SH Dekameron: Die Wundersalbe
Jan Pottkieker erzählt:
Von Rolf Kamradek
Jung an Jahren wurde ich in den Verkaufsladen gestellt und hatte doch das Herz so voll Sehnsucht nach der weiten Welt. Über Tuchballen gebeugt flohen meine Gedanken über Meere, Berge und freies Feld, und die stoffbehangenen Wände schluckten manch wehmütigen Seufzer.
Eines Tages, ich war allein im Geschäft, störte mich in meinem Sehnen ein kleines, hageres Männlein, spindeldürr, dass man vermeinte seine Knochen klappern zu hören, und bat um ein Almosen.
Wer er sei, wollte ich wissen und woher er denn komme, und da hörte ich, er sei seit Jahren unterwegs, ohne Geld und Gut, und er kenne Spanien und Frankreich, die Türkei und die Berberei, ja sogar in Amerika und Indien sei er gewesen, und das letzte Mal mit einem Circus durch die Welt gezogen. Jetzt aber wolle er zu Fuß nach Italien, um auf dem Rückweg die glückliche Insel zu suchen.
Wie er das ohne Geld mache, fragte ich. Da zog er schmunzelnd eine lange Rolle aus seiner Tasche und sagte: „Seht, lieber junger Herr, in der ganzen Welt gibt es Kranke, aber diese wundersame Salbe heilt alle ihre Leiden. Für sie erhalte ich Quartier und Verpflegung und man reißt sie mir aus der Hand.“ Schlimm sei es nur, fuhr er langsam fort, wenn der Vorrat fast verbraucht sei, so wie gerade jetzt. Dann müsse er freundliche Menschen um Almosen bitten, und seinen Weg über das Altvatergebirge nehmen, wo er die Kräuter für den Nachschub finde, bevor er weiter in den Süden ziehe.
„Begleite den Klappermenschen“, durchfuhr es mich, „ziehe mit ihm in die Weite“, aber ich dachte an meine Eltern, an ihre Mühe, das Geschäft zu halten, und ich beschenkte den kleinen Mann mit einem größeren Geldstück mit der Bitte, mich bei seiner Rückkehr unbedingt aufzusuchen, um mir von seinen Erlebnissen zu erzählen.
Er dankte freudig überrascht, wandte sich, blieb aber unter der Tür stehen, kehrte zurück und legte die Salbenstange auf den Ladentisch. „Meine letzte“, sagte er. „Ich bewahrte sie für den Notfall. Nutzt sie gut und sie wird Euch Glück bringen.“ Dann versprach er, mich in einem Jahr wieder zu besuchen, winkte und humpelte über das Kopfsteinpflaster davon.
Trübe Monate vergingen. Einer Kundin, einem alten Weiblein, hing ein Unterlid schlaff herab, das Auge war böse entzündet und sie jammerte mir vor, dass kein Doktor ihr helfen könne. Da erinnerte ich mich der wundersamen Salbe des klapprigen Männleins. Ich suchte in der Schublade, und richtig, unter der Menge des Kupfergeldes fand ich sie, in Papier gehüllt. Ich säuberte sie, schnitt der Frau eine dünne Scheibe von dem Strang, erzählte von den hervorragenden Eigenschaften erlesener Heilkräuter aus dem Hochgebirge, eigens von mir zusammengestellt, und wies sie an, ihr entzündetes Auge abends mit einem dünn bestrichenen Salbenlappen zu bedecken. Ein freudiges Lächeln huschte über das Gesicht der alten Frau, als hätte ein Sonnenstrahl es getroffen.
In den nächsten Wochen war ich ein gesuchter und geschätzter Mann. Immer häufiger betraten Kranke meinen Laden, baten um Heilung und ich brachte sie ihnen. Aber ich musste die ausgegebenen Scheiben immer dünner schneiden, schließlich rieb ich, um zu sparen, die Salbe stets eigenhändig und dünn in die schmerzenden Körperteile der Kranken. Oft hinterließen sie dafür Silbertaler oder gar Golddukaten auf dem Ladentisch, bald übertrafen diese Entlohnungen die Einkünfte meines Tuchgeschäftes, man lobte mich aller Orten, und nur der Arzt blickte mit scheelen Augen durch mein Schaufenster, wenn er mit seiner Tasche vorbeiging.
