Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 39
Neuton Lorenz erzählt:
Von Reimer Boy Eilers
Nach vierzig Jahren musste ich wieder an die Schneekatastrophe zu Neujahr 1979 und die geschlossene Grenze nach Dänemark denken, und warum? Es war der gegenwärtige Lockdown, der die Erinnerung weckte und die düsteren Bilder von damals evozierte, das Eingeschlossensein, plötzlich ging es in diesem modern bewegten Leben nicht mehr vor und zurück. Wirklich düster? Zwar bin ich ein Opfer der Pandemie, nicht als Kranker, sondern als Bürger, weil ich in meinem Alter zur Risikogruppe in punkto Corona gehöre, so wie ich vorzeiten als Bewohner des Katastrophengebiets ein Opfer der ausgreifenden Schneemassen an der deutsch-dänischen Grenze wurde. Aber nochmals, mir fehlt nichts. Ich sehe und höre nur von anderem Sterben, heute wie damals, da war es der traurige Schneemann, den hab ich mit eigenen Augen gesehen. Das war kein schönes Bild.
Regelmäßig fahre ich Rad, allein, mit Abstand, und gucke in der Arche Warder über den Zaun, spähe nach den Tieren, alte Rassen, vom Aussterben bedroht. Die betagten oder gefährdeten Gäste der Arche dürfen noch weniger anderswo hin als ich, ein Gruß und dann geht es weiter. Das ist gerade noch erlaubt, eine Mini-Bewegung inmitten der Risikogruppe, wie von einem heruntergekühlten Atom.
Gerne hätte ich meine Kleinausflüge, diese ans Fahrrad gebundene Lockerungsübung unter freiem Himmel, auch zusammen mit Neuton Lorenz absolviert, einem uralten Studienfreund und Drahteseltreter. Doch Neuton ist abgängig, mit einem recht fragwürdigen Abschiedsgruß, er hat sich selber evakuiert. Zu dem Behufe hat er sich auf sein Herkommen besonnen, Nordfriesland, er spricht gar ein wenig Ferring, Föhrer Zunge, und will schon länger ein gewisses, rot-gelb eingebundenes Kinderbuch auf Sölring lesen, Sylter Inselfriesisch, das ist ja ein Schwesterdialekt. Aber aktuell, in der Pandemie, man beachte, sind ihm Inseln nicht mehr gut genug, fort mit Föhr und Schiet mit Sylt.
Neuton hat sich auf eine Hallig zurückgezogen, in dem Fall auf eine mittlerweile unbewohnte und fast schon wieder unbenannte, also Neuton liebt es anonym. Schade, ich möchte was Ehrliches erzählen, denn die Geschichte der Schneekatastrophe hat mehr mit mir zu tun, als mir lieb ist, obwohl ich nichts getan habe und – was das Geschehen betrifft – so unschuldig bin wie vor 71 Jahren, da war ich ein neugeborenes Baby.
Mein Ehrenwort darauf, niemand braucht Sorge vor einem späten Geständnis zu haben, Neuton nicht und schon gar nicht meine ehemalige Stieftochter Simone, mit der ich wieder Kontakt pflege, seit ihre Mutter gestorben ist. Und ansonsten frisch von der Leber weg gesprochen, und deshalb nenne ich glatt den halb versunkenen Namen von Neutons Refugium, Behnshallig, so, da isses raus, bitte schön. Der grasgrüne Haufen Schlick im Wattenmeer ist garantiert virusfrei und mit speziellem Lockdown bewehrt, niemand mehr darf Neuton und seine Veteranencrew, es sind wohl auch Veteraninnen dabei, dort besuchen, nicht einmal Familienangehörige.
Die aktuelle Tafelrunde der alten Isolationist*innen, das schreibe ich jetzt schick modern, hat den ganzen Rum auf der zweifelhaften Warft für sich allein. Also, ein bisschen finde ich das Pfui. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen werde ich Neuton meine Erzählung per E-Mail rüber auf die Hallig schicken, da hat er was zum Vorlesen und Nachdenken. Mag doch sein, dass sie sich dort langweilen, so den ganzen Tag ohne Virus, nix passiert, und froh darüber sind.
Von Beruf bin ich Seelsorger. Halt stopp, Pastor bin ich nicht, in dem Fall hätte man mich auch schon zu meinem vermeintlich Besten zwangspensioniert, das Bäffchen ab in die Mottenkiste, quasi ein beruflicher Lockdown, he he. Is‘ aber nich‘, wat? Die Leute kommen zu mir und reden sich ihre Last von der Seele. Und ich höre freiberuflich zu. Gelegentlich führe ich auch Selbstgespräche mit mir als Seelsorger. Den Beruf kann man lange ausüben, fast so lange, wie man selbst eine Seele hat, anders als, sagen wir, den eines Maurers; das geht bei mir weit über die gesetzliche Altersgrenze hinaus, auch wenn die körperlichen Kräfte langsam schwinden, weg sind sie nicht, ich komme zurecht. Und Seelen, anders als Mauersteine, wiegen nichts, selbst schwermütige Seelen kann man leichthin aufheben und an bessere Orte tragen. Na ja, ’tschuldigung, ich meine es nicht so. Schwermut ist Mist, sie verdient, ernst genommen zu werden; nur, ich möchte mal so sagen: Auch der Arzt, der für die fleischlichen Krankheiten zuständig ist, reißt nach Feierabend gern mal einen Witz über ein bösartiges Geschwür. Ist ein billiges Ventil.
Zur Zeit der Schneekatastrophe war ich noch Lehrer, nicht auf Gedeih und Verderb, das hatte ich nicht nötig, da war ein kleines ererbtes Vermögen in der Hinterhand. Eine Zeit lang war ich der Meinung, den Beruf gern zu mögen, die Seelen junger Menschen voller Begeisterung zu formen. Es ist wahr, in manchen Augenblicken wunderte ich mich dennoch, warum aus mir nicht etwas anderes geworden war, mein Vater hatte noch in Ostpreußen als Pferdehändler angefangen, und nach dem Krieg hat er sein Geld mit einem Autohaus gemacht. Von einem PS auf hundert PS, he he.
