Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 26
Rieke Ingwersen erzählt:
Von Annette Amrhein
Dass Riekes Stuhl so klein war, gefiel ihr eigentlich. So konnte sie sich besser konzentrieren als im breiten, bequemen Sessel. „Ich habe einmal eine unglaubliche Geschichte gehört, als ich in Ostholstein ein Interview machen sollte. Ich versuche, wortgetreu wiederzugeben, was ich damals geschrieben habe“:
Vor einigen Jahren war die Gleichstellung zwischen Mann und Frau erreicht, und so nahm sich die Politik die Gleichstellung von Mensch und Tier vor. Benachteiligt waren die Tiere vorrangig durch ihre geringere Intelligenz. Mit ein bisschen Grips würde man ja abhauen, anstatt sich schlachten zu lassen, hieß es. Wie wir alle wissen, wurde darum versuchsweise Hühnern menschliches Erbgut eingepflanzt, das sie intelligenter machte. Auf den vorhergehenden Streit mit Gegnern der Gentechnik wollen wir hier nicht eingehen, sondern sehen, wie es den Versuchstieren ergangen ist. Darum besuchten wir Herrn Erwin Rübenstrunk auf seinem Hof in Ostholstein, wo er die ersten dieser Tiere im Land hält. Er muss ihnen nun am Tag vor der Schlachtung eine Gefahrenansprache halten. Wir fragten den Landwirt: „Herr Rübenstrunk: Sind die Tiere seitdem so schlau, und machen sich in der Nacht vorm Exitus vom Acker?“
Herr Rübenstrunk antwortete: „Nein, gar nicht. Dabei müssen wir sie am Vortag allesamt auf die Wiese bringen, um ihnen eine Chance zum Abhauen zu geben. Wir sagen ihnen dann deutlich, dass sie am nächsten Tag fällig sind. Aber die verstehen mich ja gar nicht. Also die hauen nicht ab.“
Auf das sprachliche Verständnis hat sich die Genveränderung also in keiner Weise ausgewirkt, was nicht verwundert, denn eine Sprache versteht man ja erst durch Unterricht, Übung und Austausch, vor allem aber, indem man selbst spricht – wofür ein Schnabel vermutlich nicht die richtigen Voraussetzungen mitbringt. Aber sonst hat sich das Intelligenz-Gen schon ausgewirkt. Wie Herr Rübenstrunk berichtete, arbeiten die Tiere jetzt richtig mit. Sie beobachteten, wie der Futterspender per Bewegungsmelder aktiviert wird und probierten das sofort aus. Seitdem machen sie es regelmäßig selbst. Mit der Tränke genauso. Herr Rübenstrunk muss nun nicht mehr so früh aufstehen. Da hat sich wohl durch das Gen nicht das Leben der Hühner, sondern das des Landwirts verbessert. Das überrascht nicht, sind Menschen doch auch häufig bei ihrer eigenen Versklavung eifrig mit dabei. Herr Rübenstrunk wirkte aber trotzdem nicht so begeistert vom „Huhn 2.0“, wie diese Züchtung heißt. Warum, beantwortete er nicht, sondern ging einfach weg. Seine Frau bat um Verständnis. „Es ist ihm peinlich“, sagte sie. „Eine von den dummen, pardon, klugen Hennen hatte sich in ihn verliebt. Wenn man ihnen Gene von Menschen einsetzt, kann das schon mal passieren …“
Wie Frau Rübenstrunk uns mitteilte, verfolgte die Henne ihren Mann regelrecht. Außerdem drang sie ins Haus ein, öffnete irgendwie den Lippenstift von Frau Rübenstrunk und hackte hinein. Mit rostrot gefärbtem Schnabel sprang sie dann dem Landwirt ins Bett. Außerdem griff die verliebte Henne Frau Rübenstrunk an und stellte ihr Fallen. Sie kratzte Löcher in den Boden, bedeckte sie mit Reisig und gackerte freudig, als ihre Nebenbuhlerin hineintrat, sich den Knöchel verstauchte und nur noch hinkend ihrem Tagwerk nachgehen konnte. Wie war die Henne überhaupt auf so etwas gekommen? Sie hatte vom Fensterbrett ins Haus geschaut, einen Fernsehbeitrag über Fallensteller mitverfolgt und dann eine ähnliche Falle gebaut. Daran kann man sehen, dass das Huhn 2.0 in der Lage ist, Gesehenes einzuordnen, nachzuahmen und dabei planvoll vorzugehen. Frau Rübenstrunk sagte, dass sie die Henne am liebsten geschlachtet hätte, aber ihr Mann brachte es nicht übers Herz, eine Dame zu töten, die in ihn verliebt war, und sei es auch nur ein Huhn. „Das spricht ja auch für ihn“, sagte Frau Rübenstrunk und wirkte dabei erleichtert. Die Henne wurde daraufhin auf einen Nachbarhof gebracht. „Hat sie sich dort auch sofort in den Landwirt verliebt?“, fragten wir.
„Nein, sie verliebte sich in den neuen Vollernter, eine Kartoffelrodemaschine“, antwortete Frau Rübenstrunk. „Der Saturnius 8000 ist das modernste und beste überhaupt. Und als das Huhn den Ernter sah, war es hin und weg und verfolgte ihn seitdem, wohin er auch fuhr.“
Auf unseren Einwurf, dass die Verliebtheiten der Henne dann wohl nichts mit dem eingesetzten menschlichen Erbgut zu tun hatten, widersprach Frau Rübenstrunk. Sie sagte: „Ich kenne viele Menschen, die sich in Fahrzeuge verlieben. Das ist eine urmenschliche Eigenschaft. Ich kannte mal jemanden, der ein Motorrad liebte.“
„Wie sind Sie denn insgesamt mit den neuen gen-veränderten Hühnern zufrieden? Werden Sie sie weiterhin züchten?“, fragten wir schließlich.
„Auf gar keinen Fall!“, antwortete Frau Rübenstrunk. „Was, wenn sich wieder eins in ihn verliebt? Wer glaubt ihm, dass er das Huhn nicht ermuntert hat? Einem Mann glaubt das ja keiner. Außerdem morden Menschen auch. Wer weiß, was die Hühner noch für Eigenschaften geerbt haben. Das ist uns unheimlich.“ Sie schwieg einen Moment, dann senkte sie die Stimme: „Außerdem ist etwas Furchtbares geschehen.“
Sie atmete schwer, dann brach es aus ihr hervor: „Das Huhn ist tot! Zerdrückt vom Saturnius, als es ihm zu nahe gekommen ist. Mein Mann gibt sich die Schuld daran. Er ist ganz verstört. Nachts weint er. Und sagt, er will jetzt gar keine Hühner mehr züchten, nur noch Rüben.“
Wir wünschen ihm dafür viel Glück.
Schreibe einen Kommentar