Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 38
Annemieke Achterndiek erzählt:
Von Renate Folkers
Die zierliche, brünette Frau namens Anna ist stinksauer. Genervt lässt sie sich in die Kissen ihres Sofas fallen und wickelt wieder und wieder eine lange Ponysträhne um den Zeigefinger ihrer rechten Hand. Das nicht beherrschbare Zucken ihres rechten Auges bereitet ihr Unbehagen. Es tritt immer dann auf, wenn Kontrollverlust und Unsicherheit sie nervös werden lassen. Ihren aufgewühlten Zustand schreibt sie Martin zu, dem Ehemann ihrer Freundin Sophie, den sie heute kennengelernt hat. Was bildete sich dieser Schnösel ein? Ohne sie auch nur ein bisschen zu kennen zu fragen, ob sie immer noch Single ist und ihr im selben Atemzug zu einer Kontaktanzeige zu raten. Das war grenzüberschreitend und frech.
Anna lässt die Szene noch einmal Revue passieren:
Vom Einkaufsbummel müde hatte sie im Außenbereich des Mövenpick in Hannovers Innenstadt nach einem freien Platz Ausschau gehalten. Es schien aussichtslos. Das Gute-Laune-Wetter war der Grund, dass niemand drinnen sitzen wollte. Außerdem gibt’s am Kröpcke immer viel zu sehen; und gesehen wird Mann/Frau auch.
Just in dem Moment, als sich Anna hatte abwenden wollen, um doch lieber ins Alte-Opa-Kaffee zu gehen, entdeckte sie Sophie, eine langjährige Freundin aus Bückeburg. Sophie saß mit zwei weiteren Personen an einem Tisch. Zu ihrer Freude waren die Herrschaften im Begriff zu gehen.
Erfreut hatte sie Sophies Namen gerufen und war auf den Tisch zugesteuert. „Hallo Anna, was für ein Zufall! Schön Dich zu sehen, setz Dich doch“, begrüßte sie die Freundin gut gelaunt. Seit Annas Wegzug aus Bückeburg war der Kontakt zueinander abgebrochen, die Freude über das Wiedersehen jedoch auf beiden Seiten und im Nu die alte Vertrautheit wieder hergestellt.
Sie plauderten und lachten. „Du wirst es nicht glauben, Anna, ich habe vor knapp einem Jahr geheiratet.“ In der Tat verschlug diese Neuigkeit Anna den Atem. Sophie hatte geheiratet! Erst in diesem Moment war ihr der schmale goldene Ring an Sophies rechter Hand aufgefallen. Anna musste schlucken. Sophie hatte geheiratet, mit 35 Jahren – zum ersten Mal. Wie konnte sie nur! Sie war eine toughe Frau. Gutaussehend, groß und schlank mit langen blonden Haaren. Blond ist doch nicht gleich dumm, war es Anna durch den Kopf geschossen. Die Freundin hat einen Super-Job in der Chefetage eines Windkraft-Unternehmens, also auch finanziell sehr gut gestellt und völlig unabhängig, kann machen, was ihr gefällt. Es gab nicht den geringsten Grund, die Abwegigkeit einer Eheschließung zu rechtfertigen. Was mochte Sophie nur zur Aufgabe ihres Single-Daseins, das sie geschworen hatte, niemals aufzugeben, bewogen haben? Hatte sie vergessen, wie hundsmiserabel es Anna in der Ehe und während der Trennungsphase vor einigen Jahren ging? Hatte sie ausgeblendet, was Anna damals durchmachte? Ihr kamen Sophies Worte in den Sinn: »Ich werde niemals in meinem Leben heiraten! Um keinen Preis wird ein Kerl mir in mein Leben hineinreden!“ Leider war sie sich selbst nicht treu geblieben.
Anna sollte Martin gleich kennenlernen. Sie seien zum Essen verabredet, hatte Sophie verkündet und Anna, als sie den Namen Martin erwähnte, mit verklärtem Blick angesehen. Mann, Mann, Sophie! Die Arme hatte es – wie es schien – total erwischt.
