deshalb hatte Sven seine Bedenken beiseite geschoben und hatte Lilli in Erinnerung an fröhliche Jugendtage eingeladen. Sie hatte sofort zugestimmt. Man würde ein Auge auf sie haben müssen.
„Hört auf damit.“ Sven mischte sich ein. „Und du, Orje, reiß dich mal zusammen. Wir sind hier auf einander angewiesen,“ setzte er hinzu, obwohl er den viele Jahre jüngeren feinsinnigen Kulturjournalisten und Kenner gegenwärtiger Lyrik schätzte.
Orje zeigte halbherzig Reue: „War nicht so gemeint. Entschuldigung.“

Bis zur Warft mit dem Bauernhaus waren es einige hundert Meter, und es lag eine Menge Gepäck auf dem Anleger. „Keine Angst. In der Scheune müsste noch ein alter Handkarren stehen. Mit dem holen wir die Sachen“, beendete Sven die Ratlosigkeit. „Wir gehen schon einmal zum Haus. Entweder auf dem Rundweg hier entlang der Halligkante oder quer über die Fennen. Die Viehweiden. Ist unbequem, aber kürzer.“
Dafür entschieden sich die meisten. Der Boden war uneben, das junge Gras noch kurz. Die meisten der weidenden grauen Vögel wichen ihnen aus. Nur wenige flogen mit lauten, heiseren Rufen auf.
„Ringelgänse“, sagte Neuton. „Sie überwintern auf den Halligen und Inseln im Wattenmeer. In ein paar Wochen sind sie verschwunden. Sie brüten in der arktischen Tundra und fressen sich hier dick und rund. Seid vorsichtig, beim Auffliegen verbrauchen sie eine Menge Fettreserven. Die benötigen sie aber beim Flug in die Arktis und beim Brüten. Sonst verhungern sie.“
Als sie auf der Warft angekommen waren, verteilte Sven die Zimmer, die sein Vater vor Jahren als Ferienunterkünfte in der ehemaligen Scheune und im Haupthaus eingerichtet hatte. Er sorgte dafür, dass Lilli im Haupthaus unterkam. Zur Sicherheit, denn alle Alkoholika ließ er in die Scheune bringen ließ. Da sei es kühler.
Alle verstauten ihre Sachen und trafen sich dann im Wohnzimmer, so müde und hungrig, dass an langes Kochen nicht zu denken war. Die Köchin machte kurz ein paar Dosen Linsensuppe auf, schnitt Bockwürste hinein und würzte mit ein wenig Essig und ein paar getrockneten Kräutern nach.

Nach dem Essen, das alle heißhungrig verschlungen hatten, lehnten sie sich zurück und kamen überein, an diesem ersten Abend auf das Erzählen von Geschichten zu verzichten. Sie trugen Stühle hinaus und setzten sich an einen kleinen Teich vor dem Haus, auf dem Enten mit eigentümlich langem und breitem Schnabel schwammen, die sich vor ihnen nicht zu fürchten schienen.
Lilli Lutterbeck lachte. „Was sind das denn für komische Viecher?“, sagte sie. Neuton wußte natürlich Bescheid:
„Löffelenten. Die fangen bald an zu brüten. Die unscheinbar gefärbten sind die Enten, die Weibchen, die Erpel, die Männer, sind jetzt im Prachtkleid wie der dort. Gewissermaßen im Hochzeitsgewand.“ Er zeigte auf den Erpel mit den glänzend grünen Federn an Kopf und Hals und das weiße und rotbraune Gefieder an der Brust und auf den Flügeln.“
Keiner schien richtig zuzuhören. Alle saßen satt und zufrieden vor dem Haus und blickten schweigend auf den Teich und seine schnatternden Besucher. Keiner schien sich über die Existenz des Teiches zu wundern. Nur Rieke Ingwersen, eine jüngere Journalistenkollegin von Sven Andresen, die er anlässlich einer Halligreportage kennengelernt hatte, sagte, sagte:
„Ist der Fething noch in Funktion?“
„Der was?“, wollte Lukas Scherzinger, ein Devotionalien- und Antiquitätenhändler aus Freiburg, wissen. Sven kannte ihn seit seinen Studienzeiten. Lukas hatte einige wenige Semester katholische Theologie studiert, war aber zur Kunstgeschichte gewechselt, als er merkte, dass ihm, wie er sagte, die Reize gegenwärtiger junger Frauen näherstanden als die Jungfrau Maria. Immerhin, pflegte er hinzuzufügen, hatte ihn die Beschäftigung mit der Lehre der Heiligen Mutter Kirche befähigt, die ihr zuzuordnenden Exemplare schlichter Volkskunst zu deuten und ihren antiquarischen Wert einzuschätzen. Unter Kollegen war er wegen seiner Schläue beim Einkauf seiner Ware im Internet und auf Flohmärkten als „der Fuchs“ bekannt.

„Fething nennt man in Nordfriesland solche Teiche“, erläuterte Sven jetzt. „In ihnen wurde das Regenwasser für Mensch und Vieh gesammelt. Es gab ja sonst kein Wasser auf den Halligen. Wasser- und Stromleitungen wurden erst nach der Sturmflut 1962 auf die Halligen gelegt.“
Alle gaben sich mit Svens Erklärungen zufrieden und stellten keine Fragen. Sie sahen zu, wie die Sonne blutrot in der See versank. Ihre letzten Strahlen malten die Wolken mit ihrem Silberrand über dem Nachtblau des Abendhimmels in einem Rausch von Farben zwischen dunklem Orange und tiefem, ins Violette spielenden Rot.
„Gegen diesen Himmel“, sagte Orje, „sind die Bilder Noldes doch eher matt. Wieder mal ein Beispiel dafür, dass moderne Kunst weniger von der Fülle als von der Reduktion lebt.“
Alle nickten, nur Lilli lachte.
„Wie ‘ne olle angemalte Hure“, sagte sie.


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