Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 9
Wolf Martin Sökland erzählt:
Spritztour mit Jeanne
Von Wolfgang Butt
Als hätte sie geahnt, dass ich gerade Lust auf eine Spritztour hatte, tauchte sie eines Abends wie aus dem Nichts neben meinem Wagen auf und blickte mich erwartungsvoll an. Jeanne d’Arc, französische Nationalheldin, Heilige und Dorfkirchenstatue in Estansac wie in tausenden anderen Kirchen im Lande, die mir vor einiger Zeit einen denkwürdigen Nachbarschaftsbesuch abgestattet hatte – ich wohne ihrem Standort gleich gegenüber –, bei dessen Ende sie gefragt hatte, ob sie wiederkommen dürfe. Zugleich hatte sie den Wunsch geäußert, einmal in einem Auto mitfahren zu dürfen, was ich ihr natürlich nicht ausgeschlagen hatte.
„Passt es heute?“ fragte sie. „Ich wollte nicht bis zur Dunkelheit warten, weil wir ja noch etwas sehen wollen.“ Dabei legte sie die Hand auf die Schulter eines etwa zwölfjährigen Jungen neben ihr. Jetzt fiel mir auch wieder ein, dass sie bei unserer vorigen Begegnung gefragt hatte, ob sie noch eine Person aus der Kirche mitbringen dürfe.
„Wir sind Freunde“, sagte sie, nannte aber den Namen des Jungen nicht. Er war barfuß und trug ein knielanges Leinenhemd, das über den Hüften mit einer Kordel locker zugebunden war. Ich warf einen raschen Blick auf ihre Füße, sie hatte wieder die Pumps an. In der linken Hand hielt sie die Standarte, deren Stange sie um gut einen Meter überragte.
„Soll die Fahne mit?“ fragte ich.
„Können wir sie nicht aus dem Fenster halten?“ fragte sie zurück. „Wo ich auf Plätzen stehe, sehe ich manchmal junge Männer vorüberfahren, die viel Lärm machen und Fahnen schwingen.“
„Fußballfans“, sagte der Junge.
Ich muss ihn verblüfft angesehen haben, denn er lieferte ungefragt eine Erklärung für das Wissen, das ich nicht bei ihm vermutet hatte.
„Ich hänge in manchen Wohnungen, wo oft der Fernseher an ist. Daher weiß ich das.“
„Aber heute ist kein Spiel“, sagte ich, war jedoch bereit nachzugeben, denn es würde bald dunkel sein, meine Nachbarn würden vor den Fernsehern sitzen und nicht aus dem Fenster schauen.
Ich hielt Jeanne die vordere und dem Jungen die hintere Tür auf. „Ihr müsst euch anschnallen“, sagte ich. Beide sahen mich erschrocken an. „Anschnallen? Sie meinen anbinden, fesseln?“ Es dauerte einen kurzen Moment, bis bei mir der Groschen fiel. Ich musste vorsichtiger sein, mit ihren Traumatisierungen war offenbar nicht zu spaßen, auch wenn sie viele Jahrhunderte zurücklagen. „Beim Autofahren müssen das alle tun, wegen der Sicherheit, damit wir besser geschützt sind, wenn es einen Unfall gibt. Man kann sich jeden Augenblick wieder losschnallen, wenn das Auto nicht mehr fährt.“
Während wir langsam durchs Dorf rollten, war ich auf alle erdenklichen Fragen meiner beiden Passagiere gefasst, doch sie blieben still und schauten gebannt nach vorn durch die Windschutzscheibe oder aus dem Seitenfenster. Als wir auf dem Platz neben der Schule an der hellblau gefärbten Statue der Madonna vorbeikamen, hob der Junge schüchtern die Hand zum Gruß, fast als wäre es ihm peinlich. Jeanne sagte ganz spontan: „Ich finde, die Farbe steht ihr nicht,“ bevor sie sich nach einem Moment des Nachdenkens mir zuwandte und sagte: „Können wir vielleicht auf Wegen fahren, wo man nicht so viele Bekannte trifft?“
Ich bremste, ein bisschen abrupt vielleicht, denn sie erschraken beide, aber ich beruhigte sie sofort und erklärte ihnen, dass ich auf die Bremse getreten hatte. Warum, erklärte ich ihnen allerdings nicht; wir befanden uns nämlich auf direktem Weg zum Calvaire am Dorfausgang, wo sie wieder Bekannten begegnen würden, neben der Jungfrau standen dort St. Loup und eine weitere Kopie von Jeanne. Ich würde zwar gern erleben, was die Begegnung mit sich selbst bei Jeanne auslöste, wollte aber zunächst ihrem Wunsch entsprechen, keine Bekannten zu treffen.
