Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 17
Wiebke Hoyer erzählt:
„Eine echte Insulanerin bin ich nicht. Dazu müsste ich eine mehrere Generationen umfassende Familiengeschichte vorweisen. Ich bin erst seit 30 Jahren auf Spiekeroog. Ich vermiete die meisten Ferienwohnungen. Nur deshalb fiel mir die Frau auf. Der hatte ich keine vermietet.“
Die fremde Frau
Von Elke Prediger
Es war eines der sehr wenigen Weihnachten, die ich auf Spiekeroog erlebt habe, an denen uns „weiße Weihnachten“ vergönnt waren. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs. Am Lenker und auf dem Gepäckträger hatte ich Körbe verstaut mit Geschenken. Eine Tradition. Wir nutzten die Mittagszeit des Heiligen Abends, um unseren Freunden kleine Präsente zu bringen. Das dauerte seine Zeit, denn in jedem Haushalt wartete eine gute Tasse Tee mit Rum.
Als ich bei den Lürssens aus der Haustür trat, es muss so gegen 14 Uhr gewesen sein, fiel mir die Frau wieder auf. In den vergangenen Tagen hatte ich sie schon häufiger gesehen. Wie in Gedanken versunken marschierte sie über die Insel. Eigentlich kennen wir unsere Urlauber. Familien mit Kindern, Zweitwohnungsbesitzer. Alle bekannt. Diese Frau aber war erst seit einigen Tagen auf der Insel.
„Nein“, sagte Imke, als ich ihre Teestube betrat, um ihr einige köstliche selbst gemachte Pralinen zu bringen. „Sie war schon den ganzen Sommer lang hier. Zwischendurch war sie nur einige Wochen weg. Sie wohnt im gelben Haus.“
Kein Wunder. Dann konnte ich sie auch nicht kennen. Sven, der Insulaner, dem das schmucke kleine Anwesen am westlichen Dorfrand gehörte, vermietete nicht an Fremde. Er gab sein Haus nur Freunden und Verwandten.
Die Frau hatte es heute scheinbar nicht eilig. Obwohl die Flocken inzwischen dichter fielen, schlenderte sie eher gemächlich vor sich hin, reckte gelegentlich den Kopf gen Himmel und ließ die Flocken auf ihrem Gesicht schmelzen.
Aus der alten Inselkirche klangen Orgeltöne. Alles rüstete sich zum jährlichen Krippenspiel. Die Familien näherten sich eilig aus allen Richtungen. An diesem Tag war das Kirchlein beim Krippenspiel stets bis auf den letzten Sitzplatz belegt. Und alle wollten natürlich eine der vorderen Reihen ergattern, damit sie die vielen kleinen Teilnehmer des Krippenspiels auch gut sehen konnten. Die Frau blieb stehen und beobachtete das Treiben. Sie lächelte und schien den Anblick zu genießen. Fröhliche Kinderstimmen stimmten in dem winzigen Kirchlein inzwischen eine letzte Liedprobe an. Die Fenster des Gotteshauses strahlten ein kuscheliges, einladendes Licht Richtung Dorf.
Die Frau ging weiter Richtung „Alter Bahnhof“. Ihr Gang wurde schneller, energischer. Am Briefkasten blieb sie stehen, zog zwei Briefumschläge aus der Jackentasche. Mit nachdenklichem Blick musterte sie die Adressen, hob den nach eisiger Nacht reifschimmernden Deckel hoch und warf die Briefe ein. Sekundenlang musterte sie den Kasten, dann setzte sie sich wieder in Bewegung. Diesmal führte ihr Weg in Richtung „Gelbes Haus“. Sie sah nachdenklich aus.
Ich folgte ihr mit meinem Rad, denn eine Freundin wollte ich noch mit meinem Weihnachtsgruß erfreuen. Aus dem „gelben Haus“ schimmerte mir das Licht von Kerzen und das Flackern des Ofens entgegen. Wer verbringt freiwillig solch einsame Weihnachten?
Es folgten zwei herrliche Weihnachtstage, an denen sich die Familien trafen, Dorfleben: eben schön! Jenseits von Touristen. Dafür gab es bei den zahlreichen Hin- und Herbesuchen bei Tee mit reichlich Rum, Pharisäer, opulenten weihnachtlichen Torten und Gebäck aber genügend Zeit, sich mit der fremden Frau im gelben Haus zu beschäftigen. Denn die ging mir einfach nicht aus dem Sinn.
