Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 20
Lilli Lutterbek erzählt:
Von Cornelia Leymann
„Tja, ihr Lieben“, sagte die alte Dame und zog das kleine Beistelltischchen ein wenig näher, „wo wir hier alle so nett coronös zusammensitzen, will ich euch die gar betrübliche Geschichte von Hänsel und Gretel erzählen.“ Sie legte die Füße auf den Beistelltisch, beäugte ihre Mit-Corona-Flüchtlinge vorsichtig, bemerkte deren missbilligenden Blicke und beschloss, sich lieber keine Zigarette anzustecken.
„Es war einmal“, begann sie und nahm statt der Zigarette einen ordentlichen Schluck Wein, „es war einmal zu einer Zeit, als die Wälder noch Wälder waren – dicht und finster und einsam – und als es den Menschen noch gefiel, Hexen zu verbrennen, da lebte nahe am Wald im letzten Häuschen des Dorfes die alte Grieschke.
Die Grieschke war vorsichtig, damit man ihr nicht draufkam, dass sie eine Hexe war. Sie hielt sich aufrecht ohne Hexenbuckel, hobelte ihre Nägel kurz und vermied es zu lächeln, damit niemand ihre schwarzen Zähne sah. Doch wer hätte die schon sehen sollen? Sie ging selten aus dem Haus. Alles, was sie brauchte, war im Garten reichlich vorhanden. Selbst das Mehl, das sie für ihre Kuchen brauchte, konnte sie aus den Halmen mahlen, die hinter dem Haus reiften. Nur um Zucker ging sie hin und wieder ins Dorf, denn zuckerlose Kuchen, wie sie Ökofrauen heute backen, um sich mit ungesüßten Kuchen selbst zu verwirklichen, waren damals noch nicht in Mode.
Immer gab die Grieschke Obacht. Sie zauberte nicht, murmelte keine Verschwörungsformeln und verließ das Haus nur ohne Katze auf der Schulter. Und natürlich sammelte sie keinesfalls im Wald Reisig, denn dann wäre der Scheiterhaufen nahezu vorprogrammiert gewesen.
Doch auch für alte Hexen ist eine Katze als einziger Gesprächspartner bisweilen etwas öde und so nahm das Unglück seinen Lauf.“
Die alte Dame leerte ihr Glas in einem Zug und hielt es dem Koch hin. „Wenn Sie vielleicht so freundlich wären … Alte Frauen vertrocknen so leicht.“ Der Koch sprang auf, murmelte ein Selbstverständlich, verkniff sich das Gnädige Frau und schenkte nach. Die alte Dame trocknete mit ihrem Schal die Füße, die auch ein paar Tropfen abbekommen hatten, und fuhr fort:
„In dem Dorf am anderen Ende des dichten, finsteren und einsamen Waldes lebte nämlich ein Besenbinder mit seiner Frau. Die hatten zwei Kinder, den kleinen Hänsel und die noch kleinere Gretel. Und der Herrgott war kurz davor, ihnen ein drittes Kind zu schenken. Nun waren Kinder damals so rechte Danaer-Geschenke und selten sonderlich willkommen. Denn man musste sie jahrelang füttern, ehe sie etwas einbrachten. Und wenn sie endlich tatsächlich etwas einbrachten, war das kümmerlich genug. Im Grunde ein Verlustgeschäft. Damit man sie nicht gleich wegwarf, sowie sie auf der Welt waren, hatten sich die Kinder einen Trick ausgedacht. Sie waren niedlich. Heute sind sie das auch noch, obwohl es eigentlich gar nicht mehr nötig wäre, denn unwillkommene Kinder gibt es kaum noch. Das merken die Kinder ja dann auch ziemlich bald und werden kleine Tyrannen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Damals, in der guten alten Zeit, war es jedenfalls noch nötig, niedlich zu sein, und Hänsel und Gretel beherrschten den Trick. Sie waren lieb und niedlich und natürlich zu absolut nichts nütze. Das war nicht gut, doch da sie so niedlich waren, hatte Papa sie gern und behielt sie, obwohl sie ihm die Haare vom Kopf fraßen. Da hatten Hänsel und Gretel wirklich Glück. Nicht so viel Glück hatten sie mit Mami, womit wir gleich bei einem weiteren Nachteil von damaligen Kindern waren. Es kam nämlich immer wieder vor, dass sie – lieb hin, niedlich her – die Mami umbrachten, wie es dann auch bei Lieschen der Fall war. Lieschen blieb einfach in Mami hocken, bis Mami schwarz wurde, weshalb das Märchen auch nicht Hänsel und Gretel und Lieschen heißt, sondern nur Hänsel und Gretel.
