SH Dekameron: Der tote Dichter
Georg Simon erzählt:
Von Jörg Rönnau
An einem heiteren Vormittag im Sommer saß ich in der Regionalbahn auf dem Weg nach Kiel, um mich dort am Hafen mit einem lieben Freund zu treffen. Inzwischen waren diese Begegnungen schon so eine Art Tradition und wir trafen uns alle vierzehn Tage in einem netten Lokal am Hafen. Ich schaute aus dem Fenster, die pittoreske holsteinische Landschaft zog an mir vorbei und ließ meinen Gedanken freien Lauf. Freute mich auf die Zusammenkunft mit meinem Freund, der ebenfalls Kriminalschriftsteller war, denn wir fachsimpelten gerne über Literatur und planten gemeinsame Projekte.
»Entschuldigen Sie bitte, aber ist dieser Platz noch frei?«, wurde ich von einer freundlichen Stimme aus meinen Gedanken herausgeholt.
Vor mir stand ein älterer Herr mit einem dichten Vollbart und dunklen Anzug, den man im 19. Jahrhundert zu tragen pflegte. Auf dem Kopf des Fremden thronte ein schwarzer Zylinder und er stütze sich auf einen Spazierstock, dessen Knauf ein silberner Löwenkopf darstellte.
Ohne auf eine Antwort zu warten setzte er sich auf den gegenüberliegenden Platz und lächelte mich an. Ich musste ebenfalls lächeln, denn dieser Kerl amüsierte mich. Der greise, altmodische Herr entpuppte sich als makelloses Abbild des norddeutschen Heimatdichters Klaus Groth, dessen plattdeutsche Geschichten und Reime ich sehr schätze und sein Abbild von Fotos und Gemälden her kannte.
Der Fremde schaute sich im Abteil um und nickte, als ob er sich selbst eine Antwort geben würde.
»Diese neumodischen Lokomotiven sind wirklich komfortabel«, sagte der Oldtimer zu sich selbst und schmunzelte, als er mich ansah.
»Ich freue mich auf Kiel und bin gespannt, wie es in dem Ort heutzutage aussieht, denn ich habe hier lange gewohnt und bin … in diesem Ort gestorben.« Dabei kicherte er etwas verschroben. »Ach, Kiel ist eine sehr schöne Stadt mit einer malerischen Umgebung rund um die schöne Förde.«
Alles klar, dachte ich, der Typ ist wahrscheinlich aus einer Psychiatrie getürmt und nicht ganz richtig im Kopf. Wer läuft schon freiwillig in solch altertümlichen Klamotten herum. Allerdings besaß er eine angenehme, sonore Stimme, aus der man deutlich einen norddeutschen, ja eher plattdeutschen Akzent heraushörte.
Der liebenswerte Verrückte kramte nun ein Zigarrenetui und Streichhölzer aus der Hosentasche. Ich wies mit dem Finger auf das Nichtraucherschild und er schüttelte verwundert den Kopf, steckte die Utensilien aber sofort wieder zurück.
»Was für eine merkwürdige Epoche, aber man hat mir von dieser Gepflogenheit erzählt. Der Zug kommt gleich in Kiel an, darf ich Sie zu Ihrem Freund in das Lokal am Hafen begleiten, denn auch ich habe dort einen Termin?«
Verwundert schaute ich ihn an, woher wusste er? … Aber bevor mein Verstand richtig begriff, antwortete ich bereits: »Sehr gerne, Herr Groth, wir würden uns freuen, mit Ihnen zu plaudern, man trifft ja schließlich nicht jeden Tag so einen berühmten Kieler Dichter.«
Groth schmunzelte verlegen, schüttelte den Kopf und murmelte leise »Ach ja, lang ist’s her!« vor sich hin.
Wir stiegen aus dem Zug aus und verließen den Hauptbahnhof Richtung Kaistraße. Auf dem Bahnhofsvorplatz schaute Klaus Groth staunend auf die viel befahrene Straße und die Taxis.
»Pferdelose Droschken! Kolossal, davon haben mir meine lieben Freunde und Kollegen Jack London und Theodor Storm bereits berichtet.«
Ich schaute Groth an, als sei er der Kaiser von China. Er bemerkte meine Verwunderung und schmunzelte.