„Muss man gar nicht auf das Auto einreden oder es mit einem Stock anstoßen wie einen Esel?“ wollte der Junge wissen. Seine Frage gab mir die Möglichkeit, während eines langsamen Wendemanövers einige grundsätzliche Erläuterungen die Mechanik des Automobils betreffend von mir zu geben.
Ich überlegte, welchen Weg ich wählen musste, um Flurkreuze und erst recht Kruzifixe am Straßenrand zu vermeiden, und entschied mich für die Straße nach L. Jeanne hatte wohl nicht ordentlich zugehört, als ich dem Jungen die Technik erläutert hatte, denn sie fragte plötzlich:
„Was passiert, wenn Sie dem Auto die Sporen geben?“
Die lange Gerade zwischen der Hühnerfarm am Dorfausgang von Estansac und dem Kreisverkehr am Dorfeingang von L war frei, und ich gab ordentlich Gas.
„Das passiert“, sagte ich und betätigte zugleich den elektrischen Fensterheber, damit sie und der Junge den Fahrtwind spürten.
„Huiii!“ rief Jeanne in einer Mischung aus Angst und Begeisterung. Ihre Haare wehten, und ihre Blässe wich einer Farbe von Leben.
Den Gesichtsausdruck des Jungen hinter mir konnte ich im Rückspiegel beobachten, er schwankte ebenfalls zwischen Fassungslosigkeit und Faszination.
„Krass“, sagte er. „Da wären unsere Esel nicht mitgekommen.“
Ich war perplex. „Sag mal, woher kennst du solche Ausdrücke? Wer bringt dir das bei?“
„Das habe ich vorhin schon gesagt. Ich muss oft fernsehen. Und da höre ich das.“
„Guckst du auch viel Fernsehen?“ fragte ich Jeanne.
„Nein, ich stehe ja nicht in Privathäusern“, gab Jeanne zurück. „Aber der Junge bringt mir das eine oder andere bei.“
„Zum Beispiel das Abklatschen, das High Five, das du neulich bei mir zum Abschied gemacht hast?“
„Ja, das Abklatschen, wie Sie sagen, habe ich von ihm gelernt. Dass es High Five heißt, höre ich jetzt erst.“
„Das machen sie beim Volleyball“, erklärte der Junge. „Ist es ungehörig?“
„Nein, nein, es ist ganz in Ordnung, aber es ist eine ziemlich neue Sitte, und ich habe mich gefragt, woher Jeanne es kannte.“
Als wir uns dem Kreisverkehr näherten, wurde ich von einem entgegenkommenden Fahrzeug angeblinkt.
„Warum strahlt das andere Auto dich an?“ fragte Jeanne.
„Wir sagen anblinken. Es hat mich angeblinkt. Wahrscheinlich wollte der andere Fahrer mich warnen, weil im Kreisverkehr vor uns die Polizei steht.“
„Was ist die Polizei?“ fragte Jeanne.
„Das sind die Häscher“, rief der Junge von hinten.
„Es sind Gendarme. Du kennst vielleicht die gens d’armes noch aus deiner Zeit. Heute kümmern sie sich hauptsächlich um die Ordnung im Verkehr und um Kriminelle.“
„Kriminelle?“
„Diebe, Räuber, Mörder, Umweltzerstörer.“
„Dann brauchen wir ja keine Angst zu haben“, gab Jeanne zurück. „Und müssen uns nicht verstecken.“
„Aber man muss schon aufpassen. Es gibt nette und weniger nette Polizisten. Ich treffe meistens die weniger netten. Vielleicht haben wir heute Glück.“
Wir hatten kein Glück. Ein griesgrämiger Korinthenkacker mit seltsamem Schnauzbart, den sie wahrscheinlich genau wegen seiner Griesgrämigkeit nach L. statt in den vorzeitigen Ruhestand versetzt hatten, hielt uns an. Ich kannte ihn. Er hatte mir vor einiger Zeit einen Strafzettel verpasst, weil ich an einem Stoppschild in der Nähe nicht zu einhundert, sondern nur zu achtundneunzig Prozent stillgestanden hatte. Mein Einwand, dass achtundneunzig Prozent doch nahezu einhundert seien und außerdem die Straße fünfhundert Meter weit einsichtbar sei, hatte nichts genützt. Seine Pingeligkeit hatte mir einen Punkt auf meinem Führerscheinkonto und ein Bußgeld von neunzig Euro eingebracht. Außerdem einen französischen Führerschein, damit sie meine Punkte anrechnen konnten. Leider hatte ich meinen deutschen Führerschein dabei abgeben müssen. Es wäre so praktisch gewesen, zwei zu haben.