Ohne eine Mami im häuslichen Beritt hatte Papa Besenbinder natürlich Mühe, den Laden am Laufen zu halten, weshalb er seinen beiden Kindern eine neue Mami besorgte. Die Neue fand die Kinder naturgemäß nicht ganz so niedlich, sondern bemerkte eher die Nachteile: dauernd hungrig und zu nichts nütze, weshalb sie eines Tages zu ihrem neuen Gatten sprach: „Lieber Mann, du bist nur Besenbinder und was du heimbringst, reicht kaum für uns vier. Noch ein Kindlein können wir uns nicht leisten. Du wirst dich also nachts etwas zusammenreißen müssen.“
Wortlos hielt die alte Dame dem Koch wieder das Glas hin. Wortlos schenkte er erneut nach und ohne jeglichen Kommentar trocknete sich die alte Dame ein zweitel Mal die eingeplanschten Füße.
„Papa Besenbinder schaffte es eine gute Weile sich zusammenzureißen. Alle Hochachtung dafür, muss ich schon sagen. Denn mal ehrlich: Eine Neue in Haus und Bett kann Vorteile haben, die weit über das Fegen, Kochen, Staubwischen und Kinder Begöschern hinausgehen. Deshalb war irgendwann die Zeit des Zusammenreißens vorbei. Und damit war die Katastrophe da, denn Aktivitäten in dunkler Nacht können bei Lichte besehen dramatische Folgen haben.
„Lieber Mann“, sprach die neue Mami Besenbinder, „du bist nur Besenbinder und was du heimbringst, reicht nicht einmal für uns vier. Aber bald werden wir ein weiteres Kindlein haben. Dann reicht es überhaupt gar nicht mehr. Wir werden uns daher leider von Hänsel und Gretel trennen müssen.“
Hänsel und Gretel waren, wie wir wissen, niedlich, lieb und zu nichts nütze. Aber sie waren nicht schwerhörig. Und selbst wenn sie es gewesen wären: Die Wände damals im Hause Besenbinder waren noch dünner, als die Wände heutzutage, wo man es bekanntlich hört, wenn sich der Nachbar im Bett nur mal leise umdreht. Die Wände bei Besenbinders waren so dünn – die waren gar nicht da. Deshalb haben Hänsel und Gretel alles mit gekriegt und wenn ich sage alles, dann meine ich auch alles.
„Gretel“, sagte daraufhin Hänsel zu Gretel, „Papa hat sich nicht zusammengerissen, sondern die Stiefmami immer wieder durchgevögelt, sodass sie uns bald ein Brüderlein oder Schwesterlein bescheren wird. Dann sind wir zu viele. Lass uns also unser Ränzlein schnüren und in die weite Welt hinausgehen.“
Nun war die weite Welt damals noch viel weiter als heutzutage, wo die weite Welt globalisiert ist und auf einen Tennisball passt. Hänsel und Gretel gingen über Stock und Stein hinaus aus dem Dorf und durch den finsteren Wald, bis sie an ein Häuschen kamen. Es war das Häuschen von Grieschke, der Hexe, die nur ohne Katze auf der Schulter kerzengerade und ohne Lächeln ihren Zucker kauft.
„Kommt doch einen Augenblick herein“, sagte sie, als sie die müden Kinder sah, „ich habe Kuchen gebacken – mit Zucker.“ Das mit dem Zucker hätte sie gar nicht zu sagen brauchen, denn wenn man Hunger hat, schmeckt alles – auch ohne Zucker. Aber mit Zucker ist es natürlich leckerer. Allerdings sollte man trotzdem darauf achten, bei wem man Kuchen isst. Hexen kennen sich nämlich gut aus mit dem, was hinter ihrem Haus im Garten grünt und blüht.
