Neuton Lorenz erzählt:

Von Reimer Boy Eilers

Wir standen allein auf der Brücke der „Alten Liebe“ im Büsumer Hafen. Der Lieblingsspruch meines Freundes Siebo lautete: „Dear lait en Kocks bi!“ Die Worte hingen im Raum wie kalter Zigarrenrauch. Vor Jahren hatte ich den Schnack das erste Mal aus seinem Mund gehört. Damals hatte ich natürlich keinen blassen Schimmer gehabt, was dieses Kauderwelsch bedeuten sollte. Woher auch? Also fangen wir ganz sachte an. Eine Kockse war eine Wellhornschnecke, wenn man Helgoländisch sprach. Rein buchstäblich bedeutete der Satz: Da liegt eine Wellhornschnecke drunter! Zum Sinn komm’ ich noch. Aber jetzt drückte mir der Kapitän des Seebäderschiffes ein Päckchen Koks in die Hand. Und das sollte ich besser nicht mit einer Kockse verwechseln, ey!

Er streckte einen zitternden Finger aus. „Wer hat mir das angetan?“

Ich atmete tief durch und kam auf ganz dumme Gedanken. In einer Ermittlungsakte würde man es Querverbindungen nennen. Also, der Rauschgiftfund war bös’ genug. Aber dann war da noch der Passagier, der gestern auf der Überfahrt nach Helgoland unter ungeklärten Umständen über Bord gegangen war. Der Vogelwart von Trischen hatte die Leiche heute Morgen in seinem Naturschutzgebiet gefunden. Ein Schwarm von Silbermöwen hatte ihn aufmerksam werden lassen. Sie kreisten über der Fundstelle am Flutsaum und stießen Schreie aus, die sich wie das Miauen hungriger Katzen anhörten.

Vielleicht mixte Siebo Edlefsen auch gerade beide Vorfälle zusammen. Offensichtlich war er ziemlich durch den Wind. Und das bei spätsommerlichen drei Beaufort. Also bei einem eher lauen Lüftchen. Er trug einen klassischen Seemannsbart wie einen haarigen Rahmen rund um sein Gesicht. Zwar wohnte Siebo seit längerem in Büsum, doch er stammte von der Roten Klippe. Und jetzt schipperte er in der Saison Touristen zwischen seiner Heimatinsel und der Westküste hin und her.

Der Käpt’n tigerte ein paar Schritte auf seiner Brücke nach, äh … Backbord und blieb wieder stehen. „Gott o Gott, was soll ich nur denken? Du kennst doch den alten Schlager: Mutter, der Mann mit dem Koks ist da …“ Ja, über Schlager unterhielten wir uns gern.

Der Schweiß lief ihm über die Stirn. Er hatte mich bereits von See aus in Hamburg angerufen. Und ich hatte mich umgehend ins Auto gesetzt. Leider traf Siebos Inselsprech diesmal voll ins Schwarze. Zugegeben, man verstand auch in der Übersetzung erstmal nur Bahnhof, wenn ich mich in diesem Krabbenkutterhafen so binnenländisch ausdrücken durfte. Aber Siebo hatte es mir verklickert: Früher hatten die Helgoländer Fischer ihre gefangenen Dorsche kistenweise auf dem Markt verkauft. Und wenn ein Schlitzohr unter seine Dorsche vielleicht eine Wellhornschnecke geschmuggelt hatte, dann ist das gewichtsmäßig ‘ne faule Sache gewesen, klarer Fall. Wir Festländer würden uns demnach fein und vornehm auf Shakespeare berufen: Es ist etwas faul im Staate Dänemark!