Ich aber schaute nur mit traurigen Augen auf die stets gleichen Stufengiebel der anderen Straßenseite. Ich litt unter Kopfschmerzen und einem unsäglichen Weh in der Brust und so rieb ich mir diese und die Schläfen dünn mit meiner Wundersalbe ein. Augenblicklich schwanden meine Beschwerden.
Als ich aufblickte, sah ich einen Mann in der altmodischen Tracht eines Stadtbürgers vor meinem Laden stehen, er schaute sich um, als wollte er sich vergewissern, nicht gesehen zu werden und trat dann schnell bei mir ein.
Er unterbrach meine Frage nach seinem Begehr, seine Sprache verriet, dass er gewohnt war zu befehlen. „Folge Er mir unauffällig“, sagte er, „eine Kranke bedarf Seiner Hilfe. So Er aber sein Leben liebt, wird Er kein Wort darüber verlieren. Kann Er helfen, soll es Sein Schade nicht sein.“ Damit legte er einen gefüllten Beutel als Anzahlung auf meinen Tisch.
Ich verschloss den Laden; wieder vorsichtig nach allen Seiten blickend führte mich der Fremde unter den Arkaden hinunter zum Hafen. Ein Kahn lag zwischen dem Kai und dem Bug des großen, schwarzen Sklavenschiffes, mit dem der König die Unglücklichsten seiner Untertanen verschiffte und verkaufte. Ein Matrose stand in dem Boot und hielt sich an der Ankerkette fest. Der Unbekannte forderte mich mit einer Handbewegung auf, über eine Eisenleiter hinunter in den Kahn zu steigen, sprang hinterher, und sogleich legte sich der Seemann in die ächzenden Riemen und lenkte ihn zwischen den großen Schiffen hindurch und hinüber zur Schlossinsel.
Der Fremde sprang an Land, hieß den Matrosen warten, fasste mich am Ärmel und zog mich durch eine kleine Pforte in einen engen Gang, von wo wir über wendelige Stufen ein großes Vorzimmer erreichten, wo mein Führer an eine Tür pochte. Diese öffnete sich, ohne dass ich einen Wächter erblickte.
Ein riesiger Mann, einen Umhang um seine mächtigen Schultern geschlungen, stand vor dem einzigen Fenster und sein Schatten bedeckte den Rücken der Frau, die an einem Marmortisch saß und auf das unberührte Essen starrte. Vor ihr, an der anderen Wand, lag reglos auf einer Liege ein Mädchen. Es hielt sein Gesicht abgewandt.
Der große König wandte sich an mich. Von ihm erzählte man, dass sein Schatten, wenn er sich recke, sein Reich gänzlich bedecke – bis auf eine kleine Insel – und er möge sich drehen und wenden wie er wolle, immer scheine dort die Sonne. Niemand kannte die Lage dieser glücklichen Insel, denn es hieß, der König wolle nicht, dass seine Untertanen sie sähen, und er würde jeden töten, der versuche, sie aufzusuchen.
„Du wirst meine Tochter heilen“, befahl er streng und ich fröstelte. „Ich will, dass sie fröhlich ist! Gelingt es dir, sollst du ein gemachter Mann sein – andernfalls …“
Er wandte sich zur Tür. Die Königin erhob sich zögernd. Ich sah die Angst in ihrem Gesicht, und bevor sie ging, flüsterte sie mir zu: „Hilf ihr – bitte – um ihret- und – deinetwillen!“
Aber hilflos stand ich vor dem regungslosen Mädchen! Wie und wo sollte ich beginnen?
„Prinzessin“, flüsterte ich. „Um Himmels Willen, sagt mir an, wessen es Euch fehlt!“
Da wandte sie das bleiche und doch so schöne Gesicht zu mir, Tränen brachen aus ihren Augen, und auch ich empfand ihren Schmerz als sie hauchte: „Ach, es ist mein Herz – es tut so weh.“
Ich holte meine Salbe aus der Tasche, befreite sie mit zitternden Händen aus dem Papier, schnitt eine dünne Scheibe ab und flehte:
„Massiert Euch hiermit das Herz, Prinzessin – es wird Euch Glück bringen und Euren Schmerz heilen.“ Aber regungslos starrte sie mich an, wohl unfähig, ihre Hand zu heben. Da rieb ich die Salbe in meine Hände und mit diesen ihr Herz.
Die Prinzessin hatte Farbe im Gesicht bekommen, war fröhlich geworden, und der große König hatte mir einen weiteren, gut gefüllten Beutel in die Hand gedrückt, bevor sein Bote mich wieder zum Kahn geleitet und der Matrose mich zurückgerudert hatte. Auch ich war seit langem das erste Mal wieder froh, tat zufrieden meine Arbeit und heilte mit Freude die täglich sich mehrenden Kranken.
