Schleswig-Holsteinisches Dekameron: Teil 40
Wolf Martin Sökland erzählt:
Von Wolfgang Butt
„So wie dem einen nix über seine meerumschlungene Hallig gein doad“, begann Wolle Sökland mit einem ironischen Zungenschlag seine von ihm selbst schon mit Ungeduld erwartete Erzählung, während er einen Rest Rotwein im Glas kreisen ließ, „so lässt der andere nichts auf die Einzigartigkeit seiner wechselnden Wahlheimaten kommen, if you know what I mean. Deshalb erlaube ich mir, euch eine weitere Geschichte aus ‚meinem‘ französischen Dorf zu offerieren, das, wie ihr ja inzwischen gemerkt habt, kein Dorf wie jedes andere ist. Wo kämen wir da auch hin, wenn alle Dörfer oder Halligen gleich wären; vive la différence.
Heute geht es um Max, eine Vogelscheuche am kleinen Teich meines Nachbarn Monsieur Bessede in der Nähe von Estansac. Da ich auf meinen Spaziergängen mit dem Hund häufig dort vorbeikomme, habe ich mich mit Max angefreundet und im Laufe der Jahre viel von seinem unerschütterlichen Stoizismus profitiert, den er übrigens in markante Sprüche zu gießen versteht. Mit den Jahren hat Max mir viele Tipps gegeben, wenn mir keine Binsenweisheiten mehr einfielen, um meine Neujahrsgrüße damit zu spicken. Doch auch Max gerät dann und wann aus dem Gleichgewicht, wie ihr sehen werdet. Die Angelegenheit ereignete sich kurz vor meiner Abreise in den Norden. Das Virus hatte den Horizont noch nicht verdunkelt und war noch kein Gesprächsthema.
Max wirkte zerstreut und bedrückt, als ich an jenem Vormittag mit dem Hund bei ihm vorbeischaute. Er schien ein wenig von der Rolle und nicht zu großen Tönen aufgelegt, wie sie ihm sonst nicht fremd sind.
„Mir dreht sich der Kopf“, sagte er. „Oder vielleicht habe ich ihn verloren. Ich würde ihn so gern kühl bewahren und krasse Sprüche absondern, aber so sehr ich ihn mir auch zerbreche, ich weiß nicht mehr, wo er mir steht …“
„Redest du noch von deinem Kopf?“ fragte ich.
„Was denkst du denn?“ gab er zurück. Ich schwieg beschämt und besann mich auf Ernsthaftigkeit.
„Was redest du da?“ begann ich. „Ich kenne dich seit Jahren, deine Gelassenheit, deinen Sinn für Sinn. Was ist passiert? Du, der du immer gute Lösungen und weltmännische Ratschläge für mich auf Lager hast, wenn ich in der Patsche sitze?“
„Kannst du alles vergessen“, erwiderte Max. „Das war einmal. Ich habe mit dem Reiher gesprochen, der jeden Morgen vorbeikommt, der hat Ahnung, und er hat es mir bestätigt. Ich stecke im Schlamassel, und jetzt ist Krise angesagt.“
„Aber wovon redest du?“ wollte ich wissen. „Erzähl mal, ich bin neugierig.“
„Aber es bleibt unter uns, klar?“
„Max, du kennst mich doch. Ich werde schweigen wie ein Grab.“
„Und der Hund, hält der auch die Klappe? Oder wird er es rumtratschen?“
„Der Hund begreift nichts“, log ich. „Außerdem spricht er nur Deutsch. Also hier im Dorf versteht ihn keiner.“
„Okay“, sagte Max. „Also, es ist wirklich der Kopf. Ich glaube, jemand hat ihn mir verdreht.“
„Darf man erfahren, wer dieser Jemand ist. Ist es vielleicht eine Sie?“
„Also gut, du hast Recht“, erklärte Max mit einem Seufzen. „Es ist eine Sie. Ich habe mich verliebt. Aber das bleibt unter uns, klar?“
„Und wer ist die Schöne, kenne ich sie? Wie seid ihr euch begegnet?“
„Ja, das war so eine verrückte Geschichte. Es gab neulich einen Vogelscheuchenwettbewerb auf dem Samstagsmarkt in Lalbenque, natürlich für einen guten Zweck. Sonst hätte ich mich nie zur Verfügung gestellt. Mein Besitzer hatte die Idee, mich teilnehmen zu lassen. Ein Dutzend Scheuchen war angetreten, und dabei ist es passiert.“
„Was für ein Wettbewerb war es denn? Ging es um Schönheit oder ums Scheuchen und Angsteinjagen, um es mal so zu sagen?“
„Das hat mir niemand verraten“, sagte Max. „‚Sei einfach wie immer‘, hat mein Besitzer gemeint. Aber hier sind doch keine Vögel, habe ich protestiert, doch er war überzeugt, dass ich auch ohne Vögel Angst einjagen könnte. Ich wollte aber keine Angst und Schrecken mehr verbreiten, sondern lieber lachen oder zumindest lächeln, weil da neben mir diese Scheuche im roten Kleid stand, die mir so gut gefiel. Auf jeden Fall verging mir jede Lust daran, Vögel oder sonst jemand zu erschrecken.“
„Aber was ist das Problem?“
„Ich habe den Wettbewerb nicht gewonnen“, sagte Max geknickt.