„Pech gehabt“, sagte ich. „Das ist kein Netter.“
„Ich stell mich tot“, sagte Jeanne. Ich blickte sie fragend an.
„Ich nicht“, sagte der Junge. „Ich will sehen, was passiert.“
„Guten Abend“, sagte Gendarme Pingelig. „Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte.“
Ich reichte ihm das Gewünschte.
„Na, endlich haben Sie einen französischen Führerschein“, sagte Pingelig. Ich war geschockt, aber zugleich beeindruckt. Der Kerl kannte mich noch.
„Dank Ihnen“, sagte ich.
„Ich erinnere mich. Sie sind der achtundneunzig Prozent-Mann. Sind Sie inzwischen bei hundert angekommen?“
„Dank Ihnen“, sagte ich.
Wie man sich doch in den Menschen irren kann. Gendarm Pingelig hatte Humor. Sollte ich ihn umtaufen? Seine junge Kollegin mit einem blonden Pferdeschwanz ging inzwischen ums Auto und betrachtete missbilligend die nicht ausgebesserten Schrammen und das jetzt im Stillstand schlapp herabhängende Tuch von Jeannes Standarte. Dann blickte sie durch die Scheibe auf der Beifahrerseite, trat zu ihrem Kollegen, flüsterte ihm etwas zu und zeigte auf den Beifahrersitz. Er bückte sich und schaute herein.
„Wer ist denn die Person neben Ihnen?“ wollte er wissen.
„Das ist Jeanne d’Arc.“
„Das sehe ich“, sagte er. „Aber was tut sie in Ihrem Auto? Sie steht in der Kirche hier drüben in Estansac. Jedenfalls stand sie da, als ich getauft und später konfirmiert wurde und als ich geheiratet habe. Und ich möchte, dass sie auch dasteht, wenn ich begraben werde. Wo wollen Sie mit ihr hin?“
„Jeanne wollte gern einmal in einem Auto mitfahren, und deshalb tue ich ihr den Gefallen.“
„Hauchen Sie mich bitte einmal an“, sagte Gendarm Lustig.
Gendarmin Pferdeschwanz hielt ihre Nase dazwischen, als ich ihn anblies. Dienstbeflissen sog sie meinen Atem ein, Workoholic, dachte ich.
„Direkt betrunken scheint er nicht zu sein“, sagte sie.
„Er sollte mich anhauchen“, knurrte Gendarm Lustig sie unlustig an.
„Ich habe aber nicht schon drei kleine Rote intus“, konterte sie. „Deshalb kann ich Alkohol besser riechen als du.“
Er sah sie an, als ob er sie fragen wollte: Seit wann duzen wir uns? Dann wandte er sich mir zu.
„Sind Sie hundert Prozent nüchtern, Monsieur?“
„Mindestens achtundneunzig Prozent“, gab ich zurück. Er musste grinsen. „Humor haben Sie ja, das muss man ihnen lassen. Aber das erklärt nicht, warum sie mit der Statue von Jeanne d’Arc samt Standarte durch die Gegend fahren.“
„Aber er hat die Wahrheit gesagt“, rief jetzt der Junge von der Rückbank. „Jeanne wollte gern in einem Auto fahren. Und mich hat sie gefragt, ob ich mitkommen wollte.“
„Ihr Sohn ist übrigens nicht angeschnallt“, sagte Gendarmin Pferdeschwanz.
„Es ist nicht mein Sohn“, entgegnete ich.