»Ich glaube, ich muss die ganze Sache aufklären. Momentan bin ich auf einen Kurzurlaub hier auf Erden, gelegentlich gewährt man uns dort oben eine Auszeit und wir dürfen hierher.« Dabei wies er mit dem Zeigefinger Richtung Himmel und fuhr dann in kreisenden Bewegungen nach unten.
Ich nickte zwar, verstand aber nicht, was er damit meinte, und schob es auf seine psychische Verwirrtheit.
Wir kamen im Lokal an und begrüßten meinen Freund, der bereits an einem Tisch im Außenbereich unter einem riesigen Sonnenschirm saß. Als Klaus Groth sich ihm vorstellte, schaute Kurt mich verwundert an und ich gab ihm heimlich ein Zeichen, dass der Alte nicht ganz richtig im Kopf sei, woraufhin Kurt verstehend grinste.
Groth bestellte sich einen Kaffee und genoss das dunkle Gebräu. Immer wieder ließ der Dichter seinen Blick staunend über die Kieler Förde gleiten. Ich flüsterte Kurt ins Ohr, was mir der Alte unterwegs erzählt hatte, woraufhin Kurt ungläubig den Kopf schüttelte.
Groth schaute immer noch auf die Förde und beobachtete die vielen Segelboote und Schiffe, die an diesem schönen Sommertag darauf im leichten Südostwind kreuzten. Leise formte Kurt mit seinen Lippen »Polizei? Rettungswagen? Psychiatrie?«, wobei er seine Hand vor seinem Gesicht hin und her bewegte.
Ich konnte ihm nicht antworten und zuckte nur mit den Achseln.
Plötzlich wandte Groth sich an meinen Freund und fragte: »Lieber Herr Kurt, gehören Sie ebenfalls zur schreibenden Zunft?«
»Äh, ja, Kriminalliteratur, so, äh, Kommissar Hansen und Helge Stuhr, äh, und sowas …«, stammelte er und räusperte sich.
»Aha, also so in der Art, wie mein lieber Kollege Sir Arthur Conan Doyle, den ich sehr schätze. Er gehört ebenfalls zu den Schriftstellern dieses Metiers. Wir gehören übrigens dort oben zum gleichen Literaturstammtisch und treffen uns wöchentlich auf ein paar Gläser Engelsbräu in der Himmlischen Schenke. Inzwischen sind wir bereits recht viele und es kommen ständig weitere Schreiberlinge dazu, die dort einkehren und fachsimpeln. Einer der Letzten, die zu uns gestoßen sind, ist der gute Herr Mankell aus Schweden, ein liebenswerter Zeitgenosse, der immer wieder spannende Beiträge zum Besten gibt.«
Kurt und ich schauten uns immer wieder grinsend an und mussten uns beherrschen, um nicht loszuprusten. Mein Freund bestellte uns einen französischen Cognac, den der olle Groth mit einem wohligen Schnalzen auf Ex herunter kippte.
Die gigantische Oslo-Fähre Color Fantasy, die auf der gegenüberliegenden Seite der Förde zur Ent- und Beladung lag, stieß mehrere Signaltöne aus ihrem Typhon aus, woraufhin unser greiser Freund uns erklärte, wie sehr sich die Schifffahrt seit seiner Zeit doch geändert hätte. Heutzutage würden ja nur noch stinkende Kolosse aus Stahl über die Weltmeere dampfen und die Luft verpesten. Früher gab es nur saubere Segelschiffe, die den Wind zur Fortbewegung nutzten.
Daraufhin schien es, als ob Groth sich an etwas erinnerte. Er fingerte eine goldene Taschenuhr aus seiner Weste, ließ den Deckel aufspringen, blickte aufs Zifferblatt und schaute suchend auf die Förde hinaus.
»Ich werde gleich abgeholt, aber anscheinend hat sich der liebe Jack etwas verspätet.«
Der Alte leerte seine Kaffeetasse und plötzlich vernahmen wir ein Signalhorn.