Doch da die Grieschke ja nicht wissen konnte, dass ihr heute noch Besuch ins Haus schneien würde und was das für ein Besuch werden würde, war der Kuchen nicht mit einem Zaubertränklein getränkt und schmeckte den Kindern ausnehmend gut. „Wenn ihr wollt, könnt ihr über Nacht bleiben. Der Kuchen reicht noch bis morgen“, sagte sie. Das war ein Fehler. Kennst ihr sicher auch. Man sagt in aller Harmlosigkeit: bleibt doch über Nacht und eh man sich’s versieht, ist ein Jahr um und der Besuch ist immer noch zu Gast.
Aber das war nicht wirklich schlimm, denn mit Kindern ist das so: eines Tages fangen sie an, zu was nütze zu sein. Zumindest damals war das so. Heute ist das nicht mehr so. Heutzutage fallen Kinder ihren Eltern zur Last, bis sie sich selbst verwirklicht haben, was sich noch bis über Jahrzehnte nach der Geschlechtsreife hinausziehen kann. Aber damals, in der guten alten Zeit, wurden sie so mit acht bis zehn Jahren zu was nütze, hörten im Gegenzug aber auf, niedlich und lieb zu sein.
„Hör zu“, sprach der nicht mehr ganz so niedliche Hänsel zur Grieschke, „du bist nur eine alte Hexe und was bei dir im Garten hinter dem Haus wächst, reicht kaum für uns drei. Bald werde ich größer sein und fressen wie ein Scheunendrescher. Dann reicht es überhaupt nicht mehr. Wir werden uns also leider von dir trennen müssen.“
So sprach Hänsel. Da war guter Rat teuer. Doch die Grieschke besann sich auf ihre schon verschüttet geglaubten Hexenkünste. „Hänsel“, sagte sie, „du hast recht. Morgen werde ich mein Ränzlein schnüren. Aber heute will ich euch zum Abschied noch einen besonders leckeren Kuchen backen.“ Sie warf zwei dicke Scheite Holz in ihren großen Ofen, damit er mächtig Zunder gab, und buk darin einen Kuchen mit einer Extraportion Zucker, damit man ihr Zaubertränklein nicht rausschmeckte.“
Wieder hielt die alte Dame dem Koch das leere Glas hin. Während er nachschenkte, überschlug er kurz, wie lange die Weinvorräte bei solch unvermutet hohem Konsum durchhalten würden und beschloss, gleich morgen bei Fiete Nachschub zu ordern.
„Schade“, fuhr die alte Dame fort, „schade, dass das Rezept für den Zaubertrank in Vergessenheit geraten ist. Ich könnte mir vorstellen, dass manche Eltern einiges dafür geben würden. Denn durch diesen Trank wurden Hänsel und Gretel wieder so niedlich und lieb, wie zuvor. Und sie blieben es auch, weil sie ab jetzt jeden Tag zum Frühstück brav ihren leckeren Kakao tranken. Alle drei hätten von nun an glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage leben können, wenn der niedliche, liebe Hänsel nicht eines Tages gemerkt hätte, wie lieb und niedlich die kleine Gretel geworden war.
Eine gewisse Weile konnte er sich noch zusammenreißen, aber eines Tages oder besser gesagt eines Nachts ist es dann eben doch passiert und beide fanden Gefallen daran und machten es von nun an täglich – oder besser gesagt nächtlich. Mit den üblichen Folgen. Das wäre nun allerdings eigentlich kein Drama gewesen. In einem Hexengarten findet sich immer das eine oder andere Kräutlein, mit dem man den Schaden, den ein Mann angerichtet hat, wieder beheben kann. Aber man muss den Schaden natürlich erstmal bemerken.
Ich will nicht sagen, dass die alte Grieschke taub war, das nicht, doch schwerhörig genug, um von dem nächtlichen Geschmuse der niedlichen Kinder nichts mitzubekommen. Und weil sie nichts merkte, braute sie auch kein abtreibendes Tränklein.
„Meine liebe Gretel“, sagte sie zwar eines Tages, „ich habe den Eindruck, dass du immer fetter wirst. Lass mich mal deine Finger fühlen.“ Aber die niedliche Gretel hielt ihr statt des Fingers nur ein dürres Stöckchen zum Befummeln hin und da dachte die alte Grieschke, dass sie sich wohl getäuscht haben müsste.