Jawohl, oberfaul, das konnte man laut sagen. Das Koks hatte die Form eines Ziegels und war in Plastikfolie eingeschweißt. Ein Kellner hatte den Fund im Bordrestaurant gemacht. Der Ziegel war direkt auf dem Boden eines Müllbehälters platziert worden, noch unter dem blauen Plastikbeutel, der den eigentlichen Müll aufnahm. Kein ganz schlechtes Versteck, aber doch irgendwie amateurhaft. Nur zur Not und für einen kurzen Zeitraum. Vielleicht hatte der Tod des Passagiers da einige Pläne durcheinander gebracht. Ja doch, wäre möglich …

Kapitän Siebo Edlefsen hatte den Kellner zum Stillschweigen verdonnert. Die Gäste an Bord sollten nicht beunruhigt werden. Dann hatte er eine Probe entnommen und alles wieder versiegelt. Ich wollte nun ganz sichergehen, bevor ich hier an Land die Pferde scheu machte. „Hast du mal deinen Marlspieker?“

Siebo reichte mir den Dorn, und ich stach ein kleines Loch in den Ziegel. Dann schüttete ich ein winziges Häufchen auf meine Handfläche und leckte daran. Meine Zunge bestätigte alle schlimmen Befürchtungen. Ich schaute dem Käpt’n gerade in die Augen. „Hast du inzwischen die Polizei benachrichtigt, alter Seebär? Deine Kumpel vom Wasserschutz?“ Eigentlich kannte ich die Antwort schon. Aber ich wollte sie aus seinem Munde hören.

Er gab den Blick so unschuldig zurück, als ob er gerade erst von einer einsamen Insel in die Zivilisation gelangt wäre. „Warum drängelst du denn so, Yakub? Immer hübsch sutsche.“

„Bist du denn ganz von der Rolle? Den Fund müssen wir umgehend melden. Sonst wandern wir beide ab ins Blackhole, wie du das Örtchen hinter Gittern launig zu nennen pflegst. Glaub mir das lieber unbesehen, und nimm unter Freunden die Hand drauf. Hier geht’s um ‘ne schwere Straftat, mein Macker. Wenn nicht gar ein Mord mit an Bord ist.“

Okay, jetzt das Blackhole. Die Helgoländer waren nicht nur Friesen, sondern die Insel hatte im 19. Jahrhundert als Kolonie zu Großbritannien gehört. Und in der Zeit hatten sich die Insulaner auch einige englische Wörter ausgeliehen. Oder sagen wir: Ganz frech von ihren britischen Herren geklaut? Vorneweg hatten die Helgoländer das englische Gefängnis mitgehen lassen, ganz klar. Aber die bewegte Historie auf hoher See hatte nicht nur ihre Auswirkungen im Schnacken. Nee, die Sache war höchst praktisch. Helgoland war immer noch ein bisschen ab von Deutschland und gehörte bis heute zolltechnisch und schmuggelmäßig nicht zur EU.

Dafür wurde die Rote Klippe von bösen Zungen und Neidhammeln auf den Deichen auch Fuselfelsen genannt. Und es lag ein Körnchen Wahrheit darin. Helgoland war nur zu gewiss ein Paradies für Butterfahrten von Großfamilien, für Whiskytrinker und Parfümjunkies. Ach, und nun das, für Koksschmuggler schien mir die Zollfreiheit ebenfalls ein bannig interessantes Detail zu sein. Denn für ein Mitglied dieser Profession gab es wohl kein größeres Feindbild als einen grün uniformierten Zollbeamten. Ich hatte noch den Song von Arlo Guthrie im Ohr, dem alten Hippie und Hascher. „Don’t touch my bag, if you please, Mr. Customs Man.“ Bitte, bitte, lieber Zoll, guck nicht in meine Taschen. Sonst hab ich nichts zu naschen.

Plötzlich fasste sich Siebo an den Hals. Er würgte und schnaufte. „Das wächst mir über den Kopf. Komm, wir müssen erstmal einen Schnaps trinken.“

„Manno, Alter, was ist los mit dir? Das ist doch total dösig. Sollen wir den Koks noch mit einer Fahne dazu auf dem Revier abliefern?“

„Lieber Himmel, Yakub! Du kannst doch zwei und zwei zusammenzählen. Erst der Mann über Bord, der arme Hark. Und dann dieses Rauschgift. Die machen mir mein schönes Schiff zum Tatort. Und legen es an die Kette.“ Er marschierte zu einem Mahagonischapp, holte eine Flasche Geelen Köm und zwei Gläser heraus und goss sie voll.

