Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 28
Enrico Scottini erzählt:
Von Henning Schöttke
Falk, mein Nachbar, schreibt seine Doktorarbeit über Clap-Art. Klatschkunst – habt ihr vielleicht schon mal gehört – das wird das ganz neue angesagte Ding.
Das hat in Amerika seinen Ursprung. Ich hab auch erst gedacht, von da kommt ständig ein neuer Hype, heute dies und morgen das. Aber das ist echt was Besonderes. Das ist jetzt schon das ganz heiße Ding in Südkorea und überhaupt in Asien. Dazu rasten die Musiker total aus.
Klatschkunst – klingt irgendwie albern, das versteh ich. Falk hat mich gebeten, seine Doktorarbeit Korrektur zu lesen; daher weiß ich überhaupt davon.
Er musste für seine Doktorarbeit natürlich auch mal selbst live bei einem Clap-Art- … Konzert heißt das ja nicht … bei einer Clap-Art-Performance dabei gewesen sein. Darum war er vor einigen Wochen in London. Bei Sarah Goldman. In Europa ist Clap-Art noch nicht besonders verbreitet. Es gibt noch viel zu wenige gute Clap-Artists.
Mein Nachbar wusste natürlich, dass er da nur reinkommt, wenn er ein Instrument dabei hat. Und es muss auch jeder Besucher am Eingang kurz beweisen, dass er das Instrument wenigstens ein kleines bisschen spielen kann. Er hat sich dann in die irre lange Schlange eingereiht. Die Leute kommen schon bis zu vier Stunden vor der … Performance. Und alle mit Instrumenten: Schlagzeug, Dudelsack, manche lassen sogar einen Flügel transportieren.
Ich wusste gar nicht, dass Falk ein Instrument kann. Maultrommel – und nicht besonders gut, aber für die Performance hat’s gereicht. Er ist jedenfalls reingekommen.
Stellt euch mal einen Garten vor. Der Laie sieht da Bäume und Blumen – und hört hier mal einen Vogel zwitschern und sieht da mal einen Wurm kriechen. Doch in Wirklichkeit ist das alles ein riesiges, wunderbares Zusammenspiel. Aber nur wer sich damit auskennt, kann das auch empfinden. Und genau das ermöglicht ein guter Clap-Artist den vor ihm spielenden Musikern: Zu fühlen, wie gut das alles zusammenpasst.
Diese Kunst des Klatschens ist in Detroit entstanden, in Baltimore und parallel dazu in kleinen Clubs in London. Um die Jahrtausendwende haben sich diese Orte zu einem Geheimtipp entwickelt. Da wollten die Bands unbedingt auftreten, weil das Publikum so ungewöhnlich toll war.
Die besondere Begeisterung des Publikums dort hat die Musiker inspriert. Aber nach und nach stellte sich heraus, dass es sich gar nicht um das ganze Publikum in diesen Städten handelte, sondern nur um bestimmte Gruppen von Hardcore-Fans. Und um diese Fans begannen sich die Bands immer mehr zu reißen. Vor allem, wenn sie neue Platten am Start hatten, wollten selbst die Weltstars unbedingt vor diesen Fangruppen spielen. Um ihre neuen Platten zu testen.
Ich muss zugeben, dass ich erst auch skeptisch war. Sehr, sehr skeptisch sogar. Vor einem Monat – als es so heiß war, alle hatten die Fenster auf – da hab ich übrigens aus einer Wohnung auf der anderen Straßenseite irgendwie Händklatschen gehört, und jemand spielte dazu ziemlich schlecht Gitarre. Da meinte Falk, das hat wahrscheinlich auch was mit Clap-Art zu tun. Ein paar Clapper gibt es schon auf YouTube. Dafür hat er in seiner Arbeit auch ein Kapitel vorgesehen.
Nur ganz wenige Menschen, hat Falk mir erklärt, besitzen eine solche Empathie und Begeisterungsfähigkeit, dass sie damit andere so anstecken können, dass einfach alles um sie herum supertoll wirkt. Aber solche Menschen wussten lange Zeit selbst nicht, was für eine besondere Fähigkeit sie haben. Stellt euch eine Frau mit der Stimme der Opernsängerin Maria Callas vor. Vor zwanzigtausend Jahren. Diese Frau singt manchmal abends am Lagerfeuer vor ihrem halbnackten Stamm. Die hätte doch auch nie gewusst, was für ein Genie sie ist.
Die Unterhaltungsindustrie will jetzt natürlich auf diesen Zug mit aufspringen. Aufstrebende Clapper verpflichten und so weiter. Man kann sagen, die Unterhaltungsbranche ist davon völlig kalt erwischt worden. Die wissen gar nicht, wie sie darauf reagieren sollen. Sie machen Lobbyarbeit bei den Kultusministern, weil sie gerne hätten, dass es für Clap-Art Studiengänge gibt. Aber die richtig guten Clap-Artisten kann man noch an zwei, vielleicht drei Händen abzählen. Weltweit. Und es gibt nur eine … Band heißt das ja auch nicht … Clap-Group. Auf der Welt.
Es stellte sich irgendwann heraus, dass es in so einer Fangruppe nur einen – in seltenen Fällen zwei – Clapper gab, die alle anderen Fans mitgerissen haben. Die erste Clap-Artistin, die das richtig kommerzialisiert hat, ist Sarah Goldman, die in London aufgetreten ist – ein ganz einfaches Mädchen aus Denver.
Die hatte einen Nachbarn, der in der Unterhaltungsbranche ist. Als der zufällig hörte, wie Sarah mit ihrer Begeisterung andere anstecken kann, egal ob sie der örtlichen Feuerwehrkapelle zuhören oder einem Rapper, hat er verschiedene Proben mit ihr gemacht. Und bald zeigte sich, dass alle Musiker, die vor ihr auftraten, wie beflügelt waren. Sarah Goldman war dann auch die erste Clap-Artistin, die auf eine Tournee gegangen ist. Dabei hat sie immerhin bei Auftritten für mehr als zehntausend Musiker gejubelt. Von dem Auftritt in London, bei dem Falk war, gibt es ein echt sehr cooles Video auf YouTube. Das glaubt ihr nicht: Dieses kleine Persönchen steht auf einer riesigen Bühne und klatscht zur Musik.
Die Musiker stehen dann natürlich nicht mit der Clap-Artistin Sarah Goldman zusammen auf der Bühne. Nein, die stehen unten. In dem Bereich, den man früher den Zuschauerraum nannte. Nur dass sie keine Zuschauer sind. Die Zuschauerin – wenn man sie so nennen will – ist ja die Clap-Artistin oben auf der Bühne.
Ich beneide Falk darum, dass er bei Sarah Goldmans Auftritt dabei sein konnte. Sie sprang völlig begeistert auf der Bühne rum und klatschte zur Musik von zehntausend Musikern, die unten vor ihr standen und alle durcheinander spielten. So laut, dass Sarahs Jubeln und Klatschen gar nicht mehr richtig zu hören war. Das hat mein Nachbar in London selbst erleben dürfen, mit seiner Maultrommel. Einfach der absolute Wahnsinn! Wunderbar!
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