Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 13
Rubik Hohe erzählt:
Kahlschlag
Von Heiko Buhr
Ein großartiger, ein ausgezeichneter, ein formidabler Tag. Er, Christian Streglitz, hat gewonnen. Aber was denkt er denn da, nur gewonnen, einen grandiosen, einen überragenden Triumph kann er feiern. Das so lange angestrebte Ziel ist erreicht. Und der Fussel, vielleicht auch ein Haar, auf dem Jackettärmel, den er mit überspitzen Fingern herunterzupft und mit einem kurzen, absolut routinierten Atemstoß einfach in die Luft vor sich entlässt, schwebt gleichmäßig davon, um schließlich der natürlichen Anziehungskraft der Erde in der vorhergesehenen Form Genüge zu tun. Alles genau so, wie es sein soll, schießt es Christian Streglitz durch den vorgestreckten Kopf. Als gerechte Krönung seines eisernen Aufstiegswillens würde er diesen Tag wohl gewiss später einmal bezeichnen können. Einmal Hölle und zurück. Und genauso erhitzt fühlt sich für ihn sein Körper gegenwärtig an.
Vor dem Panoramafenster seines Büros, Führungsetage zwar schon, allerdings mittlere Ebene, stehend, die Regale mit den fortlaufend beschrifteten Ordnern sowie seinen gradlinig geschwungenen Mahagonischreibtisch, auf dessen Platte, soeben hat er die letzten Blätter über den Rand in den Papierkorbs geschoben, sich die rotglühende Sonne spiegelt, im Rücken, betrachtet er unter sich im Zentralpark das imposante Denkmal Bismarcks und lässt seinem Hochglücksgefühl, welches nur dadurch getrübt wird, dass er seinen Sieg noch immer nicht mit Marlies hat teilen können, freieren Lauf. In der ganzen Branche wird dieses Projekt für Furore sorgen, denkt er. Sein ohnedies schon ausgezeichneter Ruf bekäme jetzt noch einmal ein großes, für alle unübersehbares Ausrufezeichen hinzugesetzt. Ach was, drei Ausrufezeichen. Jawohl.
Bald werden wir umziehen müssen, denkt er, als eine Taube vorbeifliegt und ungelegen seine ungeteilte Aufmerksamkeit mit einem eleganten Landemanöver auf sich zieht. Das Geräusch eines Gewehrschusses entfährt seinem Inneren, wobei er Zigarrenrauch in einer dicken Wolke aus dem Mund stößt. Das schöne Vorstadtreihenhaus, das Marlies und er vor neun Jahren unverzüglich erwarben, als sich die Vermutung einer Schwangerschaft bewahrheitet hatte, würde wohl kaum mit seiner zu erwartenden Position in hinreichender Weise korrespondieren.
‚Korrespondieren’, denkt er vergnügt lächelnd, ballt die Faust und springt, ein kleines Tänzchen zu wagen, um ein Haar auf seinen Besprechungstisch, den er noch zusammen mit drei Stühlen in die eine einigermaßen freie Ecke seines Büros gequetscht hat, allerdings meist als Ablagefläche benutzt, besinnt sich jedoch rechtzeitig und schneidet statt dessen seinem Gegenüber auf der getönten Fensterscheibe Grimassen, lässt davon aber sogleich wieder ab, da dieses kindische Verhalten wohl kaum seiner neuerworbenen Bedeutung gerecht wird. Schließlich schreibt er gerade Wirtschaftsgeschichte, indem er drei Unternehmen unter dem Dach einer Holding zusammenführt. Drei Unternehmen, deren einfach total überalterte und vor allem noch allzu konventionellen Führungsauffassungen anhängende Vorstände erbittert mit allen legalen und illegalen Mitteln gegen ihre Entmachtung gekämpft haben.
‚Haben’, denkt er befriedigt. Ab heute aber sitzen sie alle auf der Straße. Und er, Christian Streglitz, bestimmt nun, wohin die Reise geht. Recht geschieht ihnen, diesen Ignoranten. Sie hätten mitmachen können, ja mitmachen sollen und sich ihm anschließen müssen. Aber sie haben es anders gewollt. Es werden nicht die einzigen sein, die ihren Hut nehmen müssen, das weiß er natürlich ganz genau, aber dagegen kann er selbstverständlich nichts tun. So ist das Gesetz des Business nun einmal. Wer etwas erreichen will, muss auch in der Lage sein, harte und vor allem einschneidende Entscheidungen zu treffen.