Ich hob die flache Hand und machte eine entschiedene Geste der Abwehr. „Siebo! Komm wieder zu Verstand.“

„Yakub, du musst mir helfen! Was heißt hier, meine Kumpel vom Wasserschutz? Hauke Tammen stammt von der Geest, verstehst du? Der kann so ein Schiff nie wirklich mit dem Herzen sehen. Wenn die ‚Alte Liebe‘ im Hafen bleiben muss, oh … Das kann ich nicht ertragen. Das Schiff ist mein Leben.“ Er kippte seinen Geelen Köm herunter und griff zu dem Schnaps, den er für mich eingeschenkt hatte. Die Hand zitterte in heller Erregung, und ein büschen Köm ging glieks verschütt.

Herrje, was für ein sturer Seehund! Mit jeder Minute, die untätig verstrich, riss mein Freund Siebo sich weiter rein. Also schnappte ich mir das Rauschgift, ignorierte alle Proteste und überließ den Kapitän Edlefsen vorläufig seinem Schicksal. Die Wasserschutzpolizei hatte ihren Stützpunkt auf dem Kai gegenüber, auf der Alten Hafeninsel. Am Eingang hing ein grünes DIN-A4-Blatt: „Bitte klingeln. Wir sind für Sie da.“

Das klang doch beruhigend, um nicht zu sagen richtig gemütlich. Ich drückte einem erstaunten Beamten den Helgoländer Koksziegel in die Hand und machte meine Aussage. Dann begab ich mich auf mein Zimmer in der Pension „Zum glücklichen Winkel“. Dort schlief ich regelmäßig, wenn ich in Büsum Urlaub machte oder einfach Siebo besuchte. Bei Tau und Tag war ich am nächsten Morgen bereits wieder auf der Alten Hafeninsel. Die Sachlage überstieg noch meine dunklen Ahnungen. Siebo hatte weiter Geelen Köm getrunken und dann später randaliert. Die Beamten hatten ihn vorläufig wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt festgenommen. Und, ja, die „Alte Liebe“ lag ebenfalls am Kai fest.

Ich sprach mit dem Leiter des Stützpunktes Hauke Tammen. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und legte die Stirn in traurige Falten. „Diese Helgoländer sind samt und sonders verrückte Kerle. Unsere Kollegen drüben hinter dem Horizont können ein Lied davon singen. Das ist Dienst auf einer Insel jenseits von Gut und Böse, mein lieber Schwan. Du denkst, du kennst sie. Aber in allen Eingeborenen steckt ein kleiner Störtebeker.“

„Haben Sie ein bisschen Nachsicht mit Siebo. Es geht nicht nur um sein Schiff. Er kannte auch den Ertrunkenen. Hat ihm sogar mal unter die Arme gegriffen. Hark Brodersen, nicht wahr?“

Mein dunkelblau uniformiertes Gegenüber nickte. Dann zog der Kommissar die Augenbrauen zusammen. Fast hatte ich den Eindruck, er würde darunter blinzeln. „Worauf wollen Sie hinaus, Herr Singer?“

„Lassen Sie die ‚Alte Liebe‘ wieder von der Kette. Nicht, um Siebo einen Gefallen zu tun. Der Dösbaddel hätte ‘nen Denkzettel verdient. Aber das Schiff könnte der Köder sein. Ich vermute stark, Sie haben auch schon dran gedacht. Tun Sie das Koks oder einen netten Ersatz wieder in das Versteck.“

Tammen rümpfte die Nase. Dann gestattete er sich ein leichtes Grinsen. Er verstand wohl doch mehr von Schiffen, als Siebo vermutete. Oder er war einfach ein guter Polizist.