Anna müsse Martin auf jeden Fall näher kennenlernen, deshalb wäre ein gemeinsames Essen eine gute Idee hatte Sophie vorgeschlagen.
Anna blieb nicht die Zeit, ihre Fassungslosigkeit über die Eheschließung kundzutun oder Einwände zum gemeinsamen Essen zu erheben. Plötzlich trat ein Mann mit den Worten „Man redet über mich?“, an ihren Tisch. Und dann war da sofort wieder dieser verliebt-ergebene Blick von Sophie. Herr des Himmels!
Martin streckte Anna die Hand entgegen und mit den Worten „Ich bin der schöne Mann von Sophie. Du musst Anna sein. Sophie hat mir viel von dir erzählt. Schön, dass ich dich kennenlerne“, hatte er sich vorgestellt. So ein überheblicher Kotzbrocken. Anna dreht sich auch jetzt der Magen um, wenn sie nur daran denkt. Nach einem gehauchten Kuss auf die Wange seiner Frau hatte Martin Anna gegenüber Platz genommen.
„Gibt es eigentlich immer noch keinen Mann in deinem Leben, Anna?“, sprudelte es aus ihm heraus und ohne auf eine Antwort zu warten, fügte er hinzu: „Du solltest eine Kontaktanzeige aufgeben, unbedingt.“ Der ungläubige Blick seiner Frau war Anna nicht entgangen.
„Das ist nicht dein Ernst, Martin! Wie kannst du so eine blöde Idee haben? Eine Kontaktanzeige! Ich! Du hast doch von meinem Leben keine Ahnung, kennst mich doch gar nicht.“
„Du solltest einen Versuch starten, zu zweit ist’s nicht so langweilig und auch kostengünstiger. Sophie und ich haben uns auf diese Weise kennengelernt. Erinnerst du dich, Liebling, ich habe dir erzählt, wie ich deine Zuschrift aus der Flut von mehr als fünfzig Bewerbungen herausgefischt habe!“ Oh mein Gott, Sophie hatte auf eine Kontaktanzeige reagiert!
„Sophie war die einzige von den vielen Frauen, die ihre finanzielle Unabhängigkeit erwähnte. In dieser Hinsicht ist sie ein doppeltes Schnäppchen!“, hatte Martin erklärt. Die Röte, die plötzlich Sophies Wangen überzog, war nicht zu übersehen gewesen. Dieser Mann war einfach nur peinlich.
„Ich langweile mich nie, und finanzielle Probleme habe ich auch keine! Selbst wenn ich sie hätte, wäre auf keinen Fall ein Mann die Lösung!“, hatte Anna gefaucht und Martin mit bösem Blick gestraft. Geschickt Themenwechsel von Sophie.
Nach dieser wenig erfreulichen Szene war Anna die Freude auf ein gemeinsames Essen vergangen. Mit dem Versprechen, sich in Kürze mit Sophie zu verabreden, steuerte sie auf direktem Weg die U-Bahn an.
Die ganze Zeit in der Bahn und auch jetzt wollten Martins Worte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Das ärgert sie maßlos. Sie ist wütend auf ihn. Wie kommt dieser Mann dazu, ihr Langeweile zu unterstellen? Er kennt sie nur vom Hörensagen.
Allerdings findet sie den Gedanken, darüber nachzudenken, wie Mann sich in Flirtlaune vermarktet und auf eine Kontaktanzeige reagiert, sehr spannend. So spannend, dass sie in Gedanken eine Anzeige formulieren möchte. Da geht es schon los. Es gibt nichts zu formulieren und sie hat keine Ahnung, wie man sich auf den „Ich-will-mich-mal-verlieben-Foren“ artikuliert. Nee wirklich! Das fühlt sich irgendwie hilfesuchend an. Ähnlich einem „Hallo, ihr Männer da draußen! Schaut mal, hier bin ich. Möchte mich vielleicht jemand?“ So etwas braucht sie nicht! Anna sucht nicht! Anna führt ein ausgefülltes, unbemanntes Single-Leben. Und so soll es bleiben.
