Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 21
Lukas Scherzinger erzählt:
Von Kurt Geisler
Diese unglaubliche Geschichte, andere mögen sie vielleicht als modernes Märchen einstufen, begab sich zu der Zeit, als vor mehr als einem Jahrzehnt bedingt durch den Klimawandel die Temperaturen an Nord- und Ostsee plötzlich in die Höhe schossen. Unweit der Mündung der Elbe bildete sich durch starke Verdunstung und der damit verbundenen Senkung der Wasserspiegel eine immer größer werdende Sandbank, auf der sich zunächst lediglich Gräser ansiedelten. Erst als das sandige Eiland mehr als einen Quadratkilometer maß, wagten erste Erholungssuchende den Weg dorthin, um die Zusammenkunft von Flusslandschaft und Wattenmeer an der Nordsee mit dem Wechsel von Ebbe und Flut aus der Nähe zu bestaunen.
Die Tatsache des unerwarteten Entstehens dieser Sandbank auf neutralen, aber bisher nicht umstrittenen See- und Flussgrenzen zwischen Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Hamburg kam dem Landrat des Kreises Cuxhaven früh zu Ohren. Gemeinsam mit dem Geschäftsführer der örtlichen Tourismuszentrale machte er sich in einem Helgoländer Börteboot auf den Weg zur Sandbank, um diese besonders im Hinblick auf urlaubstechnische Aspekte gründlich aus nächster Nähe in Augenschein zu nehmen. Leider erfolglos, denn zu diesem tristen Eiland wäre eine zuverlässige, klimaneutrale Wasser- und Energieversorgung vom südlichen Ufer der Elbe aus kaum zu finanzieren.
Diese Tatsache ließ wiederum den Senat der Hansestadt Hamburg aufhorchen, angestachelt von der geschäftstüchtigen Hamburger Kaufmannschaft. Flugs begab sich eine Abordnung der Bürgerschaft auf den Halunder-Jet, um die Sandbank von dem Katamaran aus in Augenschein zu nehmen. Schließich war das die Gelegenheit, um die auszuhebenden 20 Millionen Kubikmeter Sediment für die Elbvertiefung unweit der unliebsamen Konkurrenz in Brunsbüttel nicht nur günstig zu entsorgen, sondern gleichzeitig das Eiland den eigenen Ansprüchen nach zu vergrößern. Schwierig erschien dem Senat lediglich die Namensgebung, denn eine Hamburger Hallig gab es schon.
Von diesen Aktivitäten erfuhr allerding frühzeitig der pfiffige Pinneberger Landrat, und so staunten die Hamburger Senatoren nicht schlecht, als sie beim Anlanden mehrere gelbe Ortseingangsschilder auf dem Eiland ausmachten, die in alle vier Himmelsrichtungen ausgerichtet waren. „Südfriesland, Kreis Pinneberg“.
Wütende Anrufe aus norddeutschen Anrainerländern ließ auf Anraten des Pinnebergers Landrats der schleswig-holsteinische Ministerpräsident glücklicherweise an sich abperlen. „Wieso? Die Hochseeinsel Helgoland gehört schließlich auch zum Landkreis Pinneberg. Das hat schon alles seine behördliche Richtigkeit.“
Da Petitionen des Hamburger Senats im Bundesrat und bei den Vereinten Nationen folgenlos blieben, beschlossen die Pinneberger, das Eiland endgültig für sich zu beanspruchen und zum Schutz mit einem hohen Deich zu umgeben. Der wirkte auf den ersten Blick zwar nicht sonderlich schön, aber immerhin sicherte er den Gebietsanspruch. Tapfer verteidigte der Landrat das Bollwerk:
„De nich will dieken, mutt wieken!”
So wurde ein umfänglicher Deichbau beschlossen. Allerdings wollte sich der erwünschte Tourismus nicht so recht einstellen, vermutlich auch wegen der eher unansehnlichen Betonmauer auf der recht hohen Deichkrone. So entschied der Pinneberger Kreistag, einen lichten 120 Meter hohen gläsernen Turm auf Südfriesland zu errichten. Gut, der war nun auch nicht gerade eine architektonische Bereicherung für die eher flache Marschlandschaft, aber von der hohen Warte aus erhielt man zumindest einen prächtigen Blick auf die Elbmündung.