Ich nutzte die Gelegenheit und machte eine Tagesfahrt auf unsere berühmte Hochseeinsel. Der Physiker Werner Heisenberg war dort gewesen und hatte sich den Kopf durchpusten lassen. Und dann hatte er auf der Klippe mitten in der See die halbe Weltformel entdeckt, logisch, wenn das Gehirn frei walten und schalten kann. Auch Strindberg war da gewesen. Dramen, das fiel schon eher in mein Fach. Nach dem Ausbooten ging ich schnurstracks zur Pension „Kleine Möwe“. Peerke Reymers führte sie mittlerweile allein. Ich war nicht ganz unbeteiligt daran gewesen, dass ihre Schwester Greete an die Ostseeküste gewechselt hatte. Und zwar hatte sie Quartier genommen im schleswig-holsteinischen Frauengefängnis zu Lübeck. Aber das war eine andere Geschichte, halber Strindberg eben.

Peerke Reymers trug gerne Klotsen an den Füßen, dazu weit geschnittene Fischerhemden und ein rotes Halstuch. Sie war eine patente alte Jungfer und die wandelnde Info-Börse der Insel. Mich interessierten heute die Schiffsausrüster. Diese Händler hatten ihren Sitz im Südhafengelände, manche mit einem Laden dazu. Andere reichten die Ware direkt aus dem Lager heraus. Man konnte dort nicht nur kistenweise Rum kaufen, sondern die Yachten tankten auch steuerbefreiten Diesel. Denn neben dem Zolltarif fehlte die Umsatzsteuer auf Helgoland, bingo!

Wir setzten uns zu einem Kaffee in den Frühstücksraum der Pension, und ich deutete etwas von krummen Geschäften an. Meine Gesprächspartnerin lächelte wissend, sie verstand, dass ich mich nicht näher äußern wollte. „So rein spontan, junger Mann, fallen mir da zwei von diesen so genannten Ausrüstern ein. Ich meine, wo Sie mit dem Rumschnüffeln anfangen könnten.“ Sie kicherte. „Einmal ist da Edlefsen. Der scheint sich gerade dumm und dämlich zu verdienen. Eibo Edlefsen, wissen Sie, der ältere Bruder von Siebo. Hat mittlerweile das dritte Haus auf dem Oberland gekauft. Tja, und auf der anderen Seite, da haben wir Maik Claasen. Dem geht’s wohl grottenschlecht, Mann inne Tünn.“

Un Fru in de Bottermelk“, sagte ich.

Frau Reymers bestätigte das mit einem erhobenen Zeigefinger. „Ja, gewiss, da greift man manchmal zu krummen Strohhalmen, wenn Sie so wollen.“

Ich bedankte mich und ging quer durchs Unterland zur „Bunten Kuh“ am Binnenhafen. Dort war ich mit Siebo zum Knieper-Essen verabredet. Solange sein Schiff auf der Reede lag, konnte er sich diese Auszeit leisten. Knieper, auch wieder Inselsprech, das waren die Scheren der Taschenkrebse. Mir schmeckten sie köstlicher als Hummer. Ich sagte: „Nochmal zu unserer Wasserleiche. Hattest du den Brodersen nicht als Hilfsmatrosen auf der ,Alten Liebe‘ eingestellt?“

„Hark hat gleich wieder in’n Sack gehauen.“

„Der Schussel.“

„Ich wollte was für ihn tun, weil er mit einer Helgoländer Deern zusammen war. Und ich hatte gehört, dass sie schwanger von ihm ist. Wiebke Lorenzen, die kenn ich noch als ganz Lütte aus dem Schwimmunterricht. Gottlob hat sie sich von ihm getrennt. Sie kellnert drüben in Büsum in der ,Strandperle‘.“

Gemeinsam fuhren wir mit dem ersten Börteboot wieder aufs Schiff. Die „Alte Liebe“ beendete ihre Tagesfahrt, ohne dass der Köder ein Wild angelockt hätte. Kommissar Tammen wollte es noch einen weiteren Tag versuchen. Siebo besorgte mir aus der Rederei Angaben über Ticketverkäufe und Passagierlisten der letzten Monate. Es gab keine vollständigen Unterlagen, dennoch konnte es helfen. Außerdem war es vielleicht nicht hundertprozentig legal, mir die Daten auszuhändigen. Aber das war entschieden eine kleinere Wellhornschnecke, als die große, oberfaule, die wir abzuräumen hatten.