Vaters wirtschaftswunderlicher Goldesel, wenn ich das so metaphorisch gewagt ausdrücken darf, schließlich reden wir eigentlich von Pferdestärken, war der Borgward aus Bremen, ein Auto für Sitzriesen. Kennt man heute gar nicht mehr. Macht aber nichts, ist auch nicht das Thema; jedenfalls – mit dem väterlichen Gewinn aus dem Borgward-Handel in der Hinterhand – hätte aus mir ein Finanzmakler oder Immobilienhändler werden können, und ich habe mich ja auch vorzeitig pensionieren lassen. Seitdem bin ich ehrenamtlicher Seelsorger, das ist noch sportlicher als Pferdehändler oder an der Börse zu zocken.
Gelegentlich arbeite ich auch als behördlich bestellter Betreuer gegen Entgelt, wenn ein Urteil vorliegt, dass ein Mensch nicht mehr allein klarkommt. In dem Fall habe ich dann am Ende, das manchmal rasch ansteht, Nachlässe zu verwalten, da ist es spannend, was ich für Schlaglichter aus den dunklen Ecken eines Lebens zu Gesicht bekomme. Meinem Studienfreund Neuton, der langsam arg vergesslich wird, habe ich auch schon angeboten, im Falle eines Falles für seinen freien Willen einzuspringen. Ehrlich, weiß man denn, wie es kommt? Und das Geld an sich? Nun, da ist weiterhin genügend vorhanden, es macht nicht glücklich, das ist eine andere Geschichte, aber es beruhigt. Es hat ja auch damals, in der Schneekatastrophe gewisse Leute beruhigt, wenngleich nicht unbedingt zu ihren Seelenheil, was deutlich gesprochen mein Thema ist.
Damit genug von Neuton, der Hallig und dem blöden Lockdown und wie man allgemein zu Rande kommt, notwendig, aber beschränkt. Von mir soll hier gar nicht weiter die Rede sein, sondern von dem Schneesturm rund um die Jahreswende 1978/79 und von der geschlossenen Grenze zwischen Schleswig-Holstein und Jütland. Und da möchte ich betonen, dass ich für die Schneemassen und die folgenden Ereignisse nur Zeitzeuge bin und mich keineswegs darin verwickelt sehe, obwohl mir damals im Nachgang gewisse Vorwürfe gemacht wurden, das war sehr ungerecht. Was geschehen ist, wurde mir vielmehr von einer beladenen Seele zugetragen, man könnte also auch sagen, ich bin ein ehrenamtlicher Zeuge. Ich glaube, nach der Schneekatastrophe fing es an mit meiner zweiten Karriere, ich musste in mich gehen und hinter die Maske von anderen sehen, statt empfängliche junge Seelen zu formen.
Wie war das Ende 1978, Anfang 79? Schon vergessen? Zu Weihnachten war noch mildes Wetter gewesen, dann, zwei Tage nach dem Fest, änderte sich die Lage schlagartig. Praktisch so, wie man in der heutigen Krisenzeit sagen kann, auch wenn der Vergleich hinkt, ist mir klar, bis Weihnachten letzten Jahres war noch alles gut, dann kam das Virus aus Wuhan. Vor vier Jahrzehnten kam warme und feuchte Luft aus dem Rheinland zu uns nach Schleswig-Holstein, und hier traf sie auf einen extremen arktischen Kaltlufteinbruch aus Skandinavien. Das Wetter explodierte.
Noch mal für die nüchternen Naturen unter uns: Am Vormittag des 28. Dezembers liegen die Temperaturen um und bei 10 Grad – über Null, wohlgemerkt, das typische weihnachtliche Tauwetter. Und dann ändert sich von einer Stunde auf die andere alles. Eisige Polarluft von unfassbaren 50 Grad minus zieht über Norddeutschland hinweg. Am Boden fallen die Temperaturen bis zum Nachmittag um 30 Grad. Der Ausgleich der Luftmassen erfolgt in einem lokalen Orkan, samt Sturmflut an der Ostsee, von Flensburg bis Rügen, doch das ist schon beinahe nebensächlich. Vergiss die See, es dreht sich alles um den Schnee.
Die weißen Massen, die aus dem Kältesturz der feuchten warmen Rheinlandluft in dem fremden Schleswig-Holstein resultierten, kann man sich gar nicht wahnsinnig genug vorstellen. Sogar im südlichen Randgebiet des Wintertiefs, wo alles schon beinahe gemäßigt ablief, im Hamburger Umland, schnallte sich ein mir bekannter Unternehmensberater am folgenden Wochenende Langlaufskier unter die Füße und drehte über Stock und Stein und Weidezäune, die allesamt unter der weißen Decke verborgen waren, schnee-selige Runden. Nun, der Mann, beruflich ein Streiter für einen Neustart der Borgward-Marke, hatte es gut. Was für ihn ein veritabler Spaß war, dass wurde in einem eng begrenzten Streifen zwischen Südjütland und dem Nord-Ostsee-Kanal katastrophal.
