Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 5

Montage: ögyr (unter Verwendung eines Gemäldes von John William Waterhouse und eines Fotos von falco/pixabay.com)
So wie einst eine Gruppe junger reicher Leute sich vor der Pest in Florenz des Jahres 1348 auf einen Landsitz flüchtete und sich ihre Zeit mit dem Erzählen von Geschichten vertrieb, versucht eine (noch unbestimmte) Anzahl von miteinander befreundeten Menschen fortgeschrittenen Alters und mit gesichertem Einkommen, der Gefahr einer Covid19-Erkrankung zu entkommen. Ein Mann hat von seinem Vater ein Bauernhaus auf einer jetzt unbewohnten Hallig geerbt, auf die sich er und seine Bekannten zurückziehen. Sie vertreiben sich die Zeit mit der Renovierung des Hauses, langen Spaziergängen, Kochen und eben dem Erzählen von Geschichten. Falls genügend Geschichten zusammenkommen, werde ich mich an die Arbeit machen und die Rahmenerzählung schreiben, später dann auch Zwischentexte und auch Kochrezepte nach dem Muster von Simmels „Es muss nicht immer Kaviar sein“. (Hannes Hansen)
Hier die fünfte Geschichte, in der Lilli Lutterbek von Herrn Schulz erzählt.
Lilli Lutterbek erzählt:
Herr Schulz
Von Cornelia Leymann
„Ich weiß gar nicht, ob ich die Geschichte erzählen darf“, begann die alte Dame und rückte wieder das Beistelltischchen in Fußnähe. „Denn eigentlich ist es wirklich beschämend.“ Langsam ließ sie sich in den Sessel gleiten, den sie als ihren Stammplatz ausgewählt hatte. Er war mit Abstand das bequemste Sitzmöbel im ganzen Raum. Jule Kulinaria, die Köchin, war kurz versucht gewesen, den zweiten, fast genauso gemütlichen Sessel neben ihr zu wählen, hatte sich dann aber doch lieber für den wackeligen Hocker am anderen Ende des Raums entschieden. Dabei wäre das eigentlich gar nicht nötig gewesen, denn die alte Dame hat sich vorsorglich mit zwei Flaschen Wein eingedeckt. „Mehr als beschämend“, sagte sie und schwang die Füße auf das Tischchen, „es ist schrecklich, schrecklich und traurig. Aber ihr kennt den Mann ja nicht und ihr könnt auch nicht erraten, wer es ist, deshalb erzähl ich es einfach trotzdem.
Der Mann, nennen wir ihn mal Schulz, also der Herr Schulz wohnte in einer gottverlassenen Gegend bei Alt-Witten. Ein bisschen am Arsch der Welt. Ist herrlich, so ein Leben am Busen der Natur, aber wehe, man braucht mal einen Liter Milch oder so. Dann kann man höchstens morgens und nachmittags den Schulbus nach Kiel nehmen. Oder man fährt mit dem Rad. Wahrscheinlich könnte manv auch reiten, keine Ahnung. Doch unser Herr Schulz war nicht mehr der jüngste, da fielen Rad und Pferd schon mal flach. Und der Schulbus fuhr ja immer zur falschen Zeit. Nur zweimal pro Tag ist auf jeden Fall die falsche Zeit. Es kamen für ihn also nur die eigenen vier Räder in Frage.
Damals, als seine Frau und er das Haus kauften, erschien ihm die Tatsache, sich am Arsch der Welt niederzulassen, wundervoll. Es war ein Traum. Mitten im Grünen und doch in einer knappen halben Stunde in der Stadt. Mit dem Auto alles kein Ding. Erst jetzt, da er beinah 80 und seine Frau tot war, bemerkte er den Nachteil. Ohne Auto wäre es so ein bisschen wie Knast gewesen, Knast mitten im Grünen. Er war auf sein Auto angewiesen. Und er war auf seinen Körper angewiesen. Zumindest ein Bein musste durchhalten für Gas und Bremse. Und zwischen den Ohren musste auch alles im grünen Bereich bleiben. Aber da musste man sich bei ihm keine Sorgen machen, Herr Schulz war topfit, gefühlte 55 Jahre alt. Er konnte es kaum glauben, dass er das sein sollte, der ihm da allmorgendlich aus dem Spiegel entgegen plinkerte.