„Nun mach mal halblang, Max“, sagte ich. „Seit wann interessiert es dich, Wettbewerbe zu gewinnen? Du redest um den heißen Brei herum. Sag mir ehrlich: Wo und was ist das Problem?“
„Es bleibt aber unter uns, klar?“
„Klar.“
„Also gut. Ich fürchte, sie weiß von nichts. Seit meiner Kindheit verfolgt mich die Angst, dass eine Frau, die ich liebe, nichts davon ahnt. Ich erinnere mich an meine erste Volksschullehrerin, Mademoiselle Linalie, die ich liebte wie ein Wahnsinniger, ein Wahnsinniger von acht Jahren wohlgemerkt, und ich hatte ihr einen Liebesbrief geschrieben, zusammen mit zwei Klassenkameraden, doch die hatten nur mit unterschrieben. Wir hatten kein Geld für Briefmarken und mussten von ein paar alten Briefen über dem Wasserbad schon gestempelte Marken ablösen. In den Tagen danach beobachteten wir Mademoiselle Linalie und warteten auf ein Zeichen, dass sie unseren Brief mit der Liebesbotschaft erhalten hatte. Ein Lächeln hätte schon genügt, eine freundliche Bemerkung wie ‚Na, Max, in Form heute?‘ An ein Augenzwinkern hätten wir nie zu denken gewagt.
Aber nichts. Sie war gleichbleibend freundlich und machte nicht den Eindruck, dass ihr Leben gerade durch einen Brief, den sie erhalten hatte, eine dramatische Änderung erfuhr. Hatte die Post vielleicht unsere Schummelei mit den bereits gebrauchten Briefmarken bemerkt und den Brief eingezogen, statt ihn zu befördern?
Ich war krank vor Liebeskummer, wenn ich daran dachte, dass unsere Botschaft – und ganz besonders mein Anteil daran – sie möglicherweise nicht erreicht hatte.
Dieses Trauma hat mich mein Leben lang verfolgt: Dass die geliebte Person nichts von deiner Liebe ahnt. Und seit diesem Wettbewerb der Vogelscheuchen auf dem Markt von Lalbenque fühle ich mich wie der Achtjährige von damals, der nicht weiß, was er tun soll.“
„Hör mal zu, Max“, wandte ich ein, „übertreibst du nicht ein bisschen? Sie kann doch nicht völlig ahnungslos gewesen sein, wenn du deine Augen hast sprechen lassen. Ich kenne dich doch. Du bist keiner, der sein Licht unter den Scheffel stellt. Deine Schöne auf dem Markt von Lalbenque hat bestimmt etwas gemerkt. Aber sie kann natürlich nicht wissen, wie ernst du es meinst, und hält sich fürs Erste zurück. Vielleicht solltest du dich erst einmal fragen, ob du dir deiner Gefühle sicher sein kannst. Oder ob du dich irrst. Man kann auch in das Verliebtsein verliebt sein. Mir passiert das gelegentlich.“
„Nein. Ich irre mich nicht“, sagte Max. „Mir dreht sich der Kopf. Das ist das Zeichen, der Reiher hat es mir bestätigt.“
„Und du verlässt dich auf einen Reiher, wenn es um deine eigenen Gefühle geht? Glaubst du, er versteht sich auf solche Gefühlsdinge, ein Tier?“
„Was ist denn mit dir und deinem Hund?“ konterte Max. „Verlässt du dich in Herzensdingen nicht auf ihn?“
„Das ist doch etwas völlig anderes“, entgegnete ich reflexhaft und überlegte, wie ich mich elegant aus der Affäre ziehen könnte.