Wie oft seine Nerven gerade in den letzten Monaten blank gelegen haben, er weiß es nicht zu zählen. Im Grunde die ganze Zeit über. Nochmal ein Jahr, vielleicht auch zwei Jahre, dann hat er es geschafft und braucht sein eigenes, auf ihn eingeschworenes Leitungsorchester nur noch zu dirigieren. Marlies und der Junge würden das verstehen, so wie sie das letzte Jahr verständnisvoll mit ihm gewesen sind. Was ist das? Zwinkerte ihm da nicht gerade der gravitätische steinerne Reichskanzler von seinem breiten Sockel aus diskret-verschwörerisch zu? Alter Charmeur, der.
Der Alkohol zeigt eine ihm durchaus willkommene Wirkung. Ja, ein bisschen beschwipst ist er schon, keine Frage. Betrunken keinesfalls. Alle haben sie ihm gratuliert. Nur Marlies ist nicht zu erreichen. Selbst das Handy abgestellt. Noch beim Frühstück, der einzige ruhige Augenblick in ihrem gemeinsamen Leben, seit ihm dieses Projekt übertragen wurde, eine halbe Stunde, in der er nur ihr allein gehört, soweit ihm dies überhaupt möglich ist, haben sie besprochen, welche Mittel sich ihnen bieten würden, wenn er die Zustimmung des letzten Großaktionärs bekäme und damit die Fusion endgültig unter Dach und Fach wäre. ‚Unter Dach und Fach’, hat er pathetisch zu ihr gesagt, um seine Unsicherheit zu kaschieren. Wieder einer dieser vielen Ausdrücke, die er von seinem Vater als Erbschaft übernommen hat.
Als sie sich an der Universität in der Mensa kennenlernten, kamen sie sich sofort näher und verstanden sich ohne Weiteres aufs Beste. Beide Idealisten mit einer sehr genauen Vorstellung von einer gerechteren Gesellschaftsordnung. Sie engagierten sich in verschiedenen Organisationen, beendeten ihre Studien mit Auszeichnung, sie in Jura, er in Betriebswirtschaftslehre. Marlies blieb an der Hochschule, wo sie nach wie vor einzelne Kurse anbietet, um die Veränderung der Welt durch die Befruchtung der nachfolgenden Generationen mit dem entsprechenden Gedankengut voranzutreiben, während er in die Unternehmensberatung ging, um von dort den praktischen Teil der Umsetzung zu übernehmen.
Vielleicht hat sie eine Feier für mich Zuhause vorbereitet? Natürlich, so musste es sein. Deshalb. Schön, wenn sie es so wollte. Wahrscheinlich werden sie schon sehnsüchtig auf mich warten. Wer wohl alles da sein wird? Vielleicht sogar Müller-Heimann.
Sein Mentor hat ihm schließlich dieses Projekt zugeschanzt, um sich selbst in den Unruhestand, wie er es immer auszudrücken beliebt, zurückzuziehen. Zweifelsohne hält Müller-Heimann nach wie vor vielerlei Fäden in seinen Händen und sein Einfluss und sein Netzwerk aus Kontakten bis in die allerhöchsten Kreise der Entscheidungsträger, zu denen Christian Streglitz nun wohl auch in absehbarer Zeit gehören wird, ist nach wie vor groß.
Marlies hat ihn insbesondere bei diesem Unternehmen tatkräftig unterstützt, ihn eingehend in allen rechtlichen Fragen beraten und ihm den Rücken freigehalten. Auch sie hat natürlich sofort begriffen, was für eine außerordentliche Chance sich ihnen da bot. In der Position, in der er demnächst sein würde, könnte er ihre lange Zeit nur theoretisch formulierten Vorstellungen einer menschenfreundlichen und nachhaltigen Wirtschaftspolitik, die den Schutz der Umwelt zentral berücksichtigen würde, endlich umsetzen. Da sind die Entbehrungen des letzten Jahres doch nur ein kleines Opfer, denkt er beruhigt, nimmt seine Tasche und verlässt in freudiger Erwartung sein Büro. Am Empfangstresen hält er kurz zu einem belanglosen Plausch inne, ein Ritual, welches er auch heute nicht vergisst, um dann weiter in die Tiefgarage zu fahren. Niemand soll ihm nachsagen können, der Erfolg sei ihm zu Kopf gestiegen.
