Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 35
Sven Andresen erzählt:
Von Hannes Hansen
Die Geschichte ist schon lange her, über vierzig Jahre. Ich hatte damals einen Lehrauftrag als Lektor für deutsche Sprache und Literatur an einer Universität in Wales. Gleich in den ersten Tagen traf ich Mark in der Studentenbar und wir freundeten uns schnell an. Mark war Australier und unterrichtete am Department für Kulturanthropologie das Fach Nichtschriftliche Literaturen. Wir trafen uns fast jeden Abend in der Studentenbar, um Billard zu spielen, ein Bier zu trinken und ein wenig zu fachsimpeln. Dort war mehr los als im Common Room der Dozenten mit ihren ewigen Gesprächen über Familie und Karriere.
An einem dieser Abende stand Mark, als ich den Raum betrat, am Billardtisch auf das Queue gelehnt und sah einer Studentin in lächerlich kurzem Minirock auf die langen Beine, und als ich näherkam, sagte er, Hi, digger, ohne seinen Blick von der Studentin zu wenden, die einfach mit gesenktem Kopf, so dass die Haare ihr Gesicht verhüllten wie eine Gardine, in der Mitte des Raumes stand und ihre Beine begaffen ließ. Der lange Australier war Jesuit gewesen, und ein Jahr nach der Priesterweihe hatte er den Orden verlassen. Jetzt musste er viel nachholen, sagte er.
Sie spielten zu viert. Die anderen schienen Studenten zu sein; einer sagte, Du bist dran, Mark. Mark beugte sich zum Tisch hinunter. Er war so lang, dass er seine Beine weit spreizen musste, um die richtige Position für sein Spiel zu finden. Er schob das Queue mit ausgestrecktem Arm zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, dann stieß er zu. Die weiße Kugel rollte ruhig gegen eine rote, und die lief quer über den Tisch auf ein Eckloch zu. Sie stieß gegen die Wände des Lochs, zögerte einen Moment und verschwand dann rumpelnd. Marks nächste Kugel verfehlte ihr Ziel und er richtete seinen Oberkörper auf. Es war, als ob ein Messer aufklappte. Als er sah, dass ich auf das langbeinige Mädchen schaute, grinste er und sagte, Die gehen bis ganz nach oben.
In der schäbigen, verräucherten Bar drängten sich die Leiber aneinander. Die Studenten tranken sich mit riesigen Mengen Bier Mut an. Wie hungrige Haie einen Schwarm Fische umkreisten sie die Mädchen, die ihr festes Fleisch zur Schau stellten und so taten, als nähmen sie das Geschiebe und Gestoße, die Blicke und Bemerkungen und die absichtlich unabsichtlichen Berührungen nicht wahr, und es roch nach verschüttetem Bier und saurem Schweiß und billigem Deo Spray.
Ich blickte von der Langbeinigen fragend auf Mark, und er sagte, Geht nicht, ist eine von meinen Studentinnen. Soll ich euch bekanntmachen? Ich zögerte, aber Mark rief, Hi, Angharad, komm doch mal her.
Das Mädchen kam sofort, und der Minirock bewies plötzlich gar nichts mehr. Als sie den Kopf hob und die Gardine aus Haaren zurückglitt, hatte sie ein vergrübeltes, leicht trotziges Kindergesicht. Das Gesicht erkannte ich, die Beine nicht. Das Mädchen saß in meinem Kurs über die deutsche Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich sagte, Wir kennen uns schon.
Sie fing sofort an, von einer meiner Vorlesungen zu schwärmen. Dieses Gedicht von Benn über die kleine Aster in dem Leichenschauhaus, also das war super, und „Der Panther“ von Rilke, und vor allem das über das Karussell, das war wirklich einsame Spitze. Mr. Connolly mochte sagen, was er wollte, in seinen Eingeborenenliteraturen gab es nichts, was solchen Gedichten auch nur nahekam. Sie sagte noch mehrmals Super und redete sich in eine rotglühende Begeisterung. Dabei sah sie die ganze Zeit Mark an. Für mich hatte sie trotz ihrer Begeisterung für Rilkegedichte kaum einen Blick, und das war gut so.