„Schreib ihr doch einen Brief, wie damals deiner Lehrerin“, sagte ich. „Ich spendiere dir auch neue Briefmarken. Und dann schickst du ihn mit einer Taube.“
„Gute Idee“, sagte Max, „Aber mit den Tauben hab ich’s nicht so, ich glaube, für einen so delikaten Auftrag sind sie nicht diskret genug. Und immer im Schwarm unterwegs, was meinst du, wie da getratscht wird. Nein, ich verlasse mich lieber auf den verschwiegenen Reiher. Er ist übrigens schon eingeweiht und hat für mich herausgefunden, wo sie steht. Zum Glück ist es nicht weit von hier. Sie arbeitet oben auf dem Hügel bei Randier in einem Erbsenfeld, da hat sie noch richtig was zu tun. Mit den Vögeln fraternisieren ist bei ihr nicht drin. Dagegen habe ich hier am See einen ziemlich geruhsamen Job.“
„Und wie ich dich kenne, Max, springt dabei sicher auch ein kleines Liebesgedicht für deine neue Flamme heraus. Also Kopf hoch und ans Werk. Ich drücke dir beide Daumen.“
„Du hast Recht“, gab Max zurück. „Ein kleines Gedicht wäre vielleicht nicht fehl am Platz. Für die zarteren Töne. Aber komm mir jetzt nicht jeden Tag angehechelt und frag nach dem Stand der Dinge. Ich will nichts überstürzen. Alles braucht seine Zeit.“
Dezent wie ich bin, verschonte ich Max eine Zeitlang mit meinen Besuchen, damit er sich in aller Ruhe seiner Herzensangelegenheit und ihrer poetischen Bewältigung widmen konnte. Doch die Neugier juckte, und ich konnte mir nicht verkneifen, meine täglichen Spaziergänge mit dem Hund so zu legen, dass sie nicht mehr bei Max vorbeiführten, sondern am Rande eines Erbsenfeldes auf dem Hügel oberhalb von Randier. Eine Gestalt in einem wehenden roten Kleid stand in der Mitte des Feldes und schreckte die Vögel ab, weit und breit kein Gezwitscher.
Eines Tages sah ich den Reiher. Mit bedächtigen, würdevollen Flügelschlägen stieg er aus dem Tal auf, näherte sich in einer weiten Schleife dem Erbsenfeld und ging neben der roten Gestalt nieder. Eine Weile stand er reglos da, dann schwang er sich wieder auf und flog mit den gleichen unaufgeregten Bewegungen ins Tal zurück. Dort unten lag der Teich und leuchtete im Sonnenlicht. Nicht weit vom Ufer entfernt musste auch Max stehen, aber ich konnte ihn nicht erkennen. Natürlich war ich neugierig, was da wohl kommuniziert wurde, und ich hatte Glück. Am folgenden Morgen, während der Reiher langsam über mich hinweg und hinauf zum Erbsenfeld in Randier flog, redete er laut vor sich hin, um, wie ich vermutete, den Text nicht zu vergessen, den Max ihm zu übermitteln aufgetragen hatte. Zwar konnte ich nicht völlig sicher sein, dass es sich so verhielt, doch die Worte, die der Reiher repetierend vor sich hin krächzte, klangen, wenn man sie anders aussprach, ganz nach Max.
Besser betrunken
von Lust und Liebe mit dir
als nüchtern allein.
Kein Zweifel, das war mein Freund Max, wie er leibt und lebt. Außerdem wusste ich, dass er Haikus liebte.
In den folgenden Tagen konnte ich aus der Distanz beobachten, wie der Reiher in kurzen Abständen mehrfach zwischen dem Tal und dem Hügel hin und her flog. Ich beschloss, darin ein gutes Zeichen zu sehen und fand die Aussicht tröstlich, bei Gelegenheit selbst die diskreten Dienste des Reihers in Anspruch nehmen zu können, falls Max sich bereiterklärte, zwischen dem scheuen Vogel und mir zu vermitteln. Mit den Tauben habe ich es nämlich auch nicht so.“
Suchend blickte Wolle Sökland umher, ob irgendwo in Reichweite noch eine Flasche stand. Er liebte es, Geschichten zum Besten zu geben, doch der Nachteil beim Erzählen war, dass die Zuhörer die Flaschen leerten und sein Glas beim Nachschenken geflissentlich übersahen. Wenn er noch einmal an die Reihe käme, würde er vorher darauf hinweisen, dass als erstes dem Erzähler nachgeschenkt werden sollte.
Zu weiteren Teilen des Schleswig-Holsteinischen Dekameron
16. März 2022 um 10:54
Idee und Umsetzung hervorragend !