Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 15

Orje M. Iger erzählt:

Die Abendträne

Von Jörg Meyer

Wir wollen die Abendträne betrachten. Wir wollen unseren Kopf vorschieben, wie eine Schildkröte vorsichtig aus ihrem Gehäuse ihn hervorschiebt. Wir wollen den Blick schärfen, unter Umständen fachmännisch. Wir wollen sie betasten, wie man eine marmorne Skulptur betastet, wenn der Wärter gerade den Rücken kehrt.

Was aber ist eine Abendträne? Eine Träne am Abend, meinen wir, und dies nicht zu unrecht, vermag doch gerade die Sprache, derer wir uns bedienen, durch Wortkopplungen – übrigens eines der schönen Wörter, die sind, was sie bezeichnen, nämlich eine Wortkopplung – Begriffe zu schaffen, die in ihre Bestandteile zerlegt sagen, wie sie zu verstehen sind, indem kenntlich werde, woraus sie bestehen.

Doch beginnen wir nun mit dem Unterfangen. Denken wir uns ein Museum, denn wir sprachen ja schon vom Skulptösen der Abendträne, oder deuteten es zumindest an. Und wo anders finden sich Skulpturen gewöhnlich, denn im Museum? Auch ist das Museum der gemäße Ort für die Art der Betrachtung, die uns vorschwebt. Es ist bemüht um eine ehrfürchtige, ja sich verneigende Atmosphäre, was der Betrachtung der Abendträne den würdigen Rahmen schafft. Durch ein Portal also betreten wir eines jener Gebäude, das uns schon durch die Macht seiner Mauern die gebührende Demut abverlangt, die wir auch schon eilfertig willig unter Entblößung des engbestirnten Kopfes von jeglicher (auch ersehnter) Bedeckung erbieten. Manche von uns werden sich dabei wenig anheischig machen müssen, da sie schon ihrem Wesen nach allem sich gewaltig vor sie Stellenden jene biegsame Geste einer sich herabneigenden Stirn und Einfaltung der Hände zu zollen bereit sind, ohne sich dabei irgendeinem inneren Widerwillen widersetzen zu müssen. Anderen wird es schwerer fallen, namentlich den Freibegeisterten, die meinen, weder bedürftig, noch freiwillig bereiterklärt und einverstanden sein zu müssen, sich ein X für ein U vormachen zu lassen. Die auch erschauern bis in ihr versichertes Inneres vor dem Unterwürfigen, das den Demutsbekundungen oben geschilderter Art und Weise innewohnt. Wir jedoch dulden den Spott, der hintergründig in ihrer also sehr gekünstelt erscheinenden Verneigung lauert, denn wir wollen nun endlich eintreten in die – lasst uns sie durchaus so bezeichnen – allerheiligsten Hallen, den Ort, wo wir in Bälde der Abendträne begegnen sollen.

Wir schleichen uns leise durch die eröffnende Kuppel, die von sieben Säulen aus edelstem Marmor mit dem geübten Auge erkennbaren Muscheleinschlüssen gespreizt wird. Schon dem riesigen Kuppelbau wird dabei aufblickend unsere Bewunderung darüber zuteil, dass die Wölbung sich im Gegensatz zu einem gleichen Abstand zwischen stützendem Säulenwerk überspannenden Flachdach selbst zu tragen vermag. Vielleicht, weil sie, die Kuppel, der eigentlichen gerundeten Gestalt vieler Naturerscheinungen gleicht oder sich annähert und sich den Naturgesetzen nicht durch kühnen Mut widersetzt und sie zur Wirkung ihrer zerstörerischen Kräfte herausfordert. Trotz des uns mächtige Achtung einflößenden architektonischen Wagnisses der Kuppel also deren Einschmiegung in die ausgewogene Kräfteverteilung des Natürlichen. Doch wir schweifen ab, obschon es geboten scheint, dieses zu vermelden, so es uns in den Sinn kommen mag, während wir hallenden Schrittes selbigen nun endlich zu dem Verließ der Abendträne lenken.