Und dann und wann ein weißer Elefant, zitierte sie und lächelte glücklich und war selbst noch ein Mädchen zwischen Kind und Frau mit den hochroten Wangen, die sie komisch aufpustete, und den sich zuspitzenden Lippen, wenn sie Super sagte, und ihre langen Beine bewiesen nichts.
Das Mädchen Angharad hatte sich schon wieder Mark zugewendet und redete auf ihn ein. Nicht wahr, Mr. Connolly glaubte doch auch, dass sich die einzigen noch möglichen Abenteuer im Kopf abspielten und in ihrer reinsten Form in der Dichtung. Wo sie denn das nun wieder gelesen hätte, wollte er wissen und grinste sein australisches Outback-Lächeln, das so viel verbarg. Man müsse die Klischees eben bedienen, hatte er einmal zu mir gesagt, dann ließen einen die Leute zufrieden. Mit diesem Lächeln sah er Angharad an, und als er ihre Verwirrung bemerkte, wurde er schnell wieder ernst. Das sollte sie einmal den Aborigines oben in Arnhem Land erzählen, die würden sie auslachen.
Die anderen Billardspieler riefen wieder nach Mark, und er drehte sich um und nahm lange und sorgfältig Maß. Es war ein einfacher Stoß, aber die Kugel blieb neben dem Loch liegen. Mark blickte ihr lange hinterher, und als er hochkam, war es wieder das Aufschnappen eines Messers. Vielleicht auch nicht, sagte er, vielleicht würden die Aborigines den Unterschied gar nicht verstehen, die säuberliche Trennung zwischen Imagination und Wirklichkeit. Wenn sie ein Känguruh jagten, und wie sie es jagten, mit Speeren, deren Spitzen im Feuer gehärtet waren, und die mit einer Schleuder, einem schweren hölzernen Hebelarm, geworfen wurden, dann blieben sie dem Tier stundenlang auf der Spur, die können Fährten lesen wie du ein Buch. Wo ein Weißer gar nichts sah, nur Sand und dürre Steppe, da orientierten sie sich an einem getrockneten Blutstropfen, einem verschobenen Steinchen, ein paar geknickten Grashalmen. Und wenn sie das Känguruh erlegt hatten, dann war es Fleisch für den Trupp, Essen für die Familie, und gleichzeitig war es ein Verwandter, dessen Kraft und Schnelligkeit und Schläue in den überging, der es aß. Und das Tier musste man um Verzeihung bitten mit Zauberformeln, an denen durfte seit alters her kein Wort geändert werden, sonst waren sie nicht nur nutzlos, sondern lebensgefährlich für den Sünder am Wort.
Marks Augen hatten sich ganz in ihre Höhlen zurückgezogen, und sie waren blicklos, als sehe er etwas an der schmutzigen Wand der Bar, was Angharad und mir verborgen blieb, flackernde Schattenbilder, denen er hinterherträumte in einem Traum, den wir nicht kannten.
