SH Dekameron: Frieden finden
Petunja Prüderich erzählt:
Von Sylvia Gruchot
Das Zimmer ist gar nicht so kalt und abweisend, wie sie erwartet hat. Die Wände, an denen Landschaftsbilder hängen, sind in einem zarten Grün gestrichen, . Das Deckenlicht ist grell, deshalb löscht sie es und schaltet stattdessen die Wandleuchte am Kopfende seines Bettes ein. Die blassen Strahlen der späten Nachmittagssonne schaffen es nicht bis zu seinem Bett, dafür steht es zu weit vom Fenster entfernt, und viel Licht verbreitet sie ohnehin nicht an diesem trüben Tag. Man hat ihm wohl das Bett an der Tür gegeben, weil er sowieso die Augen seit Tagen nicht mehr geöffnet hat. Sie stellt sich vor, dass er in einem sanften Traum wie auf einem Ozean dahingleitet. Sein Atem geht gleichmäßig und sein Herz auch, wie sie am stetigen Piepton des kleinen Monitors neben seinem Bett hören kann.
Ihr eigenes Herz schlägt kräftig gegen ihre Brust. Sie kann ihre Empfindungen gar nicht einordnen. Ist es Angst? Trauer? Wut? Sie weiß ja nicht einmal, was sie für ihn empfindet. Liebe? Wahrscheinlich, obwohl sie das nicht gern zugeben mag. Enttäuschung? Ganz sicher.
Sie hatte sich immer jemanden gewünscht, zu dem sie aufsehen konnte. Einen, der ihr die Welt erklärt und beigebracht hätte, was richtig und was falsch war. Sicher, in Krisenzeiten war er da gewesen. Sie wollte nicht ungerecht sein. Und ganz sicher hat er es so gut gemacht, wie er konnte. Nur, gereicht hat es für sie nicht.
Unwillkürlich greift sie sich an die Brust. Ihr schlechtes Gewissen meldet sich wieder einmal und packt fest zu. Gleichzeitig ärgert sie sich über sich selbst. Sie ist doch hergekommen, um Abschied zu nehmen, um ihm einmal, nur dieses eine Mal, zu sagen, was sie über ihn denkt. Sie hatte sich fest vorgenommen, ehrlich zu sein, standhaft zu bleiben, reinen Tisch zu machen.
Seine weißen Haare sind dünn geworden. Das macht ihn irgendwie verletzlich. Seine Hände liegen auf der weißen Bettdecke neben dem schmalen Umriss seines Körpers.
Kurz überkommt sie der Impuls, seine Hand in die ihre zu nehmen. Doch dann erscheint ihr diese Intimität unangemessen. Er hätte es sicher nicht gewollt und sie ihr unter anderen Umständen bestimmt schnell entzogen.
Er mag körperliche Nähe nicht. Das hatte sie schon früher gespürt, wenn sie sich zur Begrüßung kurz umarmten. Sein Körper versteifte sich dann, und unwillkürlich ging er einen Schritt zurück, so dass sich ihre Hände zwar auf seinen Rücken legten und sich ihre Wangen flüchtig berührten, ihre beiden Körper ansonsten aber Abstand voneinander hielten, so dass sie beide wie in einem grotesken Tanz verharrten, um sich schnell wieder voneinander zu lösen.
Um diese peinliche und irgendwie auch unwürdige Situation zu vermeiden, hatte sie ihm vor Jahren einmal nur die Hand zum Gruß hingehalten. Doch zu ihrer Überraschung hatte er sie an sich gezogen und sie mit der ihm üblichen Steifheit umarmt.
Früher war er ein stattlicher Mann gewesen, mit vollem blondem Haar und strahlend blauen Augen, dem die Frauen hinterhergeguckt haben und manchmal auch hinterhergelaufen sind.
Ihre Mutter verblasste neben ihm und schrumpfte mit den Jahren immer mehr, bis sie eines Tages plötzlich starb, genauso still und leise wie sie neben ihrem Mann gelebt hatte. Das war vor einem Jahr. Und nun sollte ihr früher so starker Mann ihr bald folgen.
