Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 23

Annemieke Achterndiek erzählt:

Von Renate Folkers

Dieser Text verdankt seine Entstehung der Tatsache, dass ich dem Dichter anlässlich meiner Recherche über sein Leben, Wirken und seine Werke sehr nah gekommen bin. Es entstand eine Vertrautheit, die von meiner Seite als einzigartig und besonders empfunden wurde. Sie führte dazu, dass der Dichter und ich uns für den 13. August zu einem Spaziergang durch die kleinen Gassen und Straßen von Husum verabredeten. Wir schreiben das Jahr 1844.

Im Februar dieses Jahres hat sich Storm mit seiner Cousine Constanze Esmarch verlobt. In Husum erzählt man sich, dass die beiden bereits vorher heimlich verlobt gewesen seien. Als sich Constanze aber bei einem öffentlichen Ball überraschend auf Storms Schoß setzt, fliegt die heimliche Verlobung auf und wird offiziell.

Doch nun zu unserem Spaziergang:
Als Startpunkt haben wir die Einmündung des Mönkeweges in das Osterende vereinbart. Pünktlich treffe ich bei hochsommerlichem Wetter an der verabredeten Stelle ein, entdecke den Dichter vor einem Haus auf einer Bank sitzend. Auf seinen Knien ein Notizbuch, in das er etwas hineinzuschreiben scheint. In Gedanken versunken bemerkt er mich nicht.

Eine respektable Erscheinung, der Herr Advokat. Bekleidet ist er mit heller Hose im Streifenmuster. Das weiße Hemd unter dem dunkelgrauen Gehrock wirkt edel. Über dem Hemdkragen trägt er eine schwarze Fliege. Ein heller Sommerhut bedeckt sein Haupt, und der Spazierstock hat an der Rückenlehne der Bank einen Platz gefunden.

Entzückt genieße ich eine Weile diesen Anblick. Ein Insekt, das den Dichter attackiert, lässt ihn aufblicken, wobei er meiner gewahr wird.

Er verstaut die Schreibutensilien in der Innentasche seines Gehrocks und erhebt sich. Ich sehe Freude in seiner Mimik. Wir gehen aufeinander zu. In seine Hand, die er mir darbietet, lege ich meine. Ohne Hast führt er sie zum Mund und haucht einen Kuss auf meinen Handrücken. Lächelnd schaut er mich an. Der Blick seiner wasserblauen Augen beschert mir auf der Stelle weiche Knie. Er ist mehr als eine Wertschätzung.

„Ich bin hoch erfreut, dass Ihr mit mir die Stadt zu erkunden gekommen seid, Emma“, begrüßt er mich. „Dieses wunderschöne Fleckchen Erde dürfen wir unsere Heimat nennen. Fürwahr eine Perle. Wollen wir?“ „Sehr gern, es ist mir eine Ehre“, erwidere ich. Immer noch irritiert von dem charmanten Begrüßungsritual schenke ihm ein freundliches Kopfnicken.

In meinem karierten Leinenkleid in taubenblau mit zarten grauen Linien in Längs- und Querrichtung fühle ich mich gut und angemessen gekleidet. Zwei Unterröcke geben meinem langen Kleiderrock ein gutes Volumen. Die Taille ist durch einen miederähnlichen breiten Gürtel schlank geschnürt. Der gerüschte Stehkragen bedeckt meinen Hals, und die zum Bauernzopf geflochtenen Haare, dessen Ende ich als Schnecke über dem rechten Ohr festgesteckt habe, zieren meinen Kopf. Den Sonnenschirm aus cremefarbenem Spitzenstoff trage ich zusammengefaltet in der Hand.

Wir gehen gemächlich unter den mächtigen Linden, deren Blätter reichlich Schatten spenden, Richtung Westen. Hier und da schmücken üppig blühende Rosenstöcke Häuserwände. Der seichte Wind schwängert die Luft mit dem betörenden Duft ihrer Blüten, der die Sinne anregt und die Seele weit werden lässt. Von der Üppigkeit der Natur und der Gegenwart des jungen Mannes an meiner Seite berauscht, schlendere ich neben ihm das Osterende hinunter.