Trotz seines jugendlichen Feelings hatte er sich auf Kommendes vorbereitet. Ich will jetzt nicht sagen, dass er das Haus behindertengerecht umgebaut hätte, so nun doch nicht, davon war er noch meilenweit entfernt. Aber seit dem Tod seiner Frau hat er ihr Bügelzimmer, das neben dem Wohnzimmer gelegen war, zum Schlafzimmer umfunktioniert und die Gästetoilette in ein geräumiges Bad verwandelt. Sein Leben war ebenerdig geworden und die Knie dankten es ihm.“
Sie nahm ein Schlückchen Wein, bevor sie fortfuhr.
„Doch dann bemerkte er, dass ein ebenerdiges Leben nicht reichte, und verkleinerte zusätzlich noch den Garten und vergrößerte das Auto. Damit war er nun zwar nicht mehr so wendig in den Kurven, aber es war hochbeinig genug, dass er erhobenen Hauptes ein- und aussteigen konnte. Die Knie dankten es ihm.
Doch dann bemerkte er, dass das immer noch nicht reichte. Früher, als seine Frau noch alles in Schuss hielt, hatte er gedacht, dass sie mal mit der Nagelschere durch den Garten ging, mit einem kleinen Tuch den Staub aus den Ecken wedelte und ansonsten den Rest des Tages die Füße auf den Tisch legte, damit die Putzfrau, die er auf Verlangen seiner Frau hatte anschaffen müssen, darunter mal feucht durchwischen konnte. Doch jetzt merkte er, dass sie irgendwie wohl noch mehr gemacht haben musste.
Also feuerte er die Putzfrau und nahm sich stattdessen eine Untermieterin ins Haus. Eine von diesen Untermieterinnen, die keine Miete zahlen, sondern im Gegenteil noch was obendrauf kriegen und als Gegenleistung ein richtiges Rumdum-Sorglos-Paket gewähren. Sprich: sie machte alles, was so anfiel in einem Ein-Personen-Männer-Haushalt. Sie trug ihm die dreckigen Socken hinterher, putzte Küche, Bad und Fenster, saugte, klopfte, wusch und zupfte Unkraut.“
Die alte Dame nahm einen Schluck, um sich für Kommendes zu stärken.
„Das hört sich jetzt nach mächtig viel zu tun an, aber das täuscht. Seine Untermieterin, nennen wir sie Frau Müller, hatte es sich nach und nach recht praktisch eingerichtet. Anstelle der klapprigen Waschmaschine eine Wasch-Trocken-Combo mit Bügelautomat aufgestellt, die alten Holzdielen gegen pflegeleichten Teppichboden getauscht, die zugigen Fensterrahmen durch moderne Kunststofffenster ersetzt, alle Sträucher und Beete eliminiert und Rollrasen wachsen lassen. Ich glaube, sie war sogar eine der ersten, die einen Roboter gekauft hatte, der die Grashälmchen in Zaum hielt, und einen zweiten, der auf leisen Sohlen über den Teppichboden schlich und alle Staubflöckchen wegschnupperte. Nicht ganz billig, aber Herrn Schulzes Pension machte es möglich.
Damit hatte sie schon eine ganze Menge Arbeit in elektrische Hände abgegeben. Dank seiner Kurzsichtigkeit merkte Herr Schulz nicht, dass die elektrischen Säuberungsaktionen in Haus und Garten nur runde Ecken kannten und dass seine liebe Frau Untermieterin sich erst an die Fenster machte, wenn auch sie nicht mehr durchsehen konnte.
Nur, um zu zeigen, wie wirklich praktisch sie war, erzähle ich euch auch noch, dass sie ihrem Herrn Schulz Kopfhörer verpasste, als er schwerhörig wurde und anfing, die Lautstärke an seinem Fernseher auf 28 hochzustellen. Schließlich wollte sie im Obergeschoss ihre Ruhe haben.
Kurz gesagt: die beiden kamen gut miteinander zurecht. Dabei blieb ihr Verhältnis zueinander immer korrekt. Sie wahrten Distanz. Frau Müller sagte zum Beispiel: „Herr Schulz, es wäre mal wieder was Neues in der Küche fällig“ und er antwortete: „Wie Sie meinen, Frau Müller“ und machte gehorsam Kopfstand, damit das entsprechende Kleingeld aus seinen Taschen fiel.
Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen, denn im Laufe der Jahre hatte Frau Müller auch die finanziellen Angelegenheiten von Herrn Schulz immer mehr unter ihre Fittiche genommen. Das Ausfüllen der Überweisungen war schon zu Zeiten der einfachen Kontonummern beschwerlich genug, aber jetzt mit diesen unhandlichen IBAN-Dingern – hundert Ziffern und das mit seinen acht Dioptrien – der reinste Graus. Damit wollte Herr Schulz nichts zu tun haben, und die Sache mit dem Bank-Depot und die Abrechnung für das Heizöl und die Stromrechnung und die Grundsteuer fürs Häuschen, also dieser ganze Krempel war bei Frau Müller in besten Händen.“
Die alte Dame griff in ihre Jackentasche, holte selbstvergessen eine Zigarette aus der Schachtel, sah die missbilligenden Blicke der anderen, steckte sie wieder weg und nahm einen großen Schluck Wein.
„Ach so, nur nebenbei: Das mit dem Kopfstand ist natürlich nur im übertragenden Sinn gemeint, denn so richtig gelenkig war Herr Schulz nicht mehr. Aber rüstig, das muss ich schon sagen. Ging mit seinem Spazierstock über den Golfplatz und haute die Bälle aufs Grün, dass es eine wahre Lust war. Danach aß er im Golfclub zu Mittag und schäkerte mit der Bedienung. Ja, unser Herr Schulz hatte sich vom Tod seiner Frau ausgesprochen gut erholt und ließ nichts anbrennen, wenn ich so sagen darf.
Man hätte ja eigentlich gedacht, dass so was mal aufhört. Spätestens damit hat die liebe Seele Ruh, wäre meine Vermutung gewesen.“ Sie sah Jule neckisch an, die daraufhin versuchte, sich auf ihrem Höckerchen so klein wie möglich zu machen. „Aber nein“, fuhr sie fort und zwinkerte dem Koch vielsagend zu, „so alt kann ein Mann gar nicht werden, dass solche Sachen nicht immer noch in seinem Kopf herumspuken. Unser Herr Schulz hatte es allerdings nicht beim Spuken bewenden lassen. Er hatte eine Liebelei am Laufen – eine Mittwochs-Liebelei.
Tja, da seid ihr platt, was? Aber so war es. Jeden Mittwoch ließ sich Herr Schulz von Frau Müller frisch einkleiden beziehungsweise frisch ausstaffieren. Sich Anziehen konnte er noch alleine.
Ihr wisst ja, wie das ist: Wer von Kindesbeinen an daran gewöhnt ist, dass ihm Mami und dann später die Gattin die Anziehsachen rauslegt, der lässt nicht davon ab, nur weil die Gattin das Zeitliche gesegnet hat. Deshalb legte ihm – seit dem bedauerlichen Gattinnen-Abgang – nun Frau Müller morgens alles hin, was Herr Schulz an diesem Tag zu tragen hatte. Die Auswahl war ihr ureigenstes Hoheitsgebiet. Deshalb war sie natürlich ein wenig empört, als ihr Schützling plötzlich damit herausplatzte, dass er mittwochs eine Runderneuerung erwarte. Vom gebügelten Oberhemd über die Unterwäsche bis runter zu den Socken, alles frisch von oben bis unten.
Da muss man sich nicht wundern, wenn so was die Neugier befeuert. Schließlich ist bekannt, dass Männer in Sachen Unterwäsche nicht übermäßig pingelig sind. Deshalb sind die Gattinnen ja so dahinter her, dass sie das alles regeln, damit der Gatte nicht die ganze Woche dasselbe anhat. Und dann plötzlich das: „Frau Müller, morgen ist Mittwoch, bitte frische Wäsche, das blaue Hemd und die gestreifte Krawatte.“ Besonders die gestreifte Krawatte hatte sie stutzig gemacht.
Was lag da näher, als dass sie mal mit ihrem kleinen Twingo seinem großen SUV folgte. Seitdem wusste sie Bescheid: Mittwochs war Liebelei-Tag. Was an so einem Liebelei-Tag abging, konnte sie natürlich nur ahnen. Sie hoffte, dass allenfalls Halma gespielt wurde, denn ab 80 sollte man sich nicht mehr allzu viel zumuten. Aber selbst wenn er sich mehr zumutete, was ging es sie an?
Nichts.