Meine Schule lag im Grenzgebiet, auf Schleswiger Seite, sie war zweisprachig, Deutsch – Dänisch und sogar noch etwas Nordfriesisch kam dazu. Zu der Zeit war ich mit Lydia und ihrer siebenjährigen Tochter aus erster Ehe zusammen, und ich hatte ein Haus auf dem platten Land gemietet, nur wenige Steinwürfe entfernt von der Grenze; ein paar Kilometer westlich verlief die Fernstraße Riebe – Tondern – Niebüll –irgendwann Hamburg. Auch die gewisse Neuton’sche Hallig liegt dann gar nicht weit entfernt von der Westküstenroute im Wattenmeer, doch das nur nebenbei, falls Sie mal gucken wollen, so von oben auf der Deich-Corona, he he, und mit Fernglas …
In meinem – oder von mir aus auch unserem damaligen – Domizil wetterten wir zu dritt die Katastrophe ab, Lydia, Stieftochter Simone und ich, vom Wetter überrascht, doch gut eingepackt und leidlich mit Viktualien versorgt. Auch eine Tiefkühltruhe half, die Nahrungskette intakt zu halten, eigentlich überflüssig, man hätte Fleisch, Gemüse und Speiseeis auch einfach in den Garten werfen können, um Süß und Sauer später aufzutauen. Lydia war leicht gehbehindert, eine geringfügige Fehlstellung des Beckens, doch alles paletti, wie man in Corona-Zeiten so schön sagt; da für uns mehr oder weniger Ausgehverbot herrschte, spielte das Hinkebein keine Rolle. Zwischendurch fiel der Strom aus, weil die Überlandleitungen unter der Schneelast zusammenbrachen, das geschah indes nie lange genug, um uns wirklich in Bedrängnis zu bringen. Wir spielten viel Mensch-Ärgere-Dich-Nicht.
Und jetzt komme ich zu der Begebenheit, die ich nur vom Hörensagen kenne, sozusagen aus meinem privaten Beichtstuhl. Drei Menschen haben sich ihre Sicht der Dinge von der Seele geredet, einer kam aus eigenem Antrieb zu mir, die beiden anderen habe ich danach aufgesucht, vielleicht in gutem Glauben, vielleicht aus schädlichem Eifer. Jedenfalls erlaube ich mir nun, unter dem Schutz geänderter Namen und der Patina der Vergangenheit, verschiedene fremde und intime Perspektiven einzunehmen.
Wie heißt es so schön? Die wahren Namen sind der Redaktion bekannt. Okay, dann spiele ich jetzt mal Redakteur und breite einfach das Resultat meiner Recherche aus. Einzig und allein im letzten Moment, als ich den Schneemann sah, kann ich als Augenzeuge gelten, aber wofür?
Wir schreiben also das eisige Katastrophenjahr, es sind die bewussten letzten Tage im Dezember. Ein junger Mann aus Hamburg, nennen wir ihn Ulf, ein Student der Erziehungswissenschaft, eben vor dem Abschluss, ein fleißiger, wenngleich etwas labiler Mensch mit guten Noten und besten Aussichten, hatte – zusammen mit Freundin und anderen Studis – in der Woche zwischen Weihnachten und dem Silvesterabend hoch oben an der dänischen Nordseeküste einige Ferientage verbracht. Bevor ich verrate, wie er in die Bredouille geriet, meteorologisch wie psychologisch, muss ich zwei, drei Dinge ins Bewusstsein heben, sonst wäre das Folgende nicht recht verständlich. Das erste ist nochmals die enge regionale Begrenzung des Schneeüberfalls. Oben im jütländischen Norden, in Ulfs Ferienrevier, war, entgegen der Intuition, das Klima weiterhin unaufgeregt, draußen erfrischend, drinnen hyggelig, also dänisch gemütlich, ganz wie erwünscht.
Das zweite ist der damalige technische Stand des Automobilwesens. Ulf besaß einen klapprigen alten VW Käfer, der Wagen fuhr, wohin Ulf wollte, so weit, so gut, indes tat es der Käfer mit einigen, für die Geschichte erwähnenswerten Randbedingungen: Die Heizung arbeitete so lala, Fenster und Türen schlossen nicht vollständig, irgendwo zog es immer, womöglich sogar vom durchgerosteten Unterboden her. Nun ja, in diesem Tenor ging es weiter, wenigstens besaß der Käfer ein Autoradio, das mit etlichen Störgeräuschen auf einen Empfang ausgerichtet werden konnte, oben in Jütland natürlich nur unverständliches dänisches UKW. Ulf war das gleich, er wollte ohnehin kein Radio hören, Fernsehen auch nicht genießen, sein Ideal und das der ganzen Gruppe war es, für ein paar Tage die große weite Welt auszublenden, nach innen kuscheln, nach außen nuscheln, denn das war eine wichtige Ingredienz des Hyggeligen.
Gute Vorsätze und Hoffnungen gibt es wie Sand am Meer, und genauso werden sie vom seelischen Wind und Wetter hin- und hergeworfen und gehen auch leicht verschütt. Zumindest für Ulf war das Hyggelige dann doch nicht in Reichweite. Wäre die seelische Stimmung besser geraten, und jetzt komme ich mit meiner Fachlichkeit ins Spiel, der hoffnungsvolle künftige Pädagoge wäre von der sich anbahnenden Wetterkatastrophe gar nicht tangiert gewesen. Doch Ulf hatte eine Freundin zur Seite, auf die er sich viel zu schnell eingelassen hatte. Die Trennung von seiner Frau Lotte, nach sieben Jahren des Zusammenseins, war in keiner Weise verkraftet. Ulrike, die Neue, lange rote Haare, war der gleiche Typ wie Lotte, die frühere Gefährtin, und was nun folgte, war entweder logisch oder tragisch, leider passte Ulrike überhaupt nicht zu ihm. Während das nordjütländische Wetter gemäßigt blieb, ging die seelische Stimmung des Paars in den Keller.
Das wirkte sich auf die ganze Gruppe aus, drei Zweierbeziehungen und ein bedauernswerter Single insgesamt, und so waren alle froh, als Ulf und Ulrike beschlossen, noch am Silvestertag abzureisen. Ulf hatte nämlich eine Einladung in petto, die er zwar dankend ausgeschlagen hatte, aber das war kein Problem, im Zweifel galt sie weiterhin. Freunde gaben eine große Party zum Jahreswechsel in Kappeln an der Schlei, und Ulf hoffte, dass er dort mit seiner Neuen beim Feiern wieder in bessere Gleise geraten würde oder dass sie beide dort notfalls mehr Raum zum Ausweichen hätten als in dem hyggeligen Dänenhaus, mitten in der Sandwüste der Nordsee-Wanderdünen.