Im Auto fühlt er sich großartig. Lenken, dazu bin ich seit Kindertagen unwiderruflich bestimmt, denkt er und tritt heftig auf das Gaspedal, ohne die Geschwindigkeit auch nur im Geringsten zu beachten. Das wird nun auch bald ein Ende haben, denn natürlich muss er in seiner neuen Position schon auf dem Weg ins Büro arbeiten können. Ein Chauffeur fährt morgens den Wagen, Oberklasse selbstverständlich, vor, er steigt im Fond ein, studiert Berichte, führt Telefonate, prüft Anträge und Vertragsentwürfe. Bei dieser lebhaften Vorstellung muss er laut auflachen und übersieht eine rote Ampel, hat aber unwahrscheinliches Glück, denn die wartenden Autos kommen nur langsam in Gang, während er sich schon weit hinter der Kreuzung befindet.
Muss mich mehr konzentrieren. Wenn ich angehalten werde, bin ich den Führerschein sofort los. Er rekapituliert fieberhaft, was er alles getrunken hat, und beschließt, sich den Rest des Weges unbedingt zusammenzureißen.
Kurz darauf fährt er ohne weitere Verfehlungen Zuhause vor. Der Wagen von Marlies steht nicht in der Parkbucht vor der Hausanlage. Allmählich breitet sich nun doch eine zittrige Unruhe in ihm aus, die er so überhaupt nicht von sich kennt.
Aus dem Auto raus, ins Haus hinein ist eins. Ein Schock. Der Flur ist vollkommen leer. Keine Kommode, keine Garderobe, keine Bilder, kein Spiegel oder Schirmständer. Nur in der Mitte ein kleines, sauber aufgeschichtetes braunbeiges Häufchen.
Späne. Ja, das sind Späne, denkt er. Was soll das?
Er stellt die Tasche mit seinem Laptop, dem Heiligtum seines Berufslebens, ab, wobei er die übliche Vorsicht vergisst, und geht weiter ins Wohnzimmer. Leer. In der Mitte ein großer Haufen. Späne. Rückseitig sieht er im Weitergehen einen Stuhl stehen. Sonst nichts. Nur dieser Stuhl und dieser Haufen da.
Was geht hier vor, schießt es ihm durch den Kopf.
Natürlich, am Tag seines Erfolges wird er doch tatsächlich mal so richtig hochgenommen. Dahinter steckt Gregor. Schon in der Schule konnte der mit seinen aberwitzigen Ideen die Lehrer zur Verzweiflung bringen. Alles passt zusammen. Marlies nicht erreichbar und keiner seiner Freunde, der ihn im Büro angerufen hätte, um ihn zu beglückwünschen, wie ihm erst jetzt auffällt, da er die imaginäre Liste der Gratulanten mit herabhängendem Kopf durchgeht.
Marlies hat sich das bestimmt nicht allein ausgedacht. Kommt raus, ruft er irritiert, ich weiß doch, dass ihr alle da seid. Nichts. Ok, meine Lieben, ich soll mich wohl da auf den Stuhl setzen, oder? Wie ihr wollt. Ich sitze, ihr könnt euch zeigen. Es bleibt unnatürlich still im Haus, nur von draußen her ist das Rufen einer Mutter nach ihrer Tochter zu hören.
Ich sitze, ihr Idioten. Jetzt hört auf, sonst finde ich das nicht mehr lustig. Seine Stimme nimmt einen hysterischen Klang an. Bringt mir ein Glas Schampus und lasst mich endlich hochleben. Na los, was ist denn mit euch? Wollt ihr etwa, dass ich suche? Gut, ich komme.
Er öffnet die Flügeltür zum Esszimmer. Leer. In der Mitte: ein Haufen Späne. Die Küche, leer. Die Abstellkammer, leer. Das Besucherzimmer, leer. Nur Späne überall. Im ersten Stock nicht anders, ebenso in der zweiten Etage. Er vermag kaum noch die in ihm hochbrodelnde Wut zu unterdrücken.