„Sie kam irgendwann im Sommer an“, erzählte Sandra, eine Nachbarin. „Sie hatte einige Koffer dabei. Sie machte es sich gemütlich, saß abends oft vor dem Haus, ein Windlicht auf dem Tisch und ein Glas Rotwein.“
Kerstin konnte auch etwas beitragen: „Ganz früh morgens, oft schon um 5 Uhr, wanderte sie über die Insel und marschierte mitten durch die Dünen, obwohl das ja verboten ist. Aber sie hat nichts zertrampelt.“
Sven ergänzte: „Und sie grüßt immer sehr freundlich, wenn sie angesprochen wird.“
Auf die Frage: „Was macht sie hier?“ hatte aber niemand eine Antwort. Nur Klaas konnte berichten, dass sie oft nächtelang am Laptop saß, an einem kleinen Tisch direkt vor dem Fenster.
Es sollte jedoch noch lange dauern, bis ich endlich mehr über sie erfuhr. Denn noch vor Jahreswechsel war sie wieder von der Insel verschwunden.
An einem der ersten herrlich milden Frühlingstage brauchte ich dringend mal eine Auszeit. Die Ferienwohnungsvermietung lief auf Hochtouren, die Wohnungen mussten für die ersten Osterurlauber gerichtet werden. Die Zweitwohnungsbesitzer mailten mir lange Einkaufslisten. Mittags entschloss ich mich zu einem Spaziergang zur Strandhalle. Dort schrubbten sie schon seit Tagen, um die ersten Urlauber willkommen zu heißen. Karl, der Chef, hatte zwei Tage lang am Festland eingekauft und seine Vorräte in den Kühlhäusern aktualisiert. Ich wollte einen Kaffee trinken und dem auflaufenden Wasser zuschauen. Das beruhigt mich immer.
Also trottete ich los, immer dem altgewohnten Steinpfad entlang. Seit langem kannte ich jeden einzelnen Stein, der höher stand als andere und stets zum Stolpern verleitete. Mich aber schon lange nicht mehr. Aus den Dünen wehten mir herrliche Düfte entgegen. Glücklich war ich in diesem Augenblick und ließ meinen Blick über diese traumhafte Landschaft gleiten. Und dann sah ich sie. Sie saß mit angezogenen Knien in einer sonnenbeschienenen Dünenmulde, hatte Arme und Kopf auf die Knie gelegt. Es ging ihr nicht gut, schoss es mir durch den Kopf.
Es gibt genügend Schilder an den Wegesrändern, die darum bitten, die Dünen nicht zu betreten. Und das hat gute Gründe. Dennoch entschloss ich mich, zu dieser Frau zu gehen, die mich seit Monaten so neugierig machte. Also stapfte ich los und stand bald vor ihr. Sie hob sofort den Kopf, lächelte und grüßte: „Moin.“
Ich fühlte mich ertappt und versuchte es mit „Naturschutzpolizistin“:
„Moin. Sie wissen schon, dass die Dünen nicht betreten werden dürfen?“
Die fremde Frau musterte mich und brach dann in ein sehr herzliches schallendes Gelächter aus. Ich war völlig verdattert und setzte mich in den warmen Sand, genau ihr gegenüber. Sie war eine Frau in den Sechzigern, schlank und roch leicht nach Lavendel. Ihre Kleidung: Pluderhose, T-Shirt, einen Pullover hatte sie locker um die Schultern geknotet, leicht nachlässig.
„Was ist so komisch daran, dass wir hier auf der Insel unsere Umwelt schützen?“, fragte ich leicht eingeschnappt.
„Nichts“, antwortete sie ernsthaft. „Aber durch diese Dünen bin ich schon mit kleinen Kinderfüßen gelaufen, habe mir Dornen in die Füße getreten und nie im Leben so viel Freiheit gespürt wie hier.“
Dann begann sie wieder zu lachen, es war mehr ein vergnügtes Kichern.