Ich meine, die Idee war gar nicht so schlecht, denn Einsamkeit, das weiß ich als Seelsorger, kann was Gutes sein, wenn man zu sich kommen möchte. Doch eine Einsamkeit zu zweit, in der man sich nicht versteht, ist von doppeltem Übel.
Nach einem Frühstück mit dänischen Rosenbrötchen und roten Pölsern, was man mit eisch rot gefärbten Würstchen übersetzen sollte, und mit Erdbeermarmelade in der gleichen fröhlich roten Anmutung, brachen Ulf und Ulrike zu ihrer Fahrt nach Süden auf. Der Käfer hatte übrigens auch einen Namen, er hieß Alf, und um es gleich zu sagen, der brave Alf tat, was er konnte, comme ci comme ça, und ließ das Paar im Rahmen seines Vermögens nicht im Stich. Das Problem waren Herrchen und Frauchen und die lieben Miturlauber, die Adieu winkten, heilfroh, die faulen Äpfel aus dem Korb los zu sein. Niemand hatte einen blassen Schimmer von der Katastrophe, die sich bereits voll entwickelte, und auf deren Zentrum Alf mit seinen beiden Fahrgästen nun zusteuerte.
Das Klima außerhalb und innerhalb des Automobils wurde ein wenig frostiger, je weiter sie nach Süden vorankamen, doch war das kein Grund, sich zu wundern, schließlich war Winter. Das Paar schwieg sich an und dachte stur nach vorn, doch in Riebe war unvermutet Schluss mit der Anfahrt zur lustigen Silvesterparty. Alf traf samt Fahrgästen auf eine Straßensperre, bemannt mit dänischer Polizei. Beide Seiten waren gleichermaßen verblüfft, die einen von der kompletten Ignoranz der deutschen Touristen, die anderen von der voraus liegenden Unwetterlage und den behördlichen Maßnahmen, denen sie nun zwangsweise unterlagen und die im Wesentlichen besagten, dass sie Riebe bis auf weiteres nicht mehr verlassen durften.
Ulf fiel, sozusagen wie der Schnee, aus allen Wolken. Ulrike erlitt einen Weinkrampf. Die schöne Studentenparty zum Jahreswechsel glitt in die Gefilde des Unerreichbaren, was überhaupt das Merkmal einer anständigen Katastrophe ist, dass eben noch selbstverständliche Dinge außer Reichweite geraten. Ein dänischer Polizist, vielleicht ganz Kavalier angesichts der weinenden Ulrike oder auch nur Freund und Helfer im allgemeinen, so wie ich einer bin, geleitete das Paar zum nahe gelegenen Domhotel Riebe. Es hatte über den Jahreswechsel geschlossen, und das galt angesichts des Unwetters praktisch für die ganze Stadt, sie war dicht wie die nahe gelegene deutsch-dänische Grenze. Heute würden wir sagen: ein blöder Lockdown, ich wiederhole mich, damals kannte man den Begriff noch nicht.
Allerdings hatte das Domhotel Riebe einen Notdienst eingerichtet, denn ein anderes deutsches Paar war vor Ulf und Ulrike dort gestrandet, und zwar am Ende eines regulären Aufenthaltes, sie hatten bereits die Feiertage im Hotel verbracht und hatten dann nicht mehr wie geplant abreisen können. Im Ergebnis öffnete das Hotel seine Türen auch für die neuen Ankömmlinge, und so fanden sich die beiden Studis im Handumdrehen an einem Ort wieder, wie sie es sich nicht hätten träumen lassen. Oder vielmehr, es war tatsächlich wie ein Traum, als der Kellner, der den Notdienst schob, ihnen nicht nur das prächtige Zimmer wies, in dem sie nächtigen würden, sondern auch den Saal, in dem sie heute Abend speisen sollten, eine Räumlichkeit, himmelhoch, holzgetäfelt und ausgemalt, feudal und altehrwürdig. Kurzum, sie waren nunmehr quasi Ehrengäste in einem Hotel, das wie ein Schloss daherkam, und zur Tafel gebeten wurden sie in einem ritterlichen Remter, vulgo dem festlichen Speisesaal.
Seit der Fahrt mit dem schwachbrüstigen Käfer Alf und dem erzwungenen Abbruch ihrer Reise, hatte die Situation also hoppla hopp ins Fabelhafte gewechselt, doch niemand, der mal ein Märchen gelesen hatte, würde behaupten, das sei gleichbedeutend mit der Abwesenheit von Stress. Oh, nein, das verquere Seelische, der säuerliche Beziehungsfrust, fraß unter den äußerlichen Ablenkungen, der Augenweide und Hüttenpracht, weiter, und gegen 20 Uhr fanden sich Ulf und Ulrike in schwankender Verfassung zur Silvester-Abendtafel ein. An einem Tisch in der Saalmitte saß schon das andere Paar, und der Kellner fragte lächelnd, ob die Herrschaften gemeinsam speisen wollten, was – bedauerlicherweise, sage ich als Berichterstatter mit meinem Wissen und meiner Moral – allgemein bejaht wurde. Die Notgemeinschaft beschloss sogleich, sich angesichts des gemeinsamen Schicksals zu duzen, und das Beste draus zu machen, auch im Hinblick auf eine dem Jahreswechsel angemessene feucht fröhliche Stimmung, leere Worte, he he, wie sich herausstellen sollte. Denn die anderen Tischgäste lebten ebenfalls in einer negativen, spannungsgeladenen Zweisamkeit, heute würde ich sagen, es hätte dringend meiner Intervention bedurft.
Die Fremden, Hans Gerd und Marlene, waren Anfang Vierzig respektive Mitte Dreißig und daher bereits länger in Lohn und Brot; Hans Gerd in leitender Funktion an einer Schule und sie im kommunalen Dienst; und ihnen gegenüber wirkte das Studi-Pärchen jünger als es wirklich war. In meiner Funktion als Reporter oder Rapportierender will ich sofort kommunizieren, dass Hans Gerd mir von früher bekannt war, doch befangen bin ich deshalb noch lange nicht, also weiter im Fluss des Geschehens.
