Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 22
Neuton Lorenz erzählt:
Von Reimer Boy Eilers
Dicke Suppe lag über dem Hafen, bloß war niemand da zum Auslöffeln. Hermann wohnte oben an der Palmaille, mit Elbblick, was er sonst gern hervorhob, mit echt tollem Elbton, wie Toller heute sagte, als sie vor dem Haus parkten. Aus dem Bauch des Hafens, der auch sonntags die Leckerbissen aller Kontinente schluckte, tönten hungrig die Sirenen zu ihnen herauf, und vom Strom selbst, den sie auf dem Hang, dreißig Meter über dem Fahrwasser, nur ahnen konnten, erklangen die Schiffshörner mit ihrer blinden, ungeduldigen Warnung.
Hermann stach mit dem Finger voraus ins Nichts und sagte: „Da drüben, ein Stück weit den Fluss runter, in Buxtehude, wo die Hunde bekanntlich mit dem Schwanz bellen … – Kennst du den Wahlspruch, den sich die Buxtehuder vor achthundert Jahren ins Rathaus geschrieben haben?“
Toller schüttelte den Kopf und schaute auf Hermanns Finger, der leicht am ausgestreckten Arm zitterte, das einzige, was es zu sehen gab, während Hermann fortfuhr: „Und süht dat ut ok noch so slecht / dat löppt sik allens wedder trecht.“
„Läuft sich alles wieder zurecht“, nickte Toller. „Auch für die Entzückten und die Zornigen.“
„Du hast Stimmungen“, sagte Hermann. „Kein Wunder, ist wirklich ein Wetter wie im Spätfilm. Komm, wir gehen besser zum Fischmarkt und holen den Frühschoppen nach.“
Der weite Platz, wo jeden Sonntag in den kalten Stunden vor dem Gottesdienst überreife Bananen und der allwöchentliche Trödel der Hansestadt verramscht wurden, lag bereits nahezu verlassen. Sie hören nur die lauten Kunden der nächstgelegenen Kneipe und das gleichmäßige Dieselbrummen der Müllabfuhr, die nun, nach dem Abläuten des Marktes und dem Einläuten des Kirchgangs, den Abfall wegkehrte. Bevor sie die Kneipe erreichten, tauchte aus dem Nebel eine dünne Gestalt auf, mit einer Pelzmütze über dem roten Gesicht und einer Art Mantel angetan, dessen weite altmodische Rockschöße bei jedem Schritt wippten. Sie zog einen schmutzstarrenden Klumpen an einem Bindfaden hinter sich her, streifte die beiden jungen Männer mit einem gleichgültigen Blick und verschwand wieder im Grau.
„Zoll-Schuster führt seinen Fifi heute aber lange aus“, sagte Hermann.
„Solange der Faden hält“, sagte Toller, „hält Schuster jedes Wetter aus.“
Man kannte diesen Spaziergänger in der Hafengegend als Zoll-Schuster, nicht weil er im grünen Staatsdienst war, sondern weil er gelegentlich für Wochen oder Monate an den Stadtrand in die weiße Obhut der Ochsenzoller Anstalt verschwand. Bei Marktbeginn erbettelte er am Sonntagmorgen von den Buttpedder Fischern, die ihr Geschäft direkt vom Kutter aus machten, eine Scholle. Dann gab sich Schuster als Ovid vom Kiez, was die Kunst der Metamorphose betraf. Mit glücklichem Lächeln wog er seinen Hund auf der flachen Hand, wischte ihm zärtlich über den schleimigen Rücken, zog ihm einen Bindfaden durch die Kiemen und führte Fifi über das bucklige Pflaster, bis sich der Hund aus dem Staub machte. Dieses Wunder beseelte Zoll-Schuster und trug ihn durch die Woche: Wie der Hund mit dem Ende des Fischmarkts verschwand, um beim nächsten Mal pünktlich wieder aufzutauchen.
„Komm, mein Fifi“, sagte er ab und an und zog sachte an dem Bindfaden.
Einmal war ein Flaneur auf die Scholle getreten. Schuster erstarrte im Schritt, drehte sich schwerfällig um, schaute auf Fifis Reste und erwachte zu einem mörderischen Bellen. Nicht etwa weil er glaubte, dass er ein Hund sei, sondern stellvertretend für Fifi, weil niemand mit gebrochenem, zerfetztem Kiefer noch bellen konnte. Schuster hatte seit diesem Vorfall noch jedem, der ihm ein Bier oder eine Mark ließ, erklärt, warum kein Hund mit derart kaputtem Kiefer mehr bellen konnte, und niemand auf dem Markt hatte ihm widersprochen. Schuster hatte nach seinem Bellen auch den Mund aufgesperrt und dem Flaneur plötzlich einen Rachen gezeigt, er hätte zugebissen, wenn der Täter nicht Freunde gehabt hätte, die ihn beiseite zogen. Schuster stellvertretend für Fifi und mit doppelter Manneskraft, die ihm in solchen Augenblicken einer anderen, multiplen Metamorphose zuflog, wenn er wusste, dass er in Wahrheit Ralf-Rainer Schuster-Schmidt hieß.
Schuster gehöre, sagte Toller, indem sie die Kneipe betraten, zu den Entzückten in dieser Stadt.
Hermann strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn, was nicht bedeutete, das sie ihn sonderlich störte, er richtete sich automatisch her, wenn er durch eine Tür kam. Bei Tollers letzter Bemerkung legte er ihm die Hand auf den Arm.