Was soll das? Marlies, ist das deine Idee? Gregor? Frank, Sven, Stefan? Wo seid ihr, verdammt noch mal? Kevin? Das ist jetzt aber wirklich nicht mehr komisch.
Er kommt zurück ins Wohnzimmer und setzt sich wieder hin. Sein Blick schweift verzweifelt nach einem Anhalt suchend durch den Raum. Er holt sein Handy heraus und berührt kurz den Bildschirm. Nichts. Marlies hat ihr Handy noch immer nicht wieder eingeschaltet. Dann ruft er eine ganze Reihe seiner Freunde an. Den einen oder anderen erreicht er, aber niemand scheint von der Sache hier zu wissen. Natürlich bindet er keinem seine aktuelle Lage im Detail auf die Nase, horcht nur sorgfältig herum, ohne jedoch etwas Brauchbares zu erfahren. Dann nochmals Marlies. Wieder nichts. Die aufsteigende Panik unterdrückt er zwanghaft. Kühler Kopf ist der wichtigste Charakterzug in seiner Branche. Egal, was auch geschieht, jetzt bloß nicht die Nerven verlieren, denkt er und versucht, die Situation Punkt für Punkt einer genauen Analyse zu unterziehen.
Sie hat mich verlassen. Marlies, wo bist du hin? Du musst zu mir zurückkommen. Hörst du, du musst. Gut, vielleicht habe ich es ja in der letzten Zeit übertrieben, aber es ist doch für dich und unseren Sohn. Nur für euch, das weißt du doch, Marlies. Weißt du doch. Du kannst mich doch jetzt nicht einfach verlassen, da ich es geschafft habe. Wir haben doch ein gemeinsames Ziel. Marlies, das darfst du nicht tun. Ich werde mich auf jeden Fall bessern, werde mehr von Zuhause aus arbeiten. Jetzt kann ich es, jetzt bin ich an der Spitze, von jetzt an bestimme ich, wo es langgeht. Marlies. Was soll das jetzt?
Er starrt auf den Haufen vor seiner Nase, diesen größten der Spänehügel, der trotzdem aussieht wie ein zu klein geratener Vulkankegel und jeden Augenblick auseinanderzufallen droht. Während er versucht, die am Morgen noch vorhandene Einrichtung des Raumes in seinem Kopf zu rekonstruieren, bemerkt er plötzlich den Umschlag, der inmitten der Schnipsel hervorlugt. Er springt auf, tritt mit dem Bein die Auflösung beschleunigend in die Späne hinein, während er die papierene Ecke greift und den Brief herauszieht. Gierig reißt er den Umschlag auf. Ein Zettel, die Handschrift von Marlies.
Wo gehobelt wird, da fallen Späne.
Seine Augen scheinen aus ihren Höhlen hervorzutreten, Schweiß verwandelt seine Stirn in eine glänzende Fläche, seine Hände werden von einem Beben erfasst, welches er bei aller Willensanstrengung einfach nicht mehr zu kontrollieren vermag.
Marlies, brüllt er außer sich, Marlies. Komm sofort raus! Ich weiß, dass du hier irgendwo bist. Dafür wirst du dich verantworten. Marlies, sofort.
Mit einem Satz hechtet er zur Flügeltür, wobei er den Stuhl polternd umwirft, stürmt von da nochmals durch alle Räume, achtet überhaupt nicht mehr auf die Späne, durch die er unablässig hindurchfegt, so dass nach kurzer Zeit das ganze Haus, außer dem Wohnzimmer, mit einer dünnen Schicht übersät ist. Er hebt den Stuhl auf, stellt ihn vor die Terrassentür und schaut in die Dämmerung auf den von Marlis am Wochenende gemähten Rasen hinaus.
Wo gehobelt wird, da fallen Späne.
Das hatte er mit mehr Nachdruck, als gewollt, geantwortet, da Marlies es gewagt hatte, ihn nach den Entlassungen zu fragen. Über ein halbes Jahr ist das jetzt her. Sie war vom Frühstückstisch aufgestanden und hatte die Geschirrspülmaschine ausgeräumt, während er seinen letzten Schluck Kaffee ausgetrunken hatte. Wie jeden Morgen war sie mit ihm an die Eingangstür gegangen, hatte ihm einen Abschiedskuss gegeben und mit so einem unbestimmbaren Unterton ‚Kahlschlag’ gesagt, bevor die die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war.
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