Alle vier unfreiwilligen Gäste registrierten die Spannungen am Tisch, es war nervig, vielleicht sogar ein wenig niederschmetternd, enttäuschend allemal, und während des Essens waren sie bemüht, ihr Gespräch in den allgemeinsten Gewässern zu halten und keinesfalls auf eine Klippe zu laufen. Marlene zog ein Bein nach, Ulf registrierte es, als sie aufstand und zur Toilette ging. Mehrfach stießen die beiden Paare miteinander an, erst auf den Abend, blah blah, dann auf das Hotel, auf ihre „Rettung“ und schließlich darauf, alsbald weiterfahren zu können und in die gewohnten Gleise zurückzukehren, und ich vermute, alle sehnten sie im Stillen die Mitternacht herbei, wenn sie ein letztes Mal die Gläser heben müssten, um dann ohne große Entschuldigung ins Bett zu gehen.
Doch es sollte völlig anders kommen. Irgendwann zu späterer Stunde registrierte Ulf verblüfft, dass sich Ulrike auf spezielle Weise mit Hans Gerd unterhielt. Er schaute genauer hin und sah, wie sich ihre Wangen gerötet hatten, hoffentlich nur vom Wein, allerdings glänzten ihre Augen, ein weiterer irritierender Aspekt, sie sprach schnell und zwischendurch blitzten ihre verflucht hübschen Zähne auf, wenn sie lächelte. Alarmiert schaute Ulf zu Marlene hinüber, ihre Blicke trafen sich und huschten gleich wieder in verschiedene Ecken, doch Ulf war klar, dass sie das Gleiche bemerkt hatte wie er. Hans Gerd lachte und riss einen guten Witz. Der ganze Tisch war amüsiert, Ulf lachte tapfer mit und gab seinerseits etwas zum Besten, worüber alle pflichtschuldig schmunzelten. Wie ein Strohfeuer fiel die allgemeine Kommunikation der Notgemeinschaft wieder in sich zusammen, nur auf einer Ecke loderte es.
Mit großer Geste bestellte Hans Gerd Champagner für alle. Der Kellner verabschiedete sich und ließ noch eine zweite Flasche Schampus und diverse Weinvarietäten auf der Anrichte zurück. Ulf und Marlene schauten sich an und schwiegen, doch sie erkannten an den schmalen Lippen und den Augen des anderen den Vorsatz, durchzuhalten und dieser Sache ein Ende zu bereiten. Es wurde Mitternacht, die Gesellschaft im Rittersaal läutete den Jahreswechsel mit der zweiten Flasche Champagner ein, und dann machten Ulf und Marlene unisono den Vorschlag, die Tafel aufzulösen.
Nun, Hans Gerd und Ulrike dachten gar nicht daran; und während der Wein den Schweigsamen jetzt schlechte Laune machte, beflügelte er die Schwatzbude, die beiden hatten mittlerweile alle Rücksicht fallen gelassen und hockten sich beinahe auf der Pelle. Gegen ein Uhr stellten Ulf und Marlene ihre Bemühungen ein, sie wünschten eine gute Nacht und zogen sich, jeder für sich allein, auf ihre Zimmer zurück.
Am nächsten Morgen lagen die Partner richtig sortiert in ihren Betten, jedoch in steinschwerem Schlaf. Wie lange die beiden ungetreuen Tomaten noch aufgeblieben waren, ob sie sich geküsst hatten, schwer gefummelt, oder ob gar ein Liebesakt das neue Jahr eröffnet hatte, ein Verkehr in einem Promillebereich, der andern Orts den Führerschein kosten würde, war und blieb ihr Geheimnis. Ulf und Marlene trafen sich um halb zehn Uhr morgens zum Frühstück im Rittersaal, den Kaffee brachte eine freundliche Kellnerin, doch der Ober vom Vortag war ebenfalls anwesend. Bislang hatten die beiden Abgehängten nichts verabredet, auch dieses Zusammentreffen war noch rein zufällig und holprig am Anfang, doch nun wurden sie energisch und starteten einige Pläne, sie entdeckten Gemeinsamkeiten und wollten sich nicht mehr die gute dänische Butter vom Brot nehmen lassen.
Beide schauten sie erstaunt auf den gedeckten Tisch, sie hatten sich unversehens bei den Händen gefasst, doch in diesem Moment, als es ihnen bewusst wurde, kam keine Verlegenheit auf, sie nickten vielmehr und bekräftigten mit einem forschen Händedruck und einem seligen – oder dümmlichen? – Lächeln alle Verabredungen. Insbesondere versicherte Marlene, dass kein guter Gedanke, der an diesem Frühstückstisch geboren wurde, in seiner Materialisierung am Geld scheitern sollte, falls Ulf als Student in der Hinsicht ein wenig unbeweglich sei. Ulf merkte, dass ihn Marlenes kleine Behinderung gar nicht störte.
Als Hans Gerd und Ulrike nach und nach am Tisch auftauchten, einsilbig und mit roten, zugequollenen Augen, ein wenig schmeichelhaftes Bild des Lasters abgebend, verkündete Ulf, dass er noch am selben Tag abreisen werde, und zwar solo. Die Verwunderung darüber war allgemein, doch die Proteste hielten sich ebenso allgemein in Grenzen. Hans Gerd bot sofort an, Ulrike dann in seinem Volvo mitzunehmen. In unserem Volvo, sagte Marlene. Natürlich, sagte Hans Gerd, wir drei. Beinahe war es für Ulf wieder das Gleiche wie in dem Ferienhaus an der Nordseeküste, ein halber Rauswurf hinter lächelnden Gesichtern, insbesondere Ulrike schien keineswegs unglücklich über seinen Abgang zu sein. Fragen nach der Machbarkeit der Weiterreise, nach Ulfs Überlegungen im Einzelnen, wurden nicht gestellt.