»Oh, er ist anscheinend doch pünktlich«, kommentierte Groth den durchdringenden Ton, der zugleich unheimlich klang und sich über die Förde legte wie ein unheilverkündendes Omen. Mir schauderte und ich bemerkte, dass auch Kurt zu frösteln schien.
Was wir nun aber zu sehen bekamen, verschlug uns den Atem. Ein uraltes Segelschiff fuhr über die Förde Richtung Hörn. Zu unserer Verwunderung hingen die schmutzigen Segel zerrissen und durchlöchert von den Rahen. Das gesamte Schiff sah aus, als sei es der Fliegende Holländer. Tatsächlich, was sich dort näherte, war ein Geisterschiff, an dessen Bug in roten Buchstaben „Black Pearl“ prangte. Am Heck wehte die Totenkopfflagge. Langsam glitt das Schiff an die Anlegestelle und stoppte abrupt, wie von Geisterhand. Niemand war an Bord zu sehen außer einem Mann in abgerissener Kleidung, langen Haaren, Vollbart und einem Dreispitz auf dem Kopf, der mehrere Steinschlosspistolen und einen rostigen Säbel am Gürtel trug … ein Pirat, wie man ihn aus dem 18. Jahrhundert her kennt.
Kurt und ich rieben uns vor Erstaunen die Augen, wir konnten nicht glauben, was und wen wir dort sahen. Es war der leibhaftige Piratenkapitän Jack Sparrow, der grüßend zu uns herüberwinkte.
Nun erhob sich der greise Groth plötzlich und sagte: »Ich muss mich nun von Ihnen verabschieden, meine Herren. Es hat mir Spaß gemacht, mit Ihnen zu plaudern. Leben Sie wohl, auf Wiedersehen.« Dabei legte er eine Goldmünze auf den Tisch und schob sie unter die darauf liegende Ausgabe der neusten Kieler Nachrichten. Behände schnappte er sich ein Seil, das von einer Rahe der Black Pearl herunterhing und schwang sich damit an Bord des Geisterschiffes, wobei sein dunkler Mantel hinter ihm her flatterte. Dabei lachte er die ganze Zeit. Die Stimme klang diabolisch zu uns herüber und plötzlich löste sich das gespenstische Piratenschiff in einer gigantischen Rauchwolke auf und es roch nach Schwefel.
Kurt wollte gerade Luft holen, um den Vorfall zu kommentieren, als jemand an meiner Schulter rüttelte.
»Entschuldigen Sie bitte, aber der Zug ist gerade im Kieler Hauptbahnhof angekommen und endet hier. Sie müssen aussteigen.«
Eine Schaffnerin stand neben mir und lächelte mich freundlich an.
Ein Traum! Ich war anscheinend tatsächlich eingeschlafen und hatte die Geschichte von Klaus Groth, dem Geisterschiff und Jack Sparrow nur geträumt. Erleichtert atmete ich auf, denn irgendwie war dieser Traum doch unheimlich gewesen.
Im Lokal am Hafen saß mein Freund Kurt bereits an einem Tisch im Außenbereich und bestellte gerade Kaffee. Freudestrahlend begrüßten wir uns. Ich setzte mich zu ihm und mir fiel sofort die dort liegende Zeitung der Kieler Nachrichten auf, dessen Titelseite eine gespenstische Schlagzeile krönte:
Kiel in Angst und Schrecken – Unheimliches Geisterschiff kreuzte auf der Kieler Förde
Dazu ein Foto der Black Pearl, die man darauf allerdings nur schwer im düsteren Nebel vor dem Laboer Ehrenmal erkennen konnte.
Vorsichtig hob ich die Zeitung an, blickte darunter und da lag sie, die Goldmünze. Als ich mich erschrocken umblickte, löste sich eine dunkle, nach Schwefel stinkende Rauchwolke über der Förde auf und ich meinte, Groths sonore Stimme zu hören, die diabolisch lachte.
„Der tote Dichter“ in der Mediathek von Kiel TV (Sendung am 14.1.2021, 18:30 Uhr / Wdh.: 4.3., 18.30 Uhr)
15. Januar 2021 um 0:29
delightful Story…..