Leider wurde nun der Salbenstrang von Tag zu Tag kürzer, und das Jahr, binnen dessen das klapprige Männlein wieder auftauchen wollte, und von welchem ich Nachschub erhoffte, war noch nicht um. Ich wagte kaum noch, meine Patienten zu behandeln, rieb sie nur noch hauchdünn ein, und schließlich suchte ich den Apotheker auf, um ihm Proben aller seiner Salben abzukaufen. Er betrachtete mich misstrauisch und fragte, wozu ich sie denn brauche, verfügte ich doch über eine Wundersalbe, was übrigens zu einem Rückgang seines Gewinnes geführt habe. Ich versicherte ihm, ich selbst werde nun bei ihm kaufen, denn ich brauchte seine Salben als Grundlage um in sie meine Heilkräuter zu mischen.
Ich verglich nun die verschiedenen Salben. Schließlich fand ich einen Strang, der in Farbe, Geruch und Festigkeit meiner Wundersalbe glich. Sie nannte sich Prager Haussalbe und mit ihr bestrich ich fortan die schmerzenden Körperteile meiner Patienten.
Zu meinem Erstaunen half auch die Prager Salbe – vor allem anfangs. Allerdings kamen die gleichen Patienten jetzt in immer kürzeren Abständen, und die auf dem Ladentisch zurückgelassenen Golddukaten wichen Silbertalern und die Silbertaler schnöden Kupferpfennigen.
So waren drei Wochen vergangen, als mich wieder diese elende Schwermut befiel, wobei mir Kopf und Brust schmerzten. Ich rieb deshalb die Ersatzsalbe in Schläfen und Herzgegend, und war erleichtert, als auch durch sie Müdigkeit und Schmerz verschwanden.
In diesem Augenblick stand wieder der Bote des großen Königs vor mir.
„Die Königstochter hat gelacht und mit ihr die Königin“, sagte er. „Aber jetzt leidet die Prinzessin aufs Neue und der König befiehlt Ihn zum zweiten Mal aufs Schloss.“ Er wies mit der Hand zur Tür.
Was sollte ich tun? Die Wundersalbe war verbraucht. Zitternd steckte ich den Ersatz in meine Tasche und folgte dem ernsten Mann.
Alles war wie beim ersten Mal. Der Matrose setzte uns über, der König warf seinen Schatten auf den Rücken der Königin, die Prinzessin lag mit dem Gesicht zur Wand.
„Seine Salbe half nicht lange“, schrie mich der König an. Seine Zeit und seine Geduld seien bemessen und was er jetzt erwarte, sei die alsbaldige und endgültige Heilung seiner Tochter. „Strenge Er sich also an“, raunzte er, denn Schlimmeres als nur der Kerker sei mir sonst gewiss. Und sein Schatten fiel auf die Königin, das Mädchen und mich.
Sofort, nachdem ihre Eltern gegangen waren, wandte die Prinzessin mir ihr schönes Gesicht zu, und ihre großen Augen blickten mich so an, dass das Weh auch in mir wieder aufflammte. Stumm umfasste ihre Hand ihre schmerzende Brust. Da rieb ich diese mit der Prager Haussalbe, sie atmete tief und jeglicher Schmerz wich von uns.
Nur zwei Tage waren vergangen. Voller Angst stand ich in meinem Laden, denn an meinen Schmerzen merkte ich, dass die Prager Haussalbe auch bei mir nur kurzfristig wirkte. Ich war kaum in der Lage, ein Stück Tuch vom Ballen zu trennen, und vermied den Blick nach draußen. Da hörte ich die Ladentür gehen, und als ich endlich wagte aufzublicken, stand – das klapperdürre Männlein vor mir.
„Was habe ich auf Euch gewartet!“, rief ich erregt, zog es am Ärmel in einen Stuhl und kredenzte ihm den besten Rotwein meines Vaters. Erstaunt blickte es mich an.
Ob er die Salbe bei sich habe, fragte ich erregt, ich wolle sie ihm abkaufen, alles was er davon mit sich führe.
„Welche Salbe?“, fragte der Klapperdürre erstaunt.
„Die Wundersalbe zum Glück – die, die Ihr mir hinterließet“, rief ich verzweifelt ob seiner Begriffsstutzigkeit und er lachte.