„Robert, du bist noch bei den großen Worten.“
Der Schankraum war um diese Zeit, die vom vergessenen Beginn des Fischmarks an zu rechnen war, ein Schiff auf überlanger Irrfahrt, wenn für die Ausharrenden bereits alles egal schien. An der Theke standen die Männer in Dreierreihen, eingekocht vom Tabaksqualm und den süßlichen Schwaden des Grogs aus Rum, Rotwein und Arrak, die sich mit saurem Schweiß mischten. Unablässig rührten die Reihen den Brodem auf, schwankend und gestikulierend, schwatzend und grölend. Hermann und Toller verzogen sich an die Tische dicht unter dem Fenster, wo es etwas ruhiger zuging und wo auch die weiblichen Besucher ihre Begleiter hingebeten hatten. Sie nahmen eine Heiße Welle mit Arrak.
An der Schankwand hinter der Theke und weiter auf einem umlaufenden Bord an den Seitenwänden stimmten alle Souvenirs, die man billigerweise erwarten konnte, den Gast auf die Seefahrt ein. Buddelschiffe, die Messingglocke neben dem Leuchtturm mit roter Glühbirne, Fotos von Hans Albers und Graf Luckner, dem bärenstarken alten Seeteufel, einst Korsar des Kaisers und nach verlorenem Krieg Vortragsreisender, der ganze Telefonbücher zerreißen konnte, wenn er von den Vorträgen genug hatte. Beide Promi-Fotos gar signiert, was die billige Erwartung übertreffen musste.
Der ausgestopfte junge Katzenhai verfing sich hier in einem Netz, obwohl, wie Hermann jedes Mal anmerkte, das Tier sicherlich am Haken gefangen worden war. Er zeigte dann die Stärke eines Hai-Angelhakens, man konnte offenbar gleich einen Fleischerhaken nehmen. Mittschiffs am Tresen schlug eine Glasenuhr den Halbstundentakt imaginärer Schiffswachen. Es war, genau genommen, schon ein bisschen viel, was hier an maritimen Pieces zusammen kam. Jeder protzige Beiklang wurde aber durch die schmuddelige Patina gemildert, die alle Tapeten und Schaustücke gleichmäßig überzog, ein Kondensat aus unzähligen Pfeifen und Zigaretten, das die Raucherlungen nicht rechtzeitig aus der Luft gefiltert hatten. Irgendwie war hier demnach alles ziemlich am Ende und egal braun. Das gab dem Gast eine beruhigende Versicherung über die Höhe der Getränkepreise, die man in neu gestylten Kneipen, wo der Cocktail den Grog ersetzt hatte, so oft vermisste.
„Lass gut sein, Robert“, sagte Hermann, weil Toller über seinem Arrak immer noch schwieg. „Was man nicht ändern kann, das muss man auch mal vergessen können.“
Toller verrückte das Glas, wischte sich über den Mund und fixierte Hermann mit seinem Strafblick für Liberale. „Falsch, was man nicht vergessen kann, das muss man ändern!“
Manchmal hatte Hermann bei diesem Blick eine dünne Haut. „Was tust du denn? Zum Friedhof zu fahren und die Gräber alter Männer zu besuchen ist wohl kaum ein umwälzender Akt. Ich schlage vor …“ Hier unterbrach er sich, denn er merkte, dass er eben im Begriff gewesen war, die Diskussion anzuzetteln, die er vermeiden wollte. „Nein, werde ich nicht …“, sagte er mit krauser Stirn.
„Hast du auch wieder Recht“, nickte sein Gegenüber.
Es war nicht ganz eindeutig, worin Hermann nun Recht haben sollte, mit einer Kritik oder mit der Rücknahme. Doch vielleicht war das auf dem Fischmarkt auch nicht so wichtig. Rasch versöhnt schob er das Glas gegen Tollers Arrak, es klang als ob sie angestoßen hätten, und er meinte: „Weißt du noch, deine erste Hafenrundfahrt? Fällt mir eben in diesem hochprozentigen Museum wieder ein.“
Er hatte sich gehögt, was man südlich der Elbe so ungefähr welsch mit amüsieren übersetzen konnte, wie der Neuhamburger Toller da in den Schleusen das Steigen oder Fallen des Pegels beobachtet hatte, ohne den Blick einmal abzuwenden, bis sich die Tore wieder öffneten und der Kapitän ihres weißen Freizeitdampfers über Mikrofon Afrika-Linien sagte oder Trockendock oder Container-Terminal, wozu Toller jedes Mal pflichtschuldig seine Brille die Nase hochschob und lugte. Was Duckdalben waren, hatte er natürlich nicht gewusst, geschweige denn (wie Hermann ihm gönnerhaft erklärte), dass ihr Erfinder der spanische Duc d’Alba gewesen sei, den man ja von Schiller her kenne und der seine Besatzungsflotte in den Häfen der Niederlande lieber an starken Pfählen weit draußen auf dem Wasser vertäuen ließ, damit die rebellischen Subjekte der spanischen Krone seine Kriegsschiffe nicht an den Kais beschädigen konnten …
Ob es nicht damals ein Tag mit hervorragender Sicht gewesen sei, suchte Hermann in der Kneipe am Fischmarkt Bestätigung. Perfekt für eine Rundfahrt.
Korrekt, schlug Toller ein, super Stimmung, Bombensicht. Aus Süden habe die Skyline der Müllkippe von Georgswerder zum Hafen herüber gegrüßt. Er habe sie damals noch für die Harburger Berge gehalten.
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