Noch vor dem Mittag absolvierte der Reisende in spe einen Rundgang durch die Stadt und überzeugte sich, dass an diesem Neujahr keine Polizisten auf Riebes Straßen Dienst taten, zumindest die Straßensperre war dem hyggeligen Feiertag zuliebe unbesetzt. Gleich nach der Rückkehr ins Hotel nannte Ulf sein erstes Etappenziel, es war, ein wenig vage, die Autobahn, die von Flensburg auf deutscher Seite entlang der dänischen Ostseeküste nach Norden führte – oder eben umgekehrt in den Süden. Dort würde er noch auf dieser Seite der Grenze Station machen, anders ging es nicht, entweder in einer Stadt wie Apenrade oder in einem Motel oder einer Autobahnraststätte, und sobald die Autobahn wieder für den Grenzverkehr freigegeben war, würde er unverzüglich in Richtung Hamburg aufbrechen. Ulf hatte den Eindruck, so seine Rede, dass sich die Lage mit etwas Glück sehr bald normalisieren könnte, schneller jedenfalls als gedacht. Das wunderschöne, gemütliche Riebe, so Ulf, würde ihn darin bestärken, in dieser kleinen Stadt sei das seltsamste Resultat des Wintereinbruchs mittlerweile wohl ihr Hotel mit seinen außerplanmäßigen Gästen.
Nach dieser Eröffnung verkündete Ulf einen hastigen Aufbruch, er verzichtete auf die anstehende warme Mahlzeit, statt dessen schrieb er seine Adresse für Marlene auf, und sie gab ihm ihre Visitenkarte. Marlene versprach, sich um die Rechnung des Hotels zu kümmern und sie ihm dann nachzuschicken. Und das war es auch schon, Ulf verabschiedete sich samt Alf und seinem Rucksack. Marlene – und nicht etwa Ulrike – begleitete ihn zur Hoteltür. Ihr Lächeln hatte einen leicht grimmigen Zug und sie wünschte ein Auf Wiedersehen! Mit einer gewissen Betonung, einem Hiatus hinter dem Wieder. Dann gesellte sie sich zu ihrem Mann und der fremden Studentin, und die Zurückgebliebenen unterhielten sich über alles Mögliche, nur nicht über Ulfs Abreise, fast konnte man sagen, aus den Augen, aus dem Sinn, he he.
Ulrike blieb weiterhin in bemerkenswert guter Stimmung. Die drei aßen zusammen Mittag, Tafelspitz, sehr lecker, obwohl unerheblich für den Gang der Dinge, sagen wir noch, ein trockener portugiesischer Rosé dazu; anschließend begab sich Marlene aufs Zimmer, und die Silvester-Nachteulen hatten den Rittersaal schon wieder für sich. Ob sie weiter Rosé tranken oder sich zur Abwechslung an Kaffee hielten, ist nicht überliefert. Ich glaube aber, der coole Hans Gerd war ein wenig beschwipst, ich kenne ihn doch, den Schwerenöter und Lockdown-Verächter, oder hatte er sogar richtig einen im Kahn? Na denn, prost.
Am frühen Nachmittag traf ein Anruf für Hans Gerd im Hotel ein, das war verwunderlich, wussten doch nur wenige Menschen, wo er sich im Urlaub aufhalten würde, am ehesten noch seine kleine Tochter Simone aus erster Ehe. Über den Inhalt des Gesprächs ließ er nichts verlauten, doch das Telefonat schien ihn völlig aus der Bahn geworfen zu haben. Jetzt war er es, der sofort aufbrechen musste, die Sache, was immer es war, duldete keinen Aufschub; er versicherte, dass er bald zurückkehren würde, doch er sah sich nicht in der Lage, genauere zeitliche Angaben zu machen. Hatte er in seiner Konversation mit Ulrike eben noch wie ein Wasserfall geklungen, so war der Redefluss versiegt, um nicht zu sagen, vereist. Was meinte der Wetterbericht?
Die beiden Frauen verabschiedeten ihn ratlos, winkten seinem dunkelblauen Volvo nach, und dann saßen sie sich in dem prunkvollen Saal gegenüber, verlassen und allein, Marlene bemerkenswert gefasst, während Ulrike erneut zu weinen begann. Die seelische Schaukel, sage ich als Fachmann, denn als Stimme bin ich ständig anwesend in dieser Geschichte, überstieg deutlich ihre Kräfte. Eigentlich wollte sie diesen Ort nur noch verlassen, ja, sie beklagte es heftig, dass sie nicht mit Ulf gefahren war.
Marlene gab sich verständnisvoll und hilfreich wie eine gute Fee, natürlich, warum sollte es keine solchen märchenhaften Figuren in diesem Schloss geben? Sie schlug Ulrike vor, ein Taxi nach Apenrade zu nehmen. Dort konnte sie sich einquartieren und den Zug nehmen, sobald die Strecke wieder frei war, geradeso, wie Ulf es vorgezeichnet hatte, praktisch in seinen Fußstapfen, wenn auch nicht mit ihm zusammen. War das kein Vorschlag? Und als Ulrike zögerte, gab Marlene ihr zu verstehen, dass man sich in einer Notlage wie dieser gegenseitig helfen müsse, mit anderen Worten, sie zeigte sich bereit, das Taxi, die Unterkunft und sogar die Fahrharte nach Hamburg zu bezahlen. Ulrike war sprachlos vor Dankbarkeit. Marlene bat den Keller, ein Taxi zu bestellen und handelte mit dem Fahrer einen Fixpreis aus. Dann legte sie 20 Mark oder das Äquivalent in Kronen drauf und bat den Fahrer, sicherzustellen, dass sein weiblicher Fahrgast wie gewünscht ein Zimmer in Apenrade finden würde.