„Ach die! – Ja, lieber junger Herr, die habe ich gerade nicht bei mir. Ich wollte Euch doch nur irgendwie meine Dankbarkeit zeigen – für das stattliche Almosen.“
Ich starrte ihn an, und er lächelte verschmitzt:
„Kanntet Ihr die Salbe wirklich nicht? – die Prager Haussalbe, die man in jeder Apotheke kaufen kann?“
Da stand ich nun, der letzten Hoffnung beraubt, der Kerker und Schlimmeres waren mir gewiss. Was sollte ich tun? Fliehen? Ja – natürlich – gleich – dem Schatten des Königs entfliehen! Aber wie?
Ob er die glückliche Insel gefunden habe, stieß ich fragend hervor.
„Ei freilich“, antwortete er.
Ich fasste ihn wieder am Ärmel.
„Den Weg zu ihr – wie finde ich ihn?“
Er lächelte: „Jeder kann das Eiland finden.“ Dann zuckte er mit den Schultern. „Suchen muss man es allerdings selbst und jeder einen anderen Weg dabei gehen. Und – das Herz, das muss man dazu in beide Hände nehmen.“ Er stand auf. „Dank auch, lieber junger Herr, Dank für den Wein“, und abwehrend hob er die Hand, als ich in die Schublade griff, um ihm ein Almosen zuzustecken. Diesmal sei er gut versehen, meinte er. Er habe viel Prager Haussalbe verkauft.
Sollte ich fliehen? Die glückliche Insel suchen, die der Schatten des großen Königs nicht erreichte?
Da verstärkte sich das Weh in meiner Brust und schnell salbte ich mich ein. Indem stand auch schon der Bote des Königs ein drittes Mal in der Tür, die Prinzessin leide wieder, sagte er, und ich folgte ihm.
Die Augen des Königs waren kalt, eisig hauchte er mich an: „Heute ist Seine letzte Chance.“ Und die Königin schluchzte, bevor sie uns allein ließen.
Schweigend rieb ich die Brust des Mädchens, wir atmeten tief und blickten uns in die Augen.
„Der Bote soll dich schon morgen wieder holen“, flüsterte sie.
„Diesmal wird er mich in den Kerker führen“, erwiderte ich gedrückt.
Sie strich mit der Hand über mein Gesicht.
Am nächsten Tag folgte ich beklommen dem Boten wieder in die Dunkelheit, still wie immer führte er mich zum Hafen, und wieder stieg ich vor ihm ins Boot. Der Matrose stieß ab, die Riemen ächzten in den Dollen, und er lenkte es – zum großen, schwarzen Sklavenschiff. Der schweigsame Mann wies auf ein Fallreep, das über die Bordwand hing, legte den Finger an seine Lippen, klopfte mir, erstmals, zum Abschied leicht auf die Schulter, und zitternd stieg ich, gewiss meines traurigen Loses, auf den finsteren Seelenverkäufer.
Oben packte mich der eiserne Griff eines Bewaffneten, ohne zu singen begannen die Matrosen das Ankerspill zu drehen, kein Pfiff des Bootsmannes schrillte über das unbeleuchtete Deck und keine Kommandos ertönten. Langsam, nur leise plätschernd, setzte sich das Schiff in Bewegung und drehte den Bug gegen die See. Ungestüm erfasste der Schmerz meine Brust, ich presste die freie Hand gegen sie – meine liebe Prinzessin – nie werde ich dich wieder sehen.
Der Eiserne stieß die Kajütentür auf und mich hinein.
Ich stand in einem holzgetäfelten Raum, das schwache Licht war zum Fenster hin abgedeckt, an der Wand, vom schweren Eichentisch halb verborgen, lag in einer Koje – die Prinzessin.
„Du hier?“ rief ich verblüfft. „Was tust du? Wohin fahren wir?“
„Wir fliehen zur glücklichen Insel“, erwiderte sie tapfer, fasste sich an ihre Brust und hauchte: „Sieh, wie mein Herz wieder schmerzt“, und dann fügte sie leise lächelnd hinzu: „Ich hoffe, du hast genug Prager Haussalbe mitgebracht – man bekommt sie doch in der Apotheke – oder?“
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Die Einleitung wurde leicht abgewandelt der Erzählung „Der Weg zur Unsterblichkeit“ von Josef Benoni (1870 – 1957) entnommen und als „Märchen“ fortgesetzt.
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