„Wessen Sohn ist er denn?“
„Da bin ich überfragt“, musste ich einräumen. „Er ist ein Freund von Jeanne aus der Kirche, das ist alles was ich weiß.“
„Und alles, was ich weiß, ist, dass er angeschnallt sein sollte“, sagte die Pferdeschwanzgendarmin und machte auf Amtsperson. „Und dafür sind Sie als Fahrer verantwortlich.“
„Ich habe aber gelernt, dass man nicht angebunden sein muss, wenn das Auto nicht fährt“, rief der Junge.
„Vor einer roten Ampel fährt das Auto auch nicht. Aber du musst trotzdem angeschnallt bleiben“, sagte die inzwischen umgetaufte Gendarmin Pingelig.
„Hier ist aber keine rote Ampel“, konterte der Junge. Er hielt sich wacker.
„Lass mal gut sein“, sagte jetzt Gendarm Lustig zur Gendarmin Pingelig und wandte sich erneut mir zu. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Monsieur“, sagte er:
„Sie beenden jetzt Ihre Spritztour, kehren um nach Estansac und bringen Jeanne d’Arc und den Sohn von wem auch immer dahin zurück. Ich behalte Ihren Führerschein ein, und wir treffen uns in einer halben Stunde vor der Kirche. Ich besorge in der Zwischenzeit den Kirchenschlüssel und dann stellen wir die Statue wieder an ihren Platz und sorgen dafür, dass der Junge nach Hause kommt. Danach bekommen Sie Ihren Führerschein zurück. Ich will Ihnen die achtundneunzig Prozent für diesmal durchgehen lassen. Aber beim nächsten Mal müssen Sie blasen.“
Gendarmin Pingelig war inzwischen zur Gendarmin Mütterlich mutiert und half dem Jungen, sich wieder anzuschnallen. „Und der Junge gehört auch bald ins Bett“, rief sie mir durchs offene Seitenfenster zu, nicht einmal unfreundlich. Dann fuhr ich los.
Ich war gespannt, wie Jeanne und der Junge die Begegnung mit der Polizei, die in meinen Augen glimpflich verlaufen war, kommentieren würden, und schwieg. Doch im Stillen fragte ich mich, was den Gendarm Pingelig und am Schluss auch seine pferdeschwänzige Kollegin nach anfänglichem Argwohn so mild gestimmt hatte. Jeanne hatte sich, wie sie selbst es ausgedrückt hatte, totgestellt; der Junge hatte sich – und mich – furchtlos verteidigt, war aber nicht ausfällig geworden. Hätte er nicht bestätigt, dass unsere Spritztour tatsächlich Jeannes Idee gewesen war, wären die Gendarmen vielleicht noch auf den Gedanken verfallen, mich als Kunsträuber auf frischer Tat ertappt zu haben. Anderseits war ich noch nicht richtig aus dem Schneider. Erst mussten die beiden in die Kirche zurück, wobei mir nicht klar war, wohin der Junge dort eigentlich gehörte, aber das würde er wohl selbst wissen, und wenn nicht er, dann Jeanne.
„Es gefällt mir“, sagte Jeanne plötzlich, „dass der Mann mich erkannt hat und weiß, wo ich hingehöre. Man steht also nicht völlig umsonst in den Kirchen herum, zumindest nicht in der von Estansac. An seine Taufe und Kommunion kann ich mich nicht erinnern. Da hatte er noch kein Gesicht. Aber bei seiner Hochzeit sah er schon aus wie ein fertiger Mensch und hat seine Braut lieb angefasst.“
„Bei Hochzeiten gucke ich nie hin“, sagte der Junge. „Ich gucke lieber Fußball in den Wohnungen, in denen ich hänge.“
„Das ist dein gutes Recht“, sagte Jeanne. „Auf dem Kreuzigungsbild bist du ja auch Zugucker und Dabeisteher am Rande. Deshalb haben die Gendarmen dich nicht gekannt. Du hast es leichter als wir Heiligen. Von uns wird immer noch etwas erwartet, obwohl wir schon Hunderte und manche von uns beinahe zweitausend Jahre aus dem Spiel sind. Mich zum Beispiel haben sie zur Schutzpatronin der Telegraphie und des Rundfunks gemacht, obwohl ich von Technik keine Ahnung habe.“