Immerhin kehrte nun Ruhe in den Quengeleien der norddeutschen Bundesländer ein, nur aus Ostfriesland quoll immer noch Gejammer wegen der Namensgebung herüber: Südfriesland. Diesen Einwand ließ der Pinneberger Landrat aber nicht gelten, denn das Eiland befände sich weit südlich von Nordfriesland, abgetrennt durch die fast eigenständige Republik Dithmarschen. Zudem riet er, sich an die eigene Nase zu fassen. Schließlich läge Ostfriesland im Westen der Republik.
So gingen einige Jahre ins Land, aber ein echter Touristensturm auf die neue Insel wollte sich immer noch nicht einstellen. Eine Attraktion für die Urlauber musste her. Schweren Herzens rang man sich durch, einen pittoresken Kanal zwischen Festland und Südfriesland zu errichten. Stabil aus Beton errichtet, alles in lebensbejahendem Grau, hier und da ein Gebüsch zur Auflockerung. So ähnlich wie im großen Vorbild der Landeshauptstadt Kiel zwischen der oberen und unteren Holstenstraße. Klein-Venedig.
Die beauftragten Architekten verteidigten vehement die Gestaltung dieses nüchternen Betonbauwerks mit Hinweis auf die ähnlich gestaltete Deichmauer, schließlich gehe es um die Ensemblewirkung des Gesamtkunstwerks. Diese Stigmatisierung im Kontrast zur Natur würde zahlende Touristen schon anlocken.
Und tatsächlich, es dauerte nicht lange, da transportierten aus Venedig herangelockte singende Gondolieri Ströme von Touristen durch den künstlichen Wasserweg, auf dem sich zunehmend auch hippe Hamburger Surf-Up Paddler die Freizeit versüßten, und waghalsige Skater füllten die großzügig angelegten Betonflächen mit Leben. Der trendige Betreiber einer veganen Donut-Bude wagte zuerst den Sprung auf die Insel, aber kein Jahr später konnte man bereits vom Burger-King auf den McDonald schauen.
Noch war ausreichend Platz für alle Urlaubergruppen auf der Insel, aber dem pfiffigen Pinneberger Landrat war klar, dass schnell ein ausgeklügeltes Tourismuskonzept her musste. Kurzerhand griff er zum Telefon und rief den Laboer Bürgermeister an, der sofort eine Gemeindepartnerschaft vorschlug, zumal beide Orte ja hohe Türme aufwiesen und an der See lagen.
Wenige Jahre später einigte man sich sogar darauf, Südfriesland in Westlaboe umzutaufen, um die touristische Strahlkraft des Ostseebades an der Kieler Förde zu nutzen. Daraufhin erhielt der Laboer Bürgermeister einen wütenden Anruf vom Hamburger Ersten Bürgermeister, der sich lauthals beklagte.
„So geht das nicht! Dem Hamburger zum Ärger schuf Gott den Pinneberger.“
Der Laboer Bürgermeister zeigte keinerlei Verständnis für den Unmut. „Was soll so nicht gehen?“
Der Hamburger fand deutliche Worte. „Herr Kollege, es kann doch nicht angehen, dass die Gemeinde Laboe einen Ortsteil an der Kieler Förde und den anderen in der Elbmündung hat. An der Nordsee.“
Der Ingrimm erstaunte den Laboeer Amtskollegen. „Sie kennen vermutlich Laboe nicht. Wir haben hier an der Ostsee sogar die Ortsteile Oberdorf und Unterdorf, und schließlich ist Westlaboe mit uns per Segel- oder Motorbootboot direkt über das saubere Wasser von Nord- und Ostsee verbunden.“
Der Hamburger Amtskollege stöhnte laut auf, und so legte der Laboer Bürgermeister nun nach.
„Nur zu Ihrem Verständnis: Hamburg heißt in unterschiedlichen Stadtteilen ja auch nicht anders, nur weil die Hansestadt von Alster, Bille und Elbe durchtrennt ist. Nebenbei gesagt: Letztgenannter Fluss war bis zur Jahrtausendwende eine stinkende Kloake.“
Da dem Hamburger Amtskollege jetzt vollends die Sprache verschlagen war, beendete der Laboer Bürgermeister grußlos das Gespräch. Aber innerlich sehr zufrieden, sich Südfriesland einverleibt zu haben.
So konnten die Laboer an Ost- und Nordsee vergnüglich bis an ihr Ende leben. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
17. Dezember 2020 um 21:04
Klasse Grafik, Jörg Meyer. Vielen Dank!