Der nächste Vormittag ging mit der Auswertung der Fahrgastdaten drauf. Hark Brodersen war in den letzten beiden Wochen mindestens drei Mal auf der Roten Klippe gewesen. Also, wenn das keine Inselliebe bedeutete. Als ich mit der Statistik fertig war, zog es mich in die „Strandperle“. Die Lokalität bot einen wunderbaren Blick über das Watt, und am besten genoss man die Aussicht auf der Terrasse. Ich bestellte einen Windbeutel und ein Bier. Das weckte in der Kellnerin ein Mitgefühl. „Sie wollen wirklich diese furchtbare Kombination?“

Ich vertellte Wiebke Lorenzen, wer ich war und was ich wirklich wollte. In einer ruhigen Minute kam sie wieder an den Tisch. Ihr Rotschopf stand gegen einen knallblauen Himmel, und die Nachmittagssonne zauberte einen goldenen Schimmer auf ihr Gesicht. Ich riss mich zusammen, um nicht in späte Urlaubsstimmung zu verfallen. Außerdem musste ich mir gut überlegen, wie weit ich gehen wollte. Es galt, Rücksicht auf den dicken Bauch der Kellnerin zu nehmen. Ich sagte: „Danke, dass ich Ihnen einige Fragen stellen darf. Ihr ehemaliger Freund hatte nie einen festen Job?“

„Nein, praktisch nicht.“

„Trotzdem er wusste, dass Sie schwanger waren? Klingt nicht nach guter Familienplanung.“

„Im Gegenteil, er lag mir noch auf der Tasche. Da war ich also plötzlich in anderen Umständen und sollte auch das Geld ranschaffen. Also hab’ ich ihm den Laufpass gegeben. Das mit dem Kind ist ohnehin mehr ein Unfall gewesen. Eine Nacht in den Helgoländer Dünen. Eigentlich war’n wir ‘ne ganze Clique am Lagerfeuer.“

„Verstehe, die tanzenden Flammen, ein Bierchen, die funkelnden Sterne. Der Strandhafer säuselt in der Meeresbrise. Ein Austernfischer sitzt auf der Zeltstange und piepst und piepst in einer launigen Rede. Alle müssen lachen. Und Sie am lautesten, ja? So ungefähr?“

„Ja.“

„Ein schöner Anfang. Jetzt noch mal vorgespult zum Ende der Beziehung. Gab es keinerlei Kontakte mehr?“

„Doch schon. Zwei, drei Wochen später hatte Hark plötzlich Geld. Und er wollte es mir auf den Tisch legen.“

„Sie waren nicht einverstanden?“

„Nein, das war komisch. Wie sollte das mit dem Schotter denn auf normalem Wege passiert sein? Und es war auch zu spät. Ich hatte kein Vertrauen mehr zu ihm. Ich hatte mich neu mit Maik Claasen auf Helgoland angefreundet. Wir kannten uns schon als Kinder auf der Insel. Als Hark davon hörte, hat ihn das schwer mitgenommen. Und nun ist er über Bord gegangen. Das war doch hoffentlich kein Selbstmord?“

Sie begann zu weinen. Ich fühlte mich ebenfalls schuldig. Doch ich hatte noch eine Frage. „Und die beiden Edlefsens? Wie kommen Sie mit Siebo und Eibo aus?“

„Sind immer Gentlemen, wenn ich sie sehe. Es tut mir leid, dass Siebo so’n Stress gekriegt hat.“

Ich gab mir einen Ruck. „Was kann ich für Sie tun, Frau Lorenzen?“

Sie hob die Schultern, nahm meine Serviette und wischte sich die Tränen ab. „Finden Sie die Wahrheit heraus. Das ist schon genug. Ich muss wieder an die Arbeit.“