Doch sie blinzelte weiterhin misstrauisch, wenn sie den beiden Kindern morgens ihren Kakao einschenkte, und Gretel musste immer öfter das Stöckchen hinhalten, bis endlich ihre Zeit gekommen war und das Kindlein aus ihr herausplumpste.
Da war es mit der Gemütlichkeit der alten Grieschke vorbei. „Seid ihr noch ganz dicht“, fauchte sie, während sie die Nachgeburt im Garten vergrub, „soll das jetzt ewig so weitergehen? Alle Jahre wieder? Hänsel frisst wie ein Scheunendrescher, Gretel wirft einen Bankert nach dem andern und was dann? Soviel gibt der Garten hinter dem Haus nun wirklich nicht her. Mehr als vier werden davon nicht satt. Ab jetzt werde ich zwischen euch im Bett liegen und damit basta.“
Dank ihres Morgenkakaos bleiben Hänsel und Gretel trotz der geänderten Schlafordnung weiterhin niedlich und lieb, aber so lieb kann ein Hänsel nicht bleiben, dass er eine Hexe im Bett zwischen sich und dem Objekt seiner Begierde endlos ertragen kann.
„Gretel“, flüsterte er eines Nachts über die schlafende Hexe zwischen ihnen beiden hinweg seiner Gretel zu, „es muss etwas geschehen, sonst schnüre ich mein Ränzel und gehe in die weite Welt hinaus.“ Lange wusste die niedliche, liebe Gretel nicht aus noch ein, doch dann legte sie endlich einen Scheit mehr ins Feuer und Hänsel und Gretel schoben die Grieschke in den Ofen hinein. So bekam die alte Hexe doch noch ihren Scheiterhaufen.
Ich muss zugeben: anfangs war nicht viel erreicht durch die Hexenverbrennung, denn nun lag Mäxchen zwischen Hänsel und Gretel und beanspruchte obendrein noch Hänsels Spielzeug für sich. Doch mit der Zeit konnte Hänsel seinen Platz zurück erobern und flugs war Gretel wieder guter Hoffnung, wie es so schön heißt.
So kam Lenchen auf die Welt und man war wieder zu viert, hatte also eine zu fütternde Masse erreicht, die der Garten gerade noch so hergab. Noch ein Kindlein durfte Gretel nicht dazwischen kommen. Sobald Lenchen als Bollwerk zwischen sich und Hänsel beiseite geräumt sein würde, musste eine Lösung her.
Als erstes entdeckte Gretel bei ihrem Gang durch den Hexengarten in einem entfernten Winkel ein Kräutlein, das Hänsel wieder lieb und niedlich machte. Das war wunderbar. Welche Frau wünscht sich nicht einen lieben niedlichen Mann. Als aber nach zwei Jahren Hänsel immer noch lieb und niedlich war und Lenchen weiterhin als Bollwerk zwischen den beiden lag und obendrein noch Unterstützung von Mäxchen bekommen hatte, der es überhaupt nicht einsah, dass Lenchen von den Eltern bekuschelt wurde und er leer ausging, da setzte Gretel das Tränklein für Hänsel kurzerhand wieder ab.
Der Erfolg war durchschlagend. Oft musste Mäxchen dem kleinen Lenchen mehrfach pro Nacht die Ohren zuhalten. Den Schaden, den Hänsel dabei anrichtete, konnte Gretel zwar immer wieder mithilfe eines Gegenkräutleins beheben, aber sowas ist ja kein Zustand. Außerdem wurde langsam das Kräutlein knapp. Und so geschah es eines Tages, dass wieder einmal ein Kindlein aus Gretel herausplumpste.
Anfangs ging das noch so hin, denn Tinchen war lieb und niedlich, aß den Eltern noch nicht die Haare vom Kopf und Papa Hänsel ertrug das Bollwerk Tinchen zwischen sich und Gretel. Doch als er es dann doch endlich weggeräumt bekam, sprach er zu seiner Gretel: „Liebe Gretel“, sprach er, „du bist trotz dreier Kinder immer noch einigermaßen schnuckelig und außerdem die einzige Frau weit und breit. Ich werde mich also nicht zusammenreißen können und wir werden bald weitere Kindlein haben. Für alle reicht unser Garten nicht aus. Wir werden uns daher leider von Mäxchen und Lenchen trennen müssen.“
Mäxchen war es gewöhnt, mit seinen Fingern die Ohren von Lenchen zu verstopfen, deshalb hörte Lenchen nicht, was der liebe Pappi sagte. Doch für sich selber hatte Mäxchen nicht genug zusätzliche Finger, so dass er die Worte des Vaters hörte.