Auf die Weise saß sie schließlich allein bei einem Kaffee im Rittersaal, jedoch nicht lange, denn Ulf erschien kurz darauf wieder im Domhotel. Sicherlich hatte er eingesehen, dass er Alfs Fähigkeiten nicht überstrapazieren durfte. Marlene lächelte ihm aufmunternd zu, sie schien nicht wirklich überrascht zu sein. Ulf lächelte zurück, er schaffte seinen Rucksack in das alte Zimmer, doch die Frage, ob es im Anschluss zu mehr diente als zur Gepäckaufbewahrung, sei dahin gestellt. Die Informationen sind vage, und es ist auch gar nicht nötig, hier tiefer zu graben oder gar in voyeuristischer Weise zu spekulieren. Betten sollten Betten bleiben und keine allerweltigen Spielplätze in YouTube-Manier sein. Fest steht, dass Ulf eine unvermutete Sympathie zu Marlene gefasst hatte, und das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Hans Gerd blieb auch am folgenden Tag verschwunden. Am Ende des Lockdowns, kaum dass die Grenze wieder geöffnet war, gab Marlene eine Vermisstenanzeige bei der Polizei in Riebe auf. Dann ließ sie sich von Alf kutschieren und passierte die Grenze bei Flensburg in Ulfs Begleitung und offenbar in bester Laune. Von Flensburg bis zum Kanal, so die Anweisung der Behörden, fuhren sie im Konvoi, vorneweg und am Ende ein Bundeswehrfahrzeug, dasjenige an der Spitze war in ihrem Fall ein Bergepanzer, durchaus beruhigend, wenn man rechts und links der Autobahn das Schneegebirge bedachte, das sich mehrere Meter hoch türmte. Ab Rendsburg, also ab der Autobahnbrücke über den Nord-Ostsee-Kanal, waren sie wieder auf sich gestellt. Ulf brachte Marlene zum Hamburger Hauptbahnhof, sie musste nach Recklinghausen, beim Abschied sollen Tränen geflossen sein. Doch ist das nicht schlimm, es gibt Hinweise, dass Ulf in den nächsten wärmeren Monaten, um nicht zu sagen, Jahren, mehrfach in dem italienischen Landhaus gewesen ist, das Hans Gerd und Marlene ihr eigen nannten. Marlene trainierte ihr Bein in dem toskanischen Hügelauf und –ab, und Ulf assistierte ihr dabei.
Ach ja, Hans Gerd, der hälftige Landhausbesitzer? Nun, er wurde vorläufig nicht wieder gesehen. Das kommt vor bei Katastrophen.
Und jetzt Schluss mit der Redakteursrolle, ich komme als Privatperson wieder ins Spiel, lassen Sie mich erzählen. Ich erwähnte es schon, wir hatten es in der ganzen Zeit einigermaßen hyggelig, auch wenn wir nicht wirklich in Dänemark wohnten. Die Straßen wurden nach und nach geräumt, ansonsten blieb die Schneedecke liegen. Kein Tauwetter unterbrach die Frostperiode der nächsten Monate. Im Februar erfolgte sogar ein weiterer heftiger Wintereinbruch, der Himmel öffnete einmal mehr sein großes Kühlhaus, und wir kamen erneut in den unfreiwilligen Genuss von Schnee und Eis. An der Ostsee standen die blanken Schollen bis zu zwei Meter hoch an den Strand; was für eine Vorstellung, möchte ich meinen, in den heißen Zeiten von Corona und Klimakrise. In Husum, noch südlich von Niebüll, lag der Schnee in diesem Jahr bis zum 20. Mai. Aber so weit voraus wollen wir gar nicht schauen, nur bis zum kalendarischen Frühlingsanfang.
Im März kam in einer zugewehten Senke, gar nicht weit von mir entfernt, aber noch eben auf der dänischen Seite, eine Hand aus dem Schnee. Die Leute liefen aus allen Richtungen zusammen, ich war unter ihnen, als Polizei und Feuerwehr den Schneemann vorsichtig aus seiner weißen Hülle befreiten. Er kam nach Hamburg, ins Rechtsmedizinische Institut des UKE, unter die Fittiche des Vorgängers von Professor Klaus Püschel, der heute die Corona-Toten begutachtet. Ja, die Pathologen, ich betrachte sie voller Respekt als die allerletzten Zeugen einer Lebensreise, sie treten in Aktion, wenn ich den Löffel abgebe, weil die Seele futsch ist.
In diesem Zeitpunkt hatte der Korpus bereits einen Namen, ich habe den Schneemann mit den angegrauten Schläfen und dem energischen Kinn unter freiem dänischem Himmel getauft, es war der Hans Gerd aus meiner privaten Beziehungskiste. Diagnose: Tod durch Erfrieren, nicht überraschend jetzt, aber auch nicht schön für einen Schneemann.
Und gut ist, die weiteren Umstände dieses Ablebens, etwa die Vermisstenanzeige seiner damaligen Frau Marlene und der vorangegangene Fund des Volvos, sind mir mittlerweile piepegal oder sie waren es mir schon immer. Von mir aus hätte der vielversprechende Schulleiter gern am Leben bleiben und ewig mit Marlene zusammenhocken können, mir wäre damit gedient gewesen, zumindest war das meine damalige Ansicht.
Es ist an der Zeit, den flirtenden Gast Hans Gerd aus dem Domhotel Riebe außen vor zu lassen und zu erklären, was sein Schicksal für mich und die weiteren Bewohner meines Landhauses bedeutete. Das war nämlich nicht wenig. Wir kannten uns aus der Zeit seiner Tätigkeit an einem Gymnasium in Kiel, also ein weiterer Lehrer. Doch Hans Gerd zog es in die Heimat zurück, er stammte aus dem Ruhrpott, aufgewachsen in Dorsten, damals ein Kaff mit einem Kohlebergwerk, und er war dann wieder aus dem Norden dorthin zurückgekehrt, wobei er allerdings Lydia und Kind und Kegel in Kiel zurückgelassen hatte. Denn so dumm kann es laufen, der Leiter einer Gesamtschule in Recklinghausen und Dänemarkfan war der frühere Mann meiner Lydia, oder mit anderen Worten der Partner und Ex-Liebhaber einer weiteren gehbehinderten Frau, und, folgenreicher noch, Simones Vater. Und nun war er tot. Das war das Schlimme, der Todesstoß meiner Beziehung zu Frau und Stieftochter. Dabei bin ich ganz unschuldig, was leider oftmals weit schwerer zu beweisen ist als eine Schuld.