„Erinnern Sie sich? Das Haus gegenüber von Jochens Dünenklause gehörte einst dem ehemaligen Bundespräsidenten Heinemann. Genau gegenüber in den Dünen stand immer ein Wohnwagen. Darin residierten die Leibwächter, wenn der Chef zu Hause war. Eines Abends wollten wir, eine kleine Clique übermütiger Jugendlicher, die ein wenig aufscheuchen. Die dachten nämlich, sie hätten Feierabend, spielten Skat und tranken Bier. Ihr Chef saß bei Jochen in der Kneipe. Wir warfen also kleine Kiesel gegen den Wagen. Es dauerte einige Momente, bis sie aufmerksam wurden. Dann aber stürmten sie los. Wir hatten uns inzwischen einige Meter entfernt, beobachteten den Aufstand voller Vergnügen. Die Verfolgungsjagd durch die Dünen endete 1:0 für uns. Wir kannten den Weg, die nicht.“
Die fremde Frau hatte sichtlichen Spaß an dieser Erinnerung, ich musste schmunzeln, denn inzwischen hatte ihr Gesichtsausdruck etwas sehr Junges, Verschmitztes.
„Dann führen Sie also Erinnerungen hierher zurück?“, fragte ich.
„Nein, ich brauche einen Ort, der mir lieb und vertraut ist, einen stillen Ort. Ich schreibe an einem Buch, und das hat verdammt viele Ecken und Kanten, mehr, als ich oft ertragen kann. Aber hier geht es mir gut. Zwischendurch muss ich ans Festland für meine Recherchen. Da bin ich aber nicht mehr gern. Zuviel Lärm, Hektik und Aggressivität.“
Sie machte mich neugierig. „Worum geht es denn in dem Buch?“
Ich war mir nicht sicher, ob sie antworten würde. Sie dachte aber nur einen Moment lang nach. Dann kam die Antwort:
„Um die Mutter eines fünffachen Frauenmörders.“
Dass mich dieser Satz in eine Welt entführen würde, die mir bis dahin unbekannt war, begriff ich erst später. Zunächst war da nur Neugier. Ich bohrte weiter:
„Und wo ist das Problem beim Schreiben?“
„Dass sie vor zwei Wochen gestorben ist. Wir waren noch nicht fertig mit unseren Gesprächen.“
Tränen standen ihr in den Augen und ich wusste nicht, ob sie um die Frau oder ihr Buch trauerte. Sie schien meine Gedanken erraten zu haben.
„Ich habe noch ehrlichen Journalismus gelernt, der auf Recherchen basiert. Wenn ich weiter über diese Frau schreiben will, muss ich raten. Das ist nicht redlich.“
Und dann begann sie über dieses Jahr zu berichten, in dem sie diese Frau immer wieder getroffen hatte, sich meistens keinen Reim aus ihr machen konnte. Was war ehrlich, was nicht? Von da an trafen wir uns häufiger, sie lud mich zum Tee oder abends auf ein Glas Wein ein, erzählte mir von der Frau, die auch nach fünf Morden bereit war, ihren Sohn zu verteidigen, ohne aber ihre eigene Beteiligung anzuerkennen oder auch nur in Betracht zu ziehen.
„Das Thema ist so vielschichtig“, sagte Pauline, der ich mich inzwischen verbunden fühlte. „Ich weiß nicht, ob ich dem gerecht werden kann.“
Ich konnte nicht viel beitragen zu ihren Erkenntnissen. Auf unserer Insel gab es keine Verbrechen.
Immerhin saß sie wieder am Laptop und schrieb. Eines Tages im September, wir saßen vor dem gelben Haus in der Sonne, legte sie einen dicken Papierstapel auf den Tisch. „Danke, Wiebke, ohne Dich hätte ich das nie geschafft“.
Ihr Manuskript war fertig.
„Gehst Du jetzt zurück in deine Zeitung?“, fragte ich.
„Nein“, war ihre schnelle und klare Antwort. „Artikel sind zu kurz für Zusammenhänge.“
„Was waren das für Briefe, die du Heiligabend in den Kasten geworfen hast?“
Die Frage brannte mir schon lange auf der Seele.
„Ordnung machen in meinem Leben – wie jetzt mit Wilma, der Mördermutter.“
Paulines Lächeln wirkte etwas wehmütig, aber nicht unzufrieden.
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