„Lenchen“, sprach daraufhin Mäxchen zu Lenchen, „Papa wird sich nicht weiter zusammenreißen, sondern Mami immer wieder durchvögeln, so dass die Brüderlein und Schwesterlein nur so aus ihr herausplumpsen werden. Bald sind wir zu viele für das kleine Gärtlein. Lass uns also unser Ränzlein schnüren und in die weite Welt hinausgehen.“
„Ich müsste erst in den Keller gehen, um neuen Wein zu holen“, sagte der Koch, als die alte Dame ihm erneut das leere Glas hinhielt. „Reden Sie keinen Unsinn, lieber Koch“, sagte die alte Dame. „Warften haben keinen Keller.“ Missmutig knallte sie das Glas neben ihre Füße auf das Beistelltischschen und erzählte weiter.
„Am nächsten Morgen musste die arme Gretel sich die Augen aus dem Kopf weinen, als sie sah, dass das Bettchen von Mäxchen und Lenchen leer war. Der Haussegen hing daraufhin mindestens drei Wochen schief, so dass Hänsel schon langsam ungeduldig wurde, ob die Heulerei denn nun wohl nie mehr aufhören wollte. Doch endlich versiegten Gretels Tränen und die beiden konnten langsam wieder damit anfangen, die durch Hänsels und Gretels Abwesenheit entstandenen Lücken aufzufüllen.
Mäxchen und Lenchen waren derweil tiefer und tiefer in den finsteren Wald gegangen, und es war eine Zeit der furchtbarsten Entbehrungen, bis sie endlich auf der anderen Seite wieder herauskamen und an die Tür der Familie Besenbinder klopften.
„Kommt doch einen Augenblick herein“, sagte Mutter Besenbinder, als sie die völlig ausgehungerten Kinder sah, „wir haben genug zu essen für alle.“ Sowas hört man natürlich gern, auch wenn wir uns ein wenig wundern, wieso bei Besenbinders offensichtlich der Reichtum ausgebrochen ist, wo sie doch vor noch nicht mal fünfzehn Jahren derart am Hungertuch nagten, dass Hänsel und Gretel sich anderweitig durchbeißen mussten.
Aber das kam so: Im Schloss nebenan war eine Prinzessin eingezogen, die einen ausgesprochenen Putzfimmel hatte. Und wie das immer so ist, wenn die Herrschaft eine Macke hat: es überträgt sich auf die Untertanen, die nun ebenfalls mächtig auf Reinlichkeit hielt, so dass Papa Besenbinder einen schwunghaften Handel mit Kehr- und Putzutensilien aufmachen konnte. Er vertickte Bürsten und Besen en gros und konnte bald ein Familienunternehmen aufmachen. Sobald nämlich seine doch recht zahlreiche Nachkommenschaft jeweils die siebte Kerze auf der Geburtstagstorte ausblasen konnte, wurde sie in den elterlichen Betrieb eingephast und werkelte mit zierlichen Händchen ein Bürstchen nach dem anderen. Und da mit zunehmendem Alter selbst bei Papa Besenbinder der Schwung erlahmte und die Eigenproduktion an Mitarbeitern nachließ, war Mama Besenbinder natürlich froh, dass ihr mit dem Erscheinen von Mäxchen und Lenchen neue, wenn auch ungelernte Arbeiter ins Haus flatterten.
Mäxchen und Lenchen banden im Hause ihrer unerkannten Großeltern Bürstchen um Bürstchen und wenn sie nicht gestorben sind und wenn ihnen nicht Procter & Gamble eines Tages das Wasser abgräbt, dann leben sie noch heute.“
„Und was mich angeht“, sagte die alte Dame und schwang behände die Füße vom Beistelltischchen, „ich gehe jetzt ins Bett. Und wenn ich nicht gestorben bin, dann könnt ihr mich morgen so gegen neun wecken. Und die Frühstückseier bitte viereinhalb Minuten.“ Im Vorbeigehen leerte sie noch das Glas von Orje und wankte zur Tür.
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