Da konnte ich mir zuhause den Mund fusselig reden, ich hatte nun weiß Gott nichts getan, was mit der persönlichen Katastrophe in Verbindung stand, weder im Guten noch im Schlechten, doch unverkennbar blieb an mir und meinem Reden kleben, dass Hans Gerd am Tag seines Todes auf dem Weg zu uns gewesen war, und dass diese Absicht ihn folglich das Leben gekostet hatte. Wie war es möglich, dass er derart leichtsinnig und blind für alle Gefahren gehandelt hatte? Vom Wein befeuert? Ach, das ist albern. Es gab nur eine Erklärung, die uns allen einleuchtete, mir leider auch, die aber sofort alle Fragen wieder neu aufwarf. Hans Gerd musste Angst um seine Tochter gehabt haben, und zwar eine sehr große und akute Angst, die ihn sämtliche Gefahren beiseiteschieben ließ.
Soweit so gut oder vielmehr so schlecht, in dieser Vermutung gingen wir drei konform. Aber warum, was war der Grund für diese Angst gewesen? Ich hatte absolut keine Vorstellung und meine beiden Frauen, die große und die lütte, eigentlich auch nicht. Aber sie entwickelten einen unguten Verdacht, gegen den ich nicht ankam und der sich weiter verfestigte, nämlich ich müsse auf irgendeine, ihnen zwar nicht genau bekannte, aber verdammenswerte Weise schuld an dem Unglück sein.
Eines Tages im Mai, etwa um die Zeit, als in Husum der letzte Schnee schmolz, saßen wir beim Abendessen zusammen, und Lydia und Simone sprachen es offen aus. Sie würden das Stochern im Nebel nicht mehr ertragen. Ich sollte endlich mit der Sprache rausrücken und sie von der Grübelei erlösen. Eine Antwort darauf, die Lydia und Simone zufriedenstellen würde, musste ich im Dickicht der Verdachte weiterhin schuldig bleiben. Ich schwieg zu allem. Danach war in meinem kleinen Haushalt nichts mehr, wie es vorher gewesen war, und noch bevor sich das Jahr 1979 seinem Ende zuneigte, zogen die beiden aus. Der Schneemann Hans Gerd war meine persönliche Schneekatastrophe.
In dieser Zeit begann ich, mich peu à peu von meinem Lehrerdasein zu verabschieden und mich dem Seelenleben mit allen seinen Verästelungen als Neigungsgebiet zuzuwenden. Bevor ich mich aber Dritten als Seelsorger andienen konnte, musste ich erst mit der Leiche in meinem kühlen Keller fertigwerden. Dabei half es mir paradoxerweise, dass Mutter und Tochter nicht mehr da waren, dadurch konnte ich eine ganze Menge an Emotionen aus meinen Überlegungen heraushalten, verquere Gefühlsregungen, die meinen nüchternen Schlussfolgerungen womöglich gleich wieder den Garaus gemacht hätten, noch bevor eine Geschichte daraus wurde, meine Version, das will ich zugeben.
Nach allem, was ich mir zusammengestrickt habe, kann man bei dem, was im Domhotel Riebe geschah, nicht von einem Kriminalfall im engeren Sinne reden, falls man das Wort überhaupt in den Mund nehmen will, vielmehr handelte es sich um den Zusammenstoß mehrerer inkompatibler Seelen mit einem folgenden Kollateralschaden, den niemand gewollt oder auch nur erahnt hatte. Wobei man sich getrost die Frage stellen kann, ob nicht letztlich alle Seelen inkompatibel miteinander sind, nur gibt es zum Glück dafür Ausgleichsmechanismen, aber das ist optional. Wie ich andeutete, erwachte damals mein Interesse an der innerlichen Fürsorge. Und damit ist dieses Unglück zu Ende, ein tragisches Geschehen, über das die Zeitläufte längst hinweg gegangen waren, und das in meiner Seelenlandschaft während der Corona Pandemie unvermutet wieder zum Vorschein kam, kann man sagen, wie durch eine Schneeschmelze?
Neuton Lorenz habe ich über dem ganzen Bohai nicht vergessen. Eigentlich habe ich sogar die meiste Zeit an ihn als Adressaten gedacht, so als ob ich ihn in meiner Redakteursrolle direkt ansprechen würde. Dabei ärgert er mich, er fährt nicht mehr mit mir Rad, und die Arche Warder mit dem alten Viehbestand muss ich allein besuchen. Neuton trinkt temporär auch keinen Geelen Köm mit mir. Was bleibt zu tun?
Logisch, da schicke ich ein PDF dieses historischen Unwetterberichts rüber auf die Hallig; die körperlose Elektronik darf den Lockdown und die nasse Rumgrenze passieren, ich danke auch dafür. Soll der alte Neuton seine Leute bei einem heißen Grog damit unterhalten. Und wenn sie beim Zuhören an das geschlossene Domhotel von Riebe denken und an die Menschen, die dort gestrandet waren, und wenn sie dann vielleicht die Augen verdrehen und gen Himmel richten, und dort draußen, vor den geschlossenen Fenstern und dem Seewind zieh’n die Ringelgänse in diesem Corona-Frühjahr mit rauem Schrei nach Norden, und wenn sie dann ein bisschen frösteln, die alten Knaben und Knäbinnen, selber schuld, he he. Es ist nie ungefährlich, sich selber allzu gründlich zu isolieren. Kommen die Keime nicht von außen, dann wühlen sie sich von innen durch den Schmodder und Schutzwall. Und dann kommt das unschöne Hartpuckern, Neuton. Das sagt ein alter Seelentröster …
Zu weiteren Teilen des Schleswig-Holsteinischen Dekameron
Schreibe einen Kommentar