Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 11

Sven Andresen erzählt:

István Paustian und das fremde Fahrrad

Von Hannes Hansen

Im ostholsteinischen Probsteierhagen lebt ein Polizist namens István Paustian. Eigentlich heißt er ja Hans-Peter mit Vornamen, aber er will lieber István genannt werden, weil, so behauptet er, in Ungarn auch ein István lebt, dem genau so seltsame Dinge wie ihm passieren.

Da ist zum Beispiel die Sache mit dem Fahrrad, das sehr schnell und ganz allein durch Probsteierhagen fuhr, ohne Fahrer. István Paustian hielt es an und sagte:

„Halt. Hier ist eine Baustelle. Höchstgeschwindigkeit zehn Kilometer pro Stunde. Ich muss Ihnen ein Strafmandat geben, zehn Euro.“

„Hier ist doch gar keine Baustelle“, sagte das Fahrrad.

„Aber hier war eine, das Warnschild steht noch, sehen Sie. Und das allein zählt.“ István klang energisch.

„Ja, wenn das so ist …“, gab das Fahrrad klein bei.

„So ist das“, sagte István. Er sprach sehr laut. „Was ist nun mit dem Geld? Wollen Sie gleich bezahlen oder überweisen?“

„Ich habe kein Geld und was ist ’überweisen‘?“

„Überweisen ist, also wie soll ich sagen, wenn man sein Geld auf der Bank hat und man es an einen anderen, also überweisen will, Sie verstehen?“

„Nein, tu ich nicht. Und sie offensichtlich auch nicht.“ Das Fahrrad klang ein wenig, nur ganz wenig, schadenfroh.

„Genug geredet jetzt.“ István hatte ein rotes Gesicht bekommen, ob aus Ärger, aus Scham oder aus beidem, war nicht klar. „Ein Bankkonto haben Sie vermutlich auch nicht?“

„Nein.“

„Und wo wohnen Sie?“

„Nirgendwo.“

„Unsinn, jeder wohnt irgendwo.“

„Ich nicht.“

„Und wieso nicht?“

„Meine letzte Besitzerin, sie war bereits meine dritte, ist gestorben. Und weil ich schon etwas rostig bin, wollten mich die Erben auf den Schrottplatz bringen. Als ich das hörte, bin ich schnell weggefahren. Das müssen Sie doch verstehen. Würden Sie etwa gern eingeschmolzen?“

„Nein, natürlich nicht.“ Istváns Stimme war ganz weich geworden. Er hatte Mitleid mit dem Fahrrad. Aber Pflicht blieb Pflicht und deshalb sagte er:

„Also wenn sie kein Geld und keine Adresse haben, an die ich das Strafmandat schicken kann, dann muss ich Sie verhaften. Nur haben wir da ein Problem. Die Arrestzelle auf der Polizeistation wird nämlich gerade renoviert. Das geht also nicht.“ István war ratlos.

Das Fahrrad reagierte sofort: „Könnte ich denn nicht bei Ihnen, ich meine, ich bin zwar etwas rostig, aber immer noch rüstig, verzeihen Sie den kleinen Scherz.“

„Donnerwetter, daran habe ich ja noch gar nicht gedacht“. István zeigte sich überrascht. „Aber warum nicht? Sie könnten jetzt im Sommer bei mir auf dem Hof stehen, gleich neben den Rosenbüschen. Und im Winter hätte ich ein warmes Plätzchen für Sie im Keller.“

„Das wäre mir sehr angenehm“, sagte das Fahrrad. „Aber was ist nun mit dem Strafmandat?“

„Das“, antwortete István, jetzt wieder ganz Herr der Lage, „werfen wir einfach weg. Ich ermahne sie wegen Geschwindigkeitsübertretung, das reicht. Und eine Adresse haben Sie jetzt auch, wenn mal was ist.“

„Vielen Dank für Ihre Güte“, sagte das Fahrrad. „Ich war schon ganz verzweifelt, weil ich nicht wusste, wo ich hinsollte.“

„Na nun ist ja alles gut. Aber fahren werde ich nicht auf Ihnen. Das würde sich nicht schicken. Sie sind ja, wie ich sehe, ein Damenfahrrad.“

„Ganz recht“, stimmte das Fahrrad István zu. „Ich mochte es übrigens nie, wenn ein Mann auf mir fuhr. Gut, ein kleiner Junge, das war in Ordnung, aber ein erwachsener Mann, das fand ich degoutant.“