Am Abend dieses Tages stand ich erneut mit Siebo auf der Brücke der „Alten Liebe“. Und diesmal verlangte ich nach einem Geelen Köm. Maik Claasen hatte heute auf der Überfahrt in den Abfallbehälter gegriffen. Und er hatte bereits ein vollständiges Geständnis abgelegt. Ich sagte: „Mann, Siebo, die Wiebke Lorenzen! Das nennt man Pech mit Männern.“

„Stimmt, die Deern ist echt angeschmiert. Aber es wundert mich nicht, wen wir da am Angelhaken haben. Auch Wiebke hätte es besser wissen dürfen. Ein Schurke auf der Insel? Gute Frage, da war Maik Claasen für mich immer in der ersten Reihe. Grootes Muul und dauernd am Bankrott entlang. Einmal haben die Lebensmittelkontrolleure ihn rangekriegt. Da hatte er Fleisch umetikettiert, wo das Haltbarkeitsdatum abgelaufen war. Ja, echt, kein Wunder. Sein Urgroßvater und mein Großvater hatten schon geschäftlichen Knatsch miteinander. Auch Eibo kann ein Lied davon singen.“

„Lass mal deine Familiengeschichte beiseite. Um die geht es hier glücklicherweise nicht. Und ist auch kaum beweiskräftig, oder? Ich hatte selber ein ganz mieses Gefühl, seit ich die Fahrgastdaten kannte. Brodersen und Claasen sind beide am gleichen Tag an Bord gewesen.“

„Logisch, dass sie sich in die Haare gekriegt haben.“

„Gut, mein Siebo, dass für dich jetzt alles logisch ist. Das Private und das Koksgeschäft haben sich unheilvoll vermischt. Mit dem Kokain fing es an. Das kam zollfrei in Teekisten aus Sri Lanka in Claasens Lagerhalle. Ceylontee, die Insel ist eine unverdächtige Weltgegend in dieser Hinsicht. Und Brodersen hat den Helgoländer Koks aufs Festland geschmuggelt. Und hier in Dithmarschen und in Hamburg vertickt. Die Einzelheiten müssen natürlich noch abgeklärt werden.“

„Schmuggel an der Küste. Das ist ein altes Unwesen.“

„Nur teilweise. Claasen soll besser dem lieben Gott danken, dass er rasch aufgeflogen ist. Koks ist eine andere Liga als Umsatzsteuerbetrug und Whiskyschmuggel. Oder Strandgut einsacken. Auch ein Helgoländer kann einem Haifisch nicht ungestraft den kleinen Finger reichen.“

„Und wie hat Brodersen den Kram transportiert?“

„Das war kreativ, muss ich zugeben. Da ist dieses spezielle Rindfleisch mit Null-Grad-Kühlung. Also nicht tiefgefroren, sondern mit einer separaten Kühlkette. Die geilen Rumpsteaks aus Brasilien. Beziehst du wahrscheinlich auch von deinem Bruder.“

„Na, logisch.“

„Claasen hat die Koksziegel aus den Teekisten in handliche Würstchen umgepackt. Je zwei davon kamen in einen Strang Rumpsteak. Und dann hat Claasen das Fleisch neu eingeschweißt.“

„Wieso haben wir dann auf dem Schiff einen Ziegel gefunden?“

„Gute Frage. Brodersen ist das Geschäft schnell über den Kopf gestiegen. Hinzu kommt, dass er bald sein bester Kunde wurde. Er hielt sich im Koksrausch für unverwundbar und wollte sich nicht mehr mit der tüffeligen Schmuggelei im Rumpsteak abgeben. Er kaufte einen Ziegel von Claasen. Und dann nahm er ihn einfach mit.“

„Und da hat Makrelen-Maik, der alte Halunke, die Panik bekommen?“

„Na logisch, Käpt’n. Die Zollkontrolle ist ja dieser Tage nicht auf der Insel, sondern in den Festlandshäfen. Frag mich nicht, warum. Vielleicht weil bereits Nachsaison ist.“