Ich kann es kaum erwarten, dass der Dichter von seiner Studentenzeit berichtet. Schließlich ist er einige Jahre aus unserem kleinen Husum herausgekommen. Ich als Frau aus einfachen Verhältnissen habe doch so gar keinen Zugang zu Dingen wie höhere Schulbildung oder gar Studium. Da er aber von sich aus keine Anstalten macht sich hierüber auszulassen, bekunde ich mein Interesse. Storm scheint darüber erfreut und beginnt zu erzählen von der Husumer Gelehrtenschule, die er als Primaner besuchte, von dem Wechsel auf das Katharineum in Lübeck und später, mit dem Abitur in der Tasche zur Christian-Albrecht-Universität Kiel. Ich lausche voller Bewunderung seinen Ausführungen, erfahre von der Freundschaft mit Ferdinand Röse sowie von höchstem kulturellem Genuss während einer vierwöchigen Bildungsreise mit Freunden nach Dresden. Diese sei sehr großartig und befruchtend gewesen.

Voller Begeisterung berichtet der Dichter von der engen Freundschaft zu den Brüdern Theodor und Tycho Mommsen. Vor einem Jahr hätten sie gemeinsam das „Liederbuch dreier Freunde“ herausgebracht. Er selbst habe mehr als 40 Gedichte zu diesem Werk beigetragen. Lyrisches, Provokantes sowie Nachdenkliches.

In seiner Stimme schwingt ein gewisser Stolz, als er die Publikation erwähnt. Sein Brustkorb scheint an Weite zugenommen zu haben, stelle ich fest, als ich bewundernd meinen Blick zu ihm hinwende. Sein Sparzierstock macht einen Schlenker durch die Luft, ohne dabei den Boden zu berühren. Ein Ausdruck ungezügelten Übermutes, Freude oder beides? In diesem Moment hat sein Gesichtsausdruck etwas Jungenhaftes. Ich bin entzückt.

Es sei ihm eine Ehre, mir ein Exemplar zum Geschenke machen zu dürfen lässt er mich wissen.

Errötend tue ich meine Freude kund und schenke ihm ein verlegenes Lächeln, wobei mein Blick auf seinen markanten, gepflegten Schnauzbart fällt und mich für den Bruchteil einer Sekunde vom Thema ablenkt. Dennoch gelingt es mir, ihm meine Bewunderung über die Vielzahl seiner Beiträge in dem Liederbuch der drei Freunde kund zu tun. Im Alter von erst sechsundzwanzig Jahren sei das fürwahr eine grandiose Leistung, bemerke ich.

Wir sind am unteren Ende der Straße angekommen. Auf der gegenüberliegenden Seite prangt ein beachtenswertes Gebäude mit einer großen runden Toreinfahrt in der Mitte und Staffelgiebeln auf beiden Seiten.

Just als wir die Straße überqueren wollen, kreuzt ein Pferdegespann unseren Weg. Der Mann auf dem Kutschbock lüftet seinen Hut und schenkt meinem Begleiter ein Kopfnicken, welches der Herr Advokat mit selbiger Geste erwidert. In dem Moment des Vorüberfahrens weht ein laues Lüftchen den warmen Geruch nach Pferd in meine Nase. Die Geräusche des Hufschlags des Tieres und das Knirschen der Räder des Gefährts entfernen sich. Ich bade in dieser Nostalgie, die meine Sinne betört. Fasziniert schaue ich dem Gespann hinterher und bin für den Bruchteil einer Sekunde versucht, meinen linken Arm in den rechten meines Begleiters zu schieben, was aber durch eine Unachtsamkeit beim Überqueren der Straße verhindert wird. Ich stolpere, verliere für kurze Zeit das Gleichgewicht und spüre im selben Augenblick den festen Griff des Mannes an meinem Arm und seinen warmen Atem in meinem Gesicht. Dann wieder dieser Blick aus seinen wasserblauen Augen. Das Kribbeln im Bauch gibt mir Gewissheit, dass ich mich in den charmanten Mann an meiner Seite total verliebt habe. Von der ganzen Szenerie wie gelähmt und verunsichert, stammele ich eine Entschuldigung und bedanke ich mich. „Es war mir ein Vergnügen, Emma, Ihr hättet Euch etwas brechen können“, höre ich ihn sagen. Kleine Lachfältchen zeichnen sich um seine Augen herum ab. Ich habe Mühe meine Fassung zurück zu gewinnen.