Angharad hatte ihm aufmerksam zugehört. Ein Kind, dem man Märchen erzählt. Sie hatte den Hals gereckt und den Kopf, der bis hinter die Ohren errötet war, vorgeschoben und die Lippen wie einen Schnabel gespitzt, und auf ihren langen Beinen sah sie aus wie ein exotischer Vogel, wie ein ferner Verwandter jener priesterhaften Reiher, die an den Küsten vor Wales auf Beute lauerten. Sie drehte den Kopf sichernd zur Seite und hielt ihre Augen dabei starr auf Mark gerichtet. Aber die Mehrzahl der heutigen Menschen lebte nicht mehr in solch ursprünglichen Kulturen, meinte sie zögernd. Und waren diese, nun ja, primitiven Relikte denn eigentlich überlebensfähig? Zunächst war Trauer in ihrer Stimme gewesen, aber bei dem Wort primitiv schlug sie um in Zorn, in einen verwirrten, richtungslosen Zorn. Das sollte ihr Mr. Connolly doch bitte einmal erklären, wie eine Gesellschaft von Jägern und Sammlern und Mythenerzählern sich in der modernen Welt zurechtfinden könnte, sagte sie und ruckte den Kopf mit den Schnabellippen vor. Mehr denn je glich sie einem Reiher, der lange lauerte und dann unvermutet zustieß. Ob es Mr. Connolly nun passe oder nicht, die heutige Welt sei eben anders, rational und fortschrittlich, und das Rad der Geschichte lasse sich nicht zurückdrehen. Sie jedenfalls beabsichtigte das nicht. Und einmal ganz abgesehen davon, dass es unmöglich war, war es denn überhaupt auch nur wünschenswert? Die primitive Welt in Ehren, aber herrschten in ihr nicht Hunger und Krankheit und Elend? Dinge also, die man auslöschen konnte mit Hilfe der modernen Zivilisation? Sie gebrauchte das Wort wie einen Schutzschild, an dem jeder Einwand abprallte, und ihre Stimme hob sich und wurde schrill, wenn sie es ausstieß. Ein harscher Ruf, der einsam klang und stolz.
Mark hatte ihr mit unbewegter Miene zugehört, ohne auch nur einmal zu versuchen, ihren heftigen Redefluss zu unterbrechen. Seine Augen kehrten zurück aus der Traumzeit und waren hart glitzernde Kristalle. Mit der modernen Zivilisation, die sie so schätzte, könne man noch mehr auslöschen als Elend und Krankheit und Hunger, sagte er, und ob das Rad der Geschichte nicht eines Tages die überrollen werde, die ihm den Schwung gegeben hatten, werde man sehen. Noch war nichts entschieden.
Was übrigens das sogenannte Primitive anging, da sollte sich Angharad nur nicht täuschen. Die Kultur der Aborigines war erheblich reicher, als der durchschnittliche Zivilisierte sich das vorstellen konnte. Fließendes Wasser und Miniröcke waren nicht alles.
Das Mädchen zog den Kopf erschrocken zurück und duckte sich, ein Vogel, der Deckung sucht. Mark sprach weiter mit flacher Stimme und der Monotonie eines Drillbohrers. Nichts gegen Miniröcke, sagte er, konnten schon verdammt gut aussehen und eine Freude sein für den Betrachter, aber wie befreiten sich die Menschen von dem Zivilisationsmüll, der auf ihren Seelen lastete wie ein Albtraum? Und woher sollten sie die Visionen nehmen, die ein Ende bereiteten dem verbrecherischen Gebot des Macht euch die Erde untertan? Die Sätze kamen schnell, und die Worte flossen ineinander, und ihr Pathos und ihre Leidenschaft kontrastierten seltsam mit Marks Stimme. Sie war so flach wie eine Regenpfütze und ganz und gar gleichgültig, doch unter der Gleichgültigkeit lagerte Trauer und unter ihr Verzweiflung.
Das Mädchen fand seinen Mut wieder und fragte mit stockender Stimme, Sind Sie deshalb kein Priester mehr? Mark sagte, Unter anderem. Angharad hatte mit den Armen gerudert wie mit schweren Flügeln. Es war, als ob sie davonfliegen wollte, aber keinen Aufwind bekam. Mark hielt sie mit seiner gleichgültigen Stimme fest. Er lachte freudlos und sagte noch einmal, Unter anderem, aber das war nicht das einzige.