„Ich werde“, versprach István, „Sie ganz bestimmt nicht belästigen. Ich habe ja selbst ein Fahrrad, ein männliches natürlich. Ich werde Sie, wenn es Ihnen recht ist, neben es stellen. Sie kommen bestimmt gut miteinander aus und könnten gemeinsame Ausfahrten unternehmen.“

„Das wäre schön“, sagte das Fahrrad hoffnungsfroh, „aber wir werden sehen.“

Und so kam es dann auch, ja, die beiden verliebten sich bei einer Ausfahrt durch die blühende Feldmark der Probstei ineinander. Doch das ist eine andere Geschichte. Und die geht so:

 

István Paustian hatte Urlaub. Er beschloss, einen Freund in der nahegelegenen Stadt zu besuchen und ein paar Tage bei ihm zu verbringen. Sie wollten angeln gehen oder Museen besuchen oder irgendetwas anderes tun. Er verabschiedete sich von seinen Fahrrädern, dem eigenen und dem Damenfahrrad, das ihm zugelaufen war und jetzt bei ihm auf dem Hof seines Hauses zur Untermiete wohnte.

Die beiden schauten ihm traurig hinterher. Ohne István würden sie sich langweilen. Keiner würde sie in den nächsten Tagen putzen, keiner ihre Ketten ölen, keiner die Funktionstüchtigkeit ihrer Klingeln und Beleuchtung überprüfen. Vor allem aber würde niemand auf ihnen fahren, denn Istváns Frau, die auf gemeinsamen Touren mit ihrem Mann das Damenfahrrad benutzt hatte, nutzte die Gelegenheit, zu ihrer Schwester, die einen Bauern in einem nur wenige Kilometer entfernten Dorf … aber das ist ja alles viel zu lang, jedenfalls war sie ebenfalls weg. „Ich habe István das ganze Jahr um mich“, sagte sie, „da brauche ich ihn nicht auch noch im Urlaub.“

Bellini und Victoria, so hatte István die beiden Fahrräder genannt, langweilten sich also. Einen Tag, zwei Tage, drei Tage. Schließlich machte Bellini einen Vorschlag:

„Warum fahren wir nicht einfach selbst los? Teufel auch, so kann es nicht weitergehen.“

Victoria, die wie alle Waisen etwas ängstlich war, hatte Bedenken:

„Dürfen wir das denn? Und was ist, wenn uns jemand sieht? Ich meine, zwei Fahrräder ohne Fahrer?“

„István ist nicht da und sonst gibt es hier keinen Polizisten. Und die anderen können uns scheißegal sein. Teufel auch.“

Victoria, die Bellini zwar bewunderte, aber seine manchmal etwas vulgäre Art nicht mochte, errötete, obwohl István ihre Rostflecken sorgfältig entfernt und unter einer neuen Lackschicht das bloßgelegte Metall verborgen hatte. Trotzdem sagte sie jetzt:

„Ja wenn du meinst …“

Und so machten sie sich auf den Weg. Sie fuhren auf schmalen Feldwegen durch blühende Rapsfelder, überquerten munter murmelnde Bäche auf wackligen Brücken, lauschten jubilierenden Lerchen am hohen, wolkenlosen Himmel und ließen sich schließlich am Rand eines Wäldchens nieder, in dessen Bäumen Vögel der verschiedensten Arten mit hellen Stimmen die Schöpfung priesen. Kurz, sie taten all das, was das Gesetz für anmutige Landschaftsschilderungen vorschreibt.

„Was für ein Kitsch“, sagte Bellini.

„Aber schön“, entgegnete Victoria, die zarter besaitet war als der rustikale Bellini.

„Hast du schon einmal Sex gehabt?“ fragte der jetzt.

„Nein“, sagte Victoria. „Ich weiß gar nicht, wie das geht. Es soll aber Spaß machen, habe ich gehört.“

„Ja, das habe ich auch gehört. Vor allem, wenn man sich liebt.“

„Liebst du mich denn?“, fragte Victoria bange. Sie war wieder rot geworden.

„Ich glaube schon“. Bellini gab sich kurz angebunden.

„Und weißt du, wie man Sex macht?“

Bellini musste zugeben, dass er es auch nicht wusste. Deshalb sagte er:

„Sex oder nicht Sex, das ist doch scheißegal. Hauptsache, wir lieben uns. Lass uns nach Hause fahren.“

Zuhause angekommen, waren sie sich einig, dass sie einen schönen Tag miteinander verbracht hatten. Auch ohne Sex, Teufel auch.


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