Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 30
Georg Simon erzählt:
Von Jörg Rönnau
Vor einem makellosen blauen Himmel zogen hin und wieder kleine Wölkchen über den Großen Plöner See und spiegelten sich wie weiße Farbtupfer auf der fast glatten Wasseroberfläche. Ich befand mich mit meinem Kanu mitten auf dem See und wollte eigentlich weiter zur Schwentine, um darauf flussabwärts zu paddeln. Momentan ließ ich das Boot allerdings treiben und genoss die Stille des Sommermorgens. In einiger Entfernung schwamm eine Schwanenfamilie auf den Schilfgürtel einer einsamen Insel zu, in dessen Baumwipfeln Singvögel zwitscherten. Mehrere Kormorane flogen in V-Formation Richtung Westen. In solchen Momenten durchdringt mich tiefer Frieden, die Welt steht für einige Augenblicke still und ich bin eins mit der Natur.
Doch diese Idylle wurde schlagartig durch einen hellen Blitz unterbrochen, dem ein donnernder Knall folgte, den ich bis in die Magengrube spürte. Nur Sekunden später dröhnte der laute Motor eines Flugzeugs in mein Ohr. Wie aus dem Nichts tauchte die Maschine auf. Es schien, als käme sie direkt aus einer schwarzen Öffnung, in der Sterne funkelten. Nur Sekunden später schloss sich das Loch wieder und der blaue Himmel kehrte dorthin zurück. Zuerst trudelte der Flieger, aber der Pilot konnte die Maschine stabilisieren und ließ sie mehrmals über dem See kreisen. Ich sah eine männliche Person im Cockpit und es schien, als suchte er irgendetwas. Was mich aber zutiefst erstaunte, war die Tatsache, dass es sich um ein ziemlich altes Flugzeug handelte. Eine amerikanische Lockheed F-5, ein Aufklärer aus dem Zweiten Weltkrieg, an dessen Seite das Symbol der französischen Luftwaffe prangte. Ich hatte solch eine Maschine schon einmal auf einer Flugshow gesehen. Was führte so einen historischen Flieger hierher, zudem noch unter diesen mysteriösen Umständen?
Normalerweise besaßen diese alten Militärflugzeuge einfahrbare Räder, aber an dieser waren Schwimmer montiert, ein Wasserflugzeug. Bei seiner nächsten Runde steuerte der Pilot die Maschine in kurzer Entfernung an mir vorbei und winkte mir aus dem Cockpit zu. Kurz danach setzte er zur Landung auf dem See an. Die Maschine wurde langsamer, steuerte direkt auf mein Kanu zu und stoppte nur wenige Meter vor mir. Die Propeller hörten auf sich zu drehen, und es wurde schlagartig wieder ruhig. Nur wenige Augenblicke später öffnete sich das Cockpit. Ein Mann in Fliegerkluft kletterte heraus, sprang auf die Schwimmer und nahm seinen Lederhelm und die Brille ab.
»Bon jour, Monsieur!«, rief er mir lächelnd zu.
Gleichzeitig erstarrte ich, denn diesen Mann kannte ich. Seit meiner Jugend hatte ich sämtliche Bücher von ihm gelesen und verehrte ihn als großartigen Schriftsteller. Dieser Pilot entpuppte sich als kein geringerer als Antoine de Saint-Exupéry. Der Autor von so wunderbaren Romanen wie Der Flieger, Nachtflug, Wind, Sand und Sterne und vielen mehr, nicht zu vergessen Der kleine Prinz. Aber wie kam der Franzose hierher? In den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts war er ein begeisterter Flieger und ich wusste, dass er während des Zweiten Weltkriegs als Offizier in der französischen Luftwaffe diente und Aufklärungsflüge über dem Mittelmeer und der Sahara flog. Am 31. Juli 1944 startete der damals Vierundvierzigjährige vom Flugplatz Bastia auf Korsika zu einer Patrouille Richtung Grenoble. Er kehrte niemals zurück und auch sein Flugzeug, eben jene amerikanische Lockheed F-5, wurde trotz intensiver Suche niemals gefunden. Sein Verschwinden und höchstwahrscheinlich damit verbundene Tod galt seit damals als Mysterium. Nun stieg dieser Antoine de Saint-Exupéry allerdings aus der Maschine und lächelte mich an.
»Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe mich anscheinend verflogen. Können Sie mir sagen, wo ich hier bin?«
Als Saint-Exupéry sprach, setzte er sich auf eine Befestigungsstrebe des Schwimmers, kramte aus einer Tasche seiner Fliegerkombi ein silbernes Etui heraus und entzündete sich eine filterlose Zigarette.
War das ein Scherz, eine Vision, vielleicht sogar die Versteckte Kamera oder etwa doch Realität? Kam dieser Flieger tatsächlich aus der Vergangenheit, vielleicht durch irgendeine Zeitreise oder aus einer Parallelwelt? Geriet sein Flugzeug damals in eine Zeitschleife, in ein Raum-Zeit-Kontinuum, verschwand deshalb spurlos von der Bildfläche und tauchte hier, nach einer langen Reise durch ein nicht zu erklärendes Phänomen wieder auf? Nach weit mehr als siebzig Jahren? Unfassbar!
»Sie befinden sich auf dem Großen Plöner See, mitten in der Holsteinischen Schweiz«, antwortete ich, neugierig auf seine Reaktion.
Saint-Exupéry hob erstaunt die Augenbrauen, zog an seiner Zigarette und nickte, als hätte er sich gerade selbst eine Erklärung gegeben.
»Also in Norddeutschland … und welches Jahr haben wir?«
Ich antwortete wahrheitsgemäß, ohne zu kommentieren. Erneut hob er die Augenbrauen und inhalierte nochmals mehrere Züge tief ein, bevor er die Kippe ins Wasser schnippte.
»Nun wird mir einiges klarer«, sagte Saint-Exupéry. »Laut meiner Borduhr bin ich erst vor vier Stunden von Korsika aus zu einem Aufklärungsflug gestartet. Irgendwann hörte ich einen Knall, sah ein schwarzes Loch und flog dort unwillkürlich hinein, da ich nicht ausweichen konnte. Sofort fiel das Funkgerät aus und sagte keinen Pieps mehr. Dann überkam mich das Gefühl, als flöge ich durch einen Tunnel ohne Raum und Zeit. Es schien mir, als segelte ich durch die Ewigkeit. Sterne und irreale Regenbogenfarben flogen an mir vorbei. Zudem haben die Navigationsgeräte völlig verrückt gespielt. Die Uhr und der Kompass drehten sich in einer unheimlichen Geschwindigkeit. Ich fühlte mich die ganze Zeit über sehr müde und benommen, hatte dabei rasende Kopfschmerzen.«
Saint-Exupéry entzündete sich eine weitere Zigarette und schaute gedankenverloren auf die Rauschschwaden, die sich vor seinem Gesicht auflösten. Nach einigen Minuten sagte er: »Also hat Albert Einstein mit seinen Theorien doch recht?«
Ich nickte, auch wenn ich kaum glauben konnte, was sich hier gerade abspielte.
»Hat sich die Welt in den letzten siebzig Jahren sehr verändert?«, fragte Saint-Exupéry.
Ich begann ihm zu erzählen, was seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs alles passierte. Natürlich nicht alles, aber ich versuchte, ihm einen kurzen Überblick der wichtigsten Ereignisse mitzuteilen, und er hörte meinen Ausführungen interessiert zu. Über eine Stunde trieben wir auf dem See. Ich in meinem Kanu, er auf dem Schwimmer seines Fliegers, wo er eine Zigarette nach der anderen rauchte und lauschte.
Irgendwann hob er die Hand und gebot mir aufzuhören.