Wir treten also ein. Dabei scheint es uns nichts weniger als unangebracht und der Größe des Augenblicks unangemessen, dass uns augenblicklich eine dämmrige Dunkelheit, oder präziser ein dunkler Dämmer umfängt. Wir wollen die Abendträne betrachten, und dazu ist es notwendig, sie nicht allein von allen Seiten vorgeschobenen Kopfes zu mustern, wie wir es vorhatten, sondern sie ferner verschiedenartig zu beleuchten. Denn es sind ja oft nicht die eigentlichen Dinge, die wir sehen, sondern vielmehr deren Beleuchtungszustände, ihre Schatten, ihr Glanz. Wir bebitten also einen Wärter, worauf jener freudig ob des Interesses des Betrachtenden mehrere über der Abendträne angebrachte Scheinwerfer und kleinere, mehr ins Rot schimmernde Lichtquellen elektrisch aufflammen lässt, dies nach einer peinlichst einstudierten Regie, so dass nun die Abendträne auf einer in der Mitte des vollklimatisierten Raumes beheimateten Metallstele und mit zolldickem Panzerglas umsargt in den verschiedensten Reflexen sichtbar wird.

Doch wir greifen der Beschreibung vor, denn es könnte bei deren bisheriger Kürze der fälschliche Eindruck entstehen, dass die Lichtwechsel rasch und mit Vehemenz vorsichgehen, während doch in Wirklichkeit sich die Lichter mit geradezu unmerklicher Langsamkeit und Dämpfung verändern, denn wir und der sachkundige Wärter wissen, dass das Auge zu den trägsten Sinnen gehört und dynamischen Zuständen beiweitem nicht so zugänglich ist wie das Ohr mit seinen schallfangenden Verschränkungen. Ein statisches Bild, ein antlitzener Anblick nämlich kann uns lange fesseln, während ein anhaltender Ton mit nur allmählicher Verwandlung unsere Aufmerksamkeit schon bald erlahmen lassen, wenn uns nicht nach kurzer Dauer bereits bis zur Unerträglichkeit langweilen wird.

Schon im ersten gleichsam – trotz der immer noch unsbestreitbaren Trefflichkeit des Wortes „aufflammen“ – aus dem Dunkel wachsenden Licht zeigt sich uns die Abendträne in ihrer ganzen Pracht. Letztere ist dabei freilich in keiner Weise schillernd, farbig oder gar barock, sondern eine bleiche, stille, entfernte, nur zu ahnende, denn das Liquidum tranquilitatis ist fast vollständig durchsichtig und somit überhaupt nur schwer erkennbar. Oval und in einem goldenen Schälchen schwimmend, sich geradezu unmerklich flimmernd wiegend ist es die Abendträne! Die Träne des olympisch entrückten Dichters, die er – wir alle kennen die Geschichte und haben sie mehrfach mit ersticktem Schluchzen vernommen – beim Abschied, eigentlich erst am Abend danach, aber seien wir so frei zu behaupten, beim Abschied des blassbelippten Mädchens mit der gleichgültig elfenbeinfarbenen, ihm nur genötigt und auf seine Inständigkeit hin dann doch noch gereichten Hand geweint hatte. Um eben dieses Wesens willen, das er, obschon es für eine solche Innigkeit der Zuneigung nicht recht zugänglich gewesen, mit der ganzen nur irgend möglichen Umfassung seines Herzens und Sinnens geliebt hatte, das, der kränklich erscheinenden Hand und des nicht minder kränkelnden, wenn nicht immerzu gekränkten Lippenpaars zum Trotze, sich gleichwohl einem befrackten Schnurrbart gar zu schnöde übereilt hingegeben hatte. Jene aus diesem traurigen Anlass geweinte Träne glänzt da vor uns, die eine zuträgliche Haushälterinnenseele aufgefangen und über Jahrzehnte und das baldige Verbleichen des Dichters hinaus konserviert hatte, immer befürchtend, die Abendträne könne einer kurzen aber umso länger bereuten Unachtsamkeit zufolge Opfer einer infamen Verdunstung werden.

Doch nun fließt die Abendträne ruhend um das goldene, spitz zulaufende Gefäß, auf dem sie gelagert ist. Ihre Geste ist dabei nicht die eines großartigen Kunstwerkes. Nein, sie gleicht unserer Demut nicht nur, sondern übertrifft alles, was wir an solcher mit frömmelnder Kopfsenkung zu leisten vermögen, mit beschämender Bescheidenheit. Noch im Verlöschen der Lampen, was eben wie das „Aufflammen“ mit zartester Abwartung geschieht, neigen wir zutiefst gerührt unseren Blick gen Boden, ehrfürchtig bis ins Mark vor dem Eintauchen der Abendträne in einen Teich, einen Weiher förmlich, der baumdickichtumstanden und nie vom Bug eines Nachens zerteilt einer Rose Spiegel ist, die sich nunmehr vor schwangerer Schwere und blutender Pracht, unfähig, vom brüchigen Stengel getragen zu werden, gravitätisch hin- und herscheidend vornüber beugt – in jenen Teichweiher, welcher der Abendträne zum nassen Grabesbett geworden.


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