Wir sind auf der anderen Straßenseite vor dem Haus mit der Nummer 18, dem Gasthaus zum Ritter St. Jürgen, angekommen. Der Advokat erläutert die geschichtliche Bedeutung dieses ehrwürdigen Gebäudes, das im 15. Jahrhundert als Hospital, 1528 als Armen- und Altenstift diente und später ein Kloster war. Fasziniert lausche ich seinem Vortrag. Selbst die vielen Jahreszahlen klingen aus diesem Dichtermund wie Musik.

Was Storm heute, am 13. August 1844 selber noch nicht weiß, ist, dass er dreiundzwanzig Jahre später, also 1867 eine Novelle mit dem Titel „In St. Jürgen“ schreiben wird. Ein Werk, dessen Schauplatz genau dieser wundervolle Ort sein wird.

Ich möchte eine kurze Passage aus jener in ferner Zukunft entstehenden Novelle, rezitieren:
„Es ist nur ein schmuckloses Städtchen, meine Vaterstadt; sie liegt in einer baumlosen Küstenebene, und ihre Häuser sind alt und finster. Dennoch habe ich sie immer für einen angenehmen Ort gehalten, und zwei den Menschen heilige Vögel scheinen diese Meinung zu teilen. Bei hoher Sommerluft schweben fortwährend Störche über der Stadt, die ihre Nester unten auf den Dächern haben; und wenn im April die ersten Lüfte aus dem Süden wehen, so bringen sie gewiss die Schwalben mit, und ein Nachbar sagt’s dem andern, dass sie gekommen sind. –
So ist es eben jetzt. Unter meinem Fenster im Garten blühen die ersten Veilchen, und drüben auf der Planke sitzt auch schon die Schwalbe und zwitschert ihr altes Lied:
Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm;
und je länger sie singt, je mehr gedenke ich einer längst Verstorbenen, der ich für manche gute Stunde meiner Jugend zu danken habe.“
– Zitatende.

Alle diese Textbilder klingen wie eine Liebeserklärung an die Natur, an die Heimat und an Menschen.
Sie sind eine perfekte Überleitung für die Beschreibung des Grabmals, vor dem wir nun angekommen sind. Es liegt direkt neben dem zuvor beschriebenen Gasthaus zum Ritter St. Jürgen und ist die letzte Ruhestätte der Familien Woldsen und Storm. Der kleine Friedhof trägt den Namen St.-Jürgen-Friedhof. Ich blicke auf das mächtige, kantige Grabmal aus grauen Granitplatten, die dem Ganzen etwas Schroffes, Düsteres verleihen. Wie viel schöner wäre es gewesen, hier auf eine schmucke, liebevoll mit Blumen geschmückte letzte Ruhestätte schauen zu können.

Das Grabmal ist umgeben von alten ehrwürdigen Linden, deren gewaltige Kronen sich wie ein Dach darüber erheben. Sie werfen große Schatten, die trotz hochsommerlichen Wetters Schwere, Beklommenheit und Finsternis suggerieren.

Plötzlich fährt ein heftiger Wind durch die Blätter des am Fuße der Gedenkstätte stehenden Baumes, was mit einem unheimlichen Rauschen einhergeht. Ein Schatten schwebt aus dem wogenden Grün hernieder, verschwindet im selben Moment und tritt gleich darauf als gespenstische Erscheinung hinter dem Baumstamm hervor. Ich traue meinen Augen nicht. Ich glaube die Umrisse einer Frau zu erkennen und erstarre.

„Constanze?!“, entfährt es meinem Begleiter.
„Du scheinst in amüsanter Gesellschaft und hast darüber unsere Verabredung vergessen“, höre ich die Worte mit einem unheimlichen Nachhall zu mir herüberschwappen. Verdutzt wende ich mich in Storms Richtung. Er ist nicht da, und auch die unheimliche Erscheinung ist, als meine Augen nach ihr suchen, verschwunden.

In der Krone des Baumes ist es still geworden, kein Lüftchen regt sich. Ich will nach meinem Begleiter rufen, bringe aber keinen Ton hervor. Mein Mund scheint ausgetrocknet, die Stimme versagt. Irritiert und voller Unbehagen drehe ich mich um mich selbst und wache aufrecht in meinem Bett sitzend auf.

Was für ein Traum …


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