Doch auch mit der Gewissheit, dass sie es auf keinen Fall wollen würde, hat sie Gefallen daran, die Sache fortzuspinnen. Schließlich ist sie Autorin, eine Geschichtenerfinderin! Was würde passieren, wenn sie der Idee folgen und eine Anzeige schalten würde? Sie schlüpft in die Rolle der Geschichtenschreiberin und schon betrifft das, was in ihrer Phantasie nun lebendig wird, nicht mehr sie selbst. Sie ist die Erfinderin einer Story. Die Wut auf Martin ist verraucht.
Anna setzt sich an ihren Schreibtisch. Das Starren auf die vor ihr auf dem Tisch verstreuten Papierschnipsel, auf die sie ihre Spontaneinfälle zu notieren pflegt, löst Assoziationen aus. Auf jedem einzelnen Schnipsel taucht plötzlich die ‚Bewerbung’ eines einsamen Männer-Herzens auf. Zuschriften zuhauf liegen nun ausgebreitet vor ihr. Sahen sie doch eben noch aus wie erfrorene, vom Ast gefallene Blätter. Tot, leer und bedeutungslos.
Plötzlich sind sie voller Leben. Jeder einzelne Papierschnipsel, den sie in die Hand nimmt, ist beschrieben auf unterschiedlichste Art. Druckschrift, Schreibschrift, Computer-Geschriebenes und Sütterlin. Ja, Sütterlin auch. Weißt du noch, Sütterlin?
Energie geladene und pure Lebenslust versprechende Beteuerungen von um ihre Aufmerksamkeit werbende Charaktere geben sich in dem Blätterhaufen ein Stelldichein. Sie enthalten Botschaften, die vor Enthusiasmus nur so strotzten. Sie fordern sie auf zu leben, zu erleben, zu lieben und Zeit zu teilen mit ihm, dem, der in Sütterlin schreibt und mit ihm, der über PC und Drucker verfügt. Der eine oder andere hat ein Foto angeheftet. Ein heftiges Kopfkino beginnt. Das Hirn kommt in Wallung, zündelt in Richtung Verstand. Selbst der ist verunsichert, richtet an Anna die Frage:
WILLST DU DAS?!
Diese Frage ist aber nicht das Ende. Ganz benommen von der Flut an Informationen über die Fellpflege des Mannes, wie gebildet Mann ist, wie vorzeigbar, wie toll es sich auf einem Campingplatz lebt oder wie Mann mit Rudern seine Muckis trainiert, lehnt sich Anna auf ihrem Stuhl zurück. Die Welt um sie herum scheint voll von Männern, die einfach nur Klasse sind, und ihr bleibt die Qual der Wahl.
Sollte sie vielleicht doch…?
Noch einmal Alarm: Verstand an alle:
WOLLEN WIR DAS!?
Letztendlich kommt Anna mit all ihren Sinnen überein, dass man das auf gar keinen Fall wollen wird.
Nun sitzt sie da und fragt sich, ob diese Übereinkunft ihre ehrliche, von Überzeugung geprägte Haltung ist. Plötzlich ist sie sich nicht mehr sicher. Vielleicht ist es nur die Angst vor einer Veränderung? Will sie eine Veränderung? Die Botschaften auf den Blättern sind positiv. Möglicherweise müsste sie ihren bisherigen Blick auf die Männer ins Visier nehmen und neu definieren!
Sie wird gründlich darüber nachdenken und eine ehrliche Antwort finden. Demnächst – oder vielleicht auch gleich bei einem Teller „Flederbeersupp un Klümp“, eine Spezialität aus ihrer nordfriesischen Heimat? Vielleicht!
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