Das jedenfalls hatte sie sich gesagt und zusammen mit den freien Golfvormittagen jetzt noch zusätzlich die Mittwochnachmittage und die damit verbundene Freizeit genossen. Erst als auch freitags frische Wäsche herausgelegt werden musste, fing es an, lästig zu werden. Frau Müller begann, schlecht zu schlafen. Wer nachts wach liegt, der grübelt. Kleine Nickeligkeiten, die tagsüber eher zu vernachlässigen sind, türmen sich nächtens zu gewaltigen Bedrohungen auf. Was, wenn die Liebelei sich zu einer regelrechten Geliebten auswuchs, vielleicht gar einen zweiten – oder im Fall Schulz sogar dritten – Frühling in ihm entfachte und ihm alles raubte, was noch an Restverstand zwischen seinen Ohren übrig geblieben war?
An das, was weiter unten an Triebfeder für unvernünftiges Handeln noch übrig war, mochte sie gar nicht denken. Was wäre, wenn er sich die Liebelei ins Haus holte und die ab dann für seine Finanzen zuständig war? Ja, das sind so Überlegungen, die Frauen anstellen, wenn Männer von einem Frühling in den nächsten taumeln.“
Die alte Dame machte eine Pause, um sich bei diesem Gedanken zu schütteln. Dann griff sie beherzt zum Glas und fuhr fort:
„Dann kam er, der Tag, der für Herrn Schulz mit so wunderbar, frühlingshaften Gefühlen begann und so absolut schrecklich endete. Es war Freitag. Herr Schulze, frisch gewandet von Kopf bis Fuß, stieg in seinen SUV, gab Gas und ward nicht mehr gesehen. Zumindest nicht von Frau Müller. Erst am nächsten Tag setzte die Polizei einen Herrn Schulz vor der Haustür ab, der nichts mehr von dem Herrn Schulze hatte, den sie kannte.
„So schrecklich.“ Er stöhnte, als er sich in seinen Fernsehsessel plumpsen ließ.
„Wie einen Schwerverbrecher haben sie mich behandelt.“ Er schlug die Hände vors Gesicht.
„Dieses grauenvolle Krachen, als sie … das viele Blut … dieser schlaffe Arm … die Augen ganz verdreht.“ Er versuchte, aus dem Sessel aufzustehen, sank aber ermattet wieder zurück.
„Die ganze Nacht haben sie mich verhört. Und Blutdruck gemessen. Und Blut abgezapft. Lauter Nadeln in mich reingesteckt.“ Zum Beweis zog er die Ärmel hoch, betrachtete sinnend die blauen Flecken und Pflaster, und schob die Ärmel wieder runter.
„Immer noch ganz dreckige Finger.“ Er streckte ihr seine Hände hin, damit sie seine von Stempelkissen geschwärzten Fingerkuppen sah.
Aber was nun eigentlich passiert war, erfuhr Frau Müller erst am nächsten Tag aus der Zeitung. Der 82-jährige K. aus A. ist ungebremst auf die Hauptstraße gefahren und hat einem Smart die Vorfahrt genommen. Die 43 Jährige Mutter von zwei Kindern verstarb noch an der Unglücksstelle. Der Fahrer des SUV steht unter Schock. Die Polizei geht von einem Fahrfehler des 82-jährigen infolge Hirnschlags aus.
Das mit dem Hirnschlag könnte hinkommen, denn unser Herr Schulz erholte sich nicht mehr, fing sogar das Sabbern an und war zu keinerlei vernünftigem Reden mehr fähig. Nie mehr. Er brabbelte vor sich hin, schleppte sich gebeugt vom Sessel zum Sofa, vom Sofa zum Bett und von dort am nächsten Morgen zurück zum Sessel. Vorbei waren die freien Vormittage, an denen er aushäusig war, denn an Golfspielen war nicht mehr zu denken. Und das mit der Liebelei hatte sich auch ausgeliebelt. Stattdessen hatte Frau Müller jetzt diesen sabbernden Tattergreis an der Backe. Täglich. Nächtlich. Stündlich.
Nein, wirklich, so hatte sie sich das nicht vorgestellt, als sie dem SUV für seine Fahrt zur Freitags-Liebelei die Bremsschläuche anritzte.“
Die alte Dame griff nach der zweiten, nur noch halb vollen Flasche Wein, stand auf und sagte mit belegter Stimme: „Und die Moral von der Geschicht: Wer andern eine Grube gräbt“, sie hickste dezent, „… oder auch …“, sie hob das Glas und prostete den anderen freundlich zu. „lieber mit den Titten wippeln als zu Fuß nach Witten tippeln.“ Mit diesen Worten ging sie rauf auf ihr Zimmer, ohne die verdutzte Gesellschaft noch eines Blickes zu würdigen.
12. Juli 2020 um 22:25
Das ist typisch Cornelia Leymann 😁👍