»Genug, genug, mein Freund. Ich habe wirklich ausreichend gehört, um mir ein Bild von der Zukunft zu machen. Ich bin mittlerweile überzeugt, dass ich versuchen muss, zurückzukommen. Vielleicht öffnet sich dieses Tor nochmals, wenn ich direkt auf die Stelle zufliege, aus der ich vorhin gekommen bin. Ich hoffe sehr, dass ich nicht in weiteren Epochen zwischenlanden muss, sondern direkt ins Jahr 1944 zurückreise.«
Er bedankte sich bei mir und kletterte zurück in sein Cockpit. Mit knatterndem Stottern und einer dicken Rauchwolke starteten die Motoren und die beiden Propeller begannen sich zu drehen. Saint-Exupéry winkte mir noch ein letztes Mal zu und beschleunigte die Maschine. Nach dem Start drehte er noch ein paar Runden über dem See und steuerte den Flieger dann senkrecht nach oben. Plötzlich blitzte es, gefolgt von einem krachenden Donner. Erneut tat sich ein schwarzes Loch am Himmel auf, in dem Sterne funkelten. Die Lockheed F-5 flog direkt darauf zu und … verschwand darin, woraufhin sich die Öffnung sofort wieder schloss.
Stille, es herrschte auf einmal wieder absolute Stille. Die Singvögel in den Bäumen der Insel zwitscherten, als wäre nichts geschehen. Die Schwanenfamilie schwamm weit entfernt auf dem See. Ein Seeadler nutzte die Thermik, um Höhe zu gewinnen, segelte stolz vor dem blauen Himmel in die weißen Farbtupfer hinein. Welch majestätischer Anblick, doch ich konnte ihn kaum wahrnehmen. Meine Gedanken kreisten um Antoine de Saint-Exupéry und die Ereignisse, die gerade eben hier geschahen.
Ich kramte in meinem wasserdichten Rucksack das Mobiltelefon heraus, startete den Bildschirm und gab den Namen des französischen Schriftstellers im Suchfenster ein. Was ich fand, erstaunte mich zutiefst. Antoine de Saint-Exupéry starb 1995 im greisen Alter von fünfundneunzig Jahren im Schoße seiner vielköpfigen Familie auf seinem Gut im südfranzösischen Lyon. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er zur Schriftstellerei zurück und schuf noch viele wunderbare Romane. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts überreichte ihm der junge, gerade inthronisierte schwedische König Carl XVI. Gustaf höchstpersönlich den Literaturnobelpreis für einen fantastischen Roman, den Saint-Exupéry über eine Zeitreise schrieb, von der er stets behauptete, dass sie autobiografische Züge besaß. Der Originaltitel lautete Voyage dans le temps à travers les âges, die deutsche Ausgabe Zeitreise durch die Jahrhunderte. Allerdings glaubte ihm dies niemand und man führte es auf seine blühende Fantasie zurück.
Noch als Achtzigjähriger saß er im Flugzeugcockpit, bis ihn ein Schlaganfall und die folgende linksseitige Lähmung daran hinderte.
Als ich im Internet seine Kurzbiografie las, freute ich mich sehr. Antoine de Saint-Exupéry hatte es tatsächlich geschafft in seine Zeit zurückzukehren. Ich nahm mir vor, schnellstmöglich seinen Roman über die Zeitreise zu lesen und war gespannt darauf, ob ich darin vorkam.
19. April 2021 um 17:22
Eine schöne Geschichte. Das positive Ende ist hübsch ausgedacht. Ich war immer etwas traurig, dass Saint-Exuréry so spurlos verschwunden ist und es keine weitere Literatur von ihm gab.
Vielen Dank an den Autor von der Heilpflanze.13
19. April 2021 um 21:42
Klasse Geschichte von Jörg Rönnau. Historie und Gegenwart, das kann er.
20. April 2021 um 8:50
Faszinierend geschrieben. Das Spiel Gegenwart/ Vergangenheit beherrscht Jörg Rönnau. Super.
28. April 2021 um 10:26
Saint Exupéry ist nicht tot. Er hatte nur durch ein schwarzes Loch eine Reise ohne Zeit und Raum gemacht, verschwindet darin auch wieder, um ins Jahr 1944 zurückzukehren und fortan als Schriftsteller zu leben.
Wieder kehrt ein Toter zurück. Diesmal allerdings sehr gut erzählt. Merkwürdig: schon die Einleitung ließ mich an den kleinen Prinzen denken, bevor Antoine überhaupt auftauchte.