Ich bekam Lust, mich in das Gespräch der beiden einzumischen und sagte:
„Aber du hast Stimmen aus dem Nichts gehört und mit deiner patriotischen Leidenschaft halb Frankreich mobilisiert, kein Wunder, dass sie sich für ihre Erfindungen der mystischen Kräfte versichern wollten, die von deiner Person ausgingen.“
„Ich bin wie gesagt aus dem Spiel, und es steht mir nicht mehr an, darüber zu streiten, ob die Stimmen aus dem Nichts kamen. Das ist alles vorbei. Aber ich dachte, die moderne Technik wäre das Gegenteil von Mystik. Was soll ich dabei?“
„Du sollst deine Standarte für sie schwingen“, sagte der Junge. „Ich würde gern mal in einem Stadion eine Standarte schwingen. Am liebsten für den FC Toulouse, damit er wieder aufsteigt.“
„Was du alles möchtest“, sagte Jeanne beinahe mit einem Seufzer. „Dir macht ja auch keiner Vorschriften. Ich dagegen: Immer in dieser starren Rüstung, mit der Standarte und dem Schwert an der Seite. Und als Trägerin der nationalen Ideale.“
Und jungfräulich, dachte ich, sagte aber stattdessen:
„Immerhin trägst du manchmal deine Pumps, und heute fährst du in einem Auto mit. Das ist doch schon mal nicht schlecht.“
Ich stoppte vor der Kirche. Der Junge schnallte sich allein los und stieg aus. Er öffnete Jeanne die vordere Tür.
„Grüßen Sie die Gendarmen von uns“, sagte Jeanne, und der Junge, bevor er die Tür zuschlug, fragte:
„Darf ich einmal allein zu Ihnen kommen?“
Ich zwinkerte ihm bestätigend zu, doch da waren sie schon verschwunden. Spurlos. Ohne High Five. Die Standarte war auch weg.
Die Kirchuhr schlug zehn, es war nahezu dunkel. Ein Auto rollte die Rue de l’église herab, wie auf leisen Sohlen, dachte ich. Und ohne Blaulicht. Soviel Feingefühl hatte ich den Gendarmen nicht zugetraut, obwohl sie sich zweifellos bemüht hatten, sich von ihrem Bullen-Image zu lösen und dem Freund-und-Helfer-Ideal anzunähern, auch wenn noch nicht jede Nuance saß.
„Dann wollen wir mal“, sagte Gendarm Lustig und wedelte mit dem Kirchenschlüssel. „Wo sind die beiden?“
„Sie sind schon vorgegangen“, gab ich zurück.
„Vorgegangen? Aber ich habe doch hier den Schlüssel“, sagte der Gendarm und blickte verwirrt und suchend an der schwach beleuchteten Kirchenfassade auf und ab.
„Der Junge sollte um zehn Uhr zu Hause sein“, sagte ich.
„Dann kennen Sie ihn also doch“, sagte die Gendarmin mit einer gewissen Schärfe.
„Nein“, entgegnete ich. „Kleiner Scherz!“
„Wenn Jeanne d’Arc nicht an ihrem Platz steht, ist Schluss mit lustig“, sagte Gendarm Lustig, „aber nicht zu achtundneunzig, sondern zu hundert Prozent. Dann hilft Ihnen auch Ihr teutonischer Humor nicht mehr weiter.“
Der schwere Schlüssel drehte sich quietschend im Schloss, und wie um den Misston noch zu übertreffen, knarrte und ächzte die Tür, als er sie öffnete. Ich stellte mir vor, dass alle Heiligen und das gesamte künstlerische Personal im Kircheninneren aus dem Schlaf hochschreckten, hielt jedoch sicherheitshalber den Mund. Der Gendarm fand den Lichtschalter nicht und ließ sich von seiner Kollegin die Taschenlampe reichen.
Er richtete den Strahl in die linke Ecke neben dem Beichtstuhl.
„Da steht sie doch“, sagte er mit einem leicht triumphierenden Unterton, als hätten wir beiden anderen es bezweifelt und er es von vornherein gewusst.
„Lass mich auch mal“, sagte seine Kollegin, nahm ihm die Taschenlampe aus der Hand und leuchtete selbst in die Ecke. „Stimmt“, sagte sie beinahe tonlos.
„Möchten Sie auch?“ fragte sie mich und hielt mir die Lampe hin. Aber ich schüttelte den Kopf.
Ich wusste ja, dass Jeanne sich totstellte.
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