Mark hatte mir einmal seine Geschichte erzählt. Er hatte unter Krach und Vorwürfen, die Jesuiten betrieben kulturellen Völkermord und verwüsteten die Seelen von Mensch und Erde, seinen Orden verlassen. Kein Mensch wusste, was er meinte. Dann war er zu den Aborigines in Arnhem Land gegangen und hatte über drei Jahre bei ihnen gelebt. Als er wieder in Sydney auftauchte, brachte er ein Buchmanuskript mit, „Das Evangelium nach Daniel“. Dieser Daniel war ein alter Mann da oben, der die Mythen und Gesänge seines Volkes kannte. Er hatte sie Mark erzählt, im Austausch für die Geschichten von diesem Jesus Christus, von dem Daniel durch die weißen Missionare gehört hatte. Da gab es manches, was er nicht verstand, zum Beispiel, was das für ein Reich sein sollte, das nicht von dieser Welt war. Was überhaupt das Wort Reich bedeutete. Ob das so etwas sei wie die Polizei, die an den Grenzen des Reservates aufpasste, dass niemand den Eingeborenen Schnaps verkaufte. Die einen Mann ins Gefängnis steckte, wo er zwei Tage später starb, weil er den getötet hatte, der ihm heimtückischer Weise das Fleisch seines Totems zu essen gab und damit seine Seele raubte.
Mit der Idee einer anderen Welt hatte Daniel weniger Probleme als ihre Verkünder, aber dass es dort keinen Hunger und keine Krankheit und keinen Tod geben sollte, fand er zum Lachen. „Das Evangelium nach Daniel“ war eine Sensation gewesen und eine Saison lang Partygespräch. Mark gab zahllose Zeitungsinterviews, und ein halbes Dutzendmal stritt er sich in Talkshows mit Wissenschaftlern und Kirchenleuten und Fürsorgebeamten. Beim letzten Fernsehauftritt war er explodiert und hatte seinen Landsleuten vorgeworfen, sie seien das geistloseste Volk, das je auf Erden gelebt hätte. Nichts hätten sie verstanden, gar nichts, er könne das Geschwätz nicht mehr ertragen, widerlich sei es, wie sie das Buch geil einspeichelten und mit ihren Raubtiergebissen zu leicht verdaulichen Häppchen zerkleinerten. Und weil er seine Abrechnung mit Ausdrücken würzte, die in Australien jedermann zu jeder Zeit und Gelegenheit freigebig gebrauchte, die aber in der Öffentlichkeit als ungehörig galten, hatte man Bild und Ton abgeschaltet und einen halb verlegenen halb lüstern auftrumpfenden Ansager verkünden lassen, Mr. Connolly fühle sich nicht wohl und deshalb müsse man die Übertragung abbrechen.
Danach war Mark erledigt gewesen. Als er dann noch einem Reiseveranstalter, der ihn für vierzehntägige Meditations-Tripps in das Land von Old Man Daniel als Führer engagieren wollte, ein blaues Auge schlug, hatte man ihn von der Universität Sydney schnell weggelobt. Zum Glück war an der Waliser Universität ein Lehrstuhl für Vergleichende Literturwissenschaft eingerichtet worden und man suchte einen Dozenten für schriftlose Literaturen. Mark bekam die Stelle, weil der Skandal noch nicht nach Wales gedrungen war und der Sydneyer Lehrstuhlinhaber ihm eine exzellente Referenz schrieb. Aber Australien sei überall, sagte Mark.
Wir schwiegen, und als die Studenten vom Billardtisch herüberriefen, ob Mark noch eine Partie mitspielen wollte, winkte er ab und wandte sich wieder Angharad zu. Das langbeinige Vogelmädchen sah Mark mit glänzenden Augen an.
Das war jetzt fast ein Vierteljahrhundert her. Alles war so gekommen, wie Mark es vorausgesagt hatte. Als er sich vom Dach der Philosophischen Fakultät stürzte, glaubten alle, es sei wegen der Frau, die ein übereifriger Nachtportier im Zimmer des ehemaligen Priesters aufgestöbert hatte, der als Warden im Studentenwohnheim ein Vorbild sein musste. Mark hatte es hinter sich, und es war nicht die Frau gewesen.
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