Siebo nickte, und ich fuhrt fort: „Die Gefahr, dass der Kokskopf drüben in Büsum vom Zoll erwischt wird, war dem ehrbaren Kaufmann einfach zu groß. Also steigt er kurzentschlossen ebenfalls aufs Schiff. Und er versucht, seinen verrückten Geschäftspartner zu bewegen, dass Brodersen den Ziegel Koks über Bord wirft.“

„Würde Hark kaum tun. Was der mal in den Händen hat …“

„Nun ja, nicht ganz. Sie finden einen Kompromiss. Das kommt dann auch Claasens Gier entgegen. Gemeinsam deponieren sie den Koks im Müllbehälter. Ein Vabanque-Spiel, ob er von Dritten gefunden wird. Dann lieber weg mit Schaden, als den Zoll an der Backe.“

Siebo Edlefsen wiegte bedächtig den Kopf. „Bei der Rückfahrt nach Helgoland kontrolliert der Zoll nicht, logisch. Da kann Makrelen-Maik den Ziegel wieder mit ins Lager nehmen.“

Ich sagte: „Aber dann lief die Sache aus dem Ruder. Brodersen in seinem Koksrausch, paar Bierchen dazu, kommt auf eine fixe Idee. Es geht Claasen nicht um den Zoll. Sein Rivale will verhindern, dass Brodersen ordentlich Geld macht. Und dann Wiebke zurückgewinnt.“

„Und keine Zeugen bei dem Streit?“

„Zumindest haben sich keine gemeldet. Ging auf See wohl gerade ‘ne kühle Brise durch. Und die Leute in ihren Sommersachen sind nach drinnen. Wie Claasen es darstellt, stehen sie beide am Heck. Er lehnt an der Reling. Brodersen stürzt auf ihn zu. Im letzten Moment springt Claasen zur Seite. Und der Kokskopf geht koppheister außenbords. Eine Sache von Sekunden.“

„Wenn Makrelen-Maik man nicht nachgeholfen hat in diesem bedeutsamen Moment.“

„Das werden wir womöglich nie erfahren.“

„Das sagst du. Mein Großvater Oelk hätte gewusst, wie er Makrelen-Maik beurteilen sollte.“

„Ich glaube kaum, dass dein Großvater in diesem Fall als Zeuge akzeptiert wird. Trotzdem seine Meinung als historische Persönlichkeit natürlich von unschätzbarem Wert ist.“

„Schnack nicht so viel drum herum, Yakub!“

„Nach dem Vorfall traut sich Claasen nicht wieder aufs Schiff. Er nimmt den Flieger zur Insel. Doch heute konnte er nicht widerstehen. Nach dem Motto: Versuch macht klug. Stimmt auch, aber nicht immer möchte man hinterher klüger geworden sein. Auf jeden Fall weiß Claasen jetzt, was Sache ist. Und wir wissen es auch. Du meine Güte, Siebo, was bin ich erleichtert. Nun hat sich alles aufgeklärt, und die Seefahrt tritt wieder an die erste Stelle. Ich freue mich für dich.“

Der Kapitän runzelte die Stirn und kratzte sich demonstrativ hinterm Ohr. „Wieso bist du so freundlich zu mir? Dear lait do en Kocks bi!

„Na, hör mal! Ich bin dein alter Freund.“

„Eben.“

„Deine ‚Alte Liebe‘ läuft wieder auf gutem Kurs.“

„Und?“

„Wenn man Glück hat, muss man was teilen. Kümmere dich um Wiebke. Immerhin kommt sie auch von der Roten Klippe. Nach der Saison ist demnächst Feierabend bei ihr. Danach braucht sie einen vernünftigen Job. Sie hat was Besseres verdient als Harz IV und alleinerziehende Mutter. Bei euch an Bord ist doch sogar eine kleine Kita. Also fast, jedenfalls ‘n Toberaum.“

„Tobe … raum? Wieso?“

„Wieso? Wieso? Also echt, Siebo, mein Macker! Du kennst doch den alten Schlager. Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise …“


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