Sie hatte ihn seit dem Tod der Mutter selten gesehen. Irgendwie gab es keinen Grund für sie, gerade so, als ob die Nabelschnur zu ihrem Elternhaus durch deren Tod durchtrennt worden wäre. Selten hat sie an ihn gedacht und wenn, dann meist mit Groll. Die wenigen Male, die sie ihn während der ersten Trauermonate besucht hatte, machten ihr nur immer deutlicher, wie sehr sie sich entfremdet hatten.
Wann fing das an? Sie weiß es nicht.
Sie sitzt nur da und beobachtet den Mann, der nach dem Tod der Mutter im Laufe eines Jahres genauso geschrumpft ist wie seine Frau zu Lebzeiten.
Da liegst du nun, denkt sie, du Tausendsassa, Hans-Dampf-in-allen-Gassen, Partylöwe und Egoist. Ich bin gekommen, um abzurechnen, denkt sie, bewegt die Lippen, und bringt doch kein Wort heraus. Schilt sich feige und gibt auch dafür ihm die Schuld.
Als habe er sie gehört, seufzt er tief, seine magere Brust hebt und senkt sich einmal, und geräuschvoll stößt er einen langgezogenen Atemstoß aus, fast ein Stöhnen, sein Gesicht entspannt sich und plötzlich liegt er völlig reglos da.
Ein wenig zuckt sie zusammen, denn von irgendwoher ertönt ein langgezogener Ton, der nicht enden will, aber sie ist zu sehr gefangen in ihren Gefühlen, in ihrem Blick zurück in die Vergangenheit, um sich darum zu scheren.
Fordert er sie auf, endlich zur Sache zu kommen? Passen würde es zu ihm. Mit tiefgründigen Gesprächen über Gefühle oder gar emotionalen Erwartungen an ihn konnte er noch nie etwas anfangen. Einmal gab er sogar offen zu, nicht sicher zu wissen, ob er überhaupt Liebe empfinden könne.
Dieser Stachel sitzt tief, und endlich traut sie sich, es laut auszusprechen: „Du hast mir nie genügt. Ich hätte jemanden verdient, der stolz auf mich ist, der mich liebt und dies auch zeigen kann.
Einen, der mir die Welt erklärt hat, als ich ein Mädchen war, der eifersüchtig auf meinen ersten Freund gewesen ist und der mich ’Prinzessin’ ruft.
Ich habe es nicht verdient, schon bei der Begrüßung zurückgestoßen zu werden, als hätte ich etwas Lästiges an mir. Es reicht mir nicht, nur jemanden in Krisenzeiten gehabt zu haben, der sich anschließend wieder unsichtbar macht.“
Worte strömen aus ihr heraus, schnell und laut wie ein Wildbach, der sich in die Tiefe stürzt. Sie kann es nicht aufhalten. Jede Enttäuschung, jede Zurückweisung, jeder Fehltritt will über ihre Lippen kommen. Erbarmungslos rechnet sie ab, bis nichts mehr bleibt, was sie noch sagen möchte, sagen muss. Sie ignoriert die anderen beiden Patienten im Raum, die vor sich hindämmern, genauso wie die Tür in ihrem Rücken, die sich hastig öffnet und dann leise schließt.
Ein Pfleger, durch den Alarm gerufen, betritt den Raum. Seit Tagen lag der Patient im Sterben, noch nicht bereit, loszulassen. Sie hatten sich bereits mehrfach gefragt, worauf er wartete. Nun war es endlich soweit.
Zögernd verharrt der Pfleger an der Tür, unsicher, ob er den Ton am Monitor abstellen und damit die Frau in ihrer Abschiedsrede stören soll.
Und plötzlich ist da Platz in ihr. Etwas strömt hinein in diesen freien Raum. Ein Gefühl, warm und hell. Da sitzt sie am Bett ihres Vaters, nimmt seine Hand, die sich so kühl und schlaff anfühlt, und doch so richtig in der ihren. Die ihr nicht entzogen wird.
Erinnerungen steigen in ihr auf, längst vergessene Bilder von ihr als Kind, krank im elterlichen Bett, und die Stimme ihres Vaters, der ihr zur Ablenkung Geschichten erzählt, bis sie endlich schlafen kann.
Sie als Teenager, sich übergebend nach dem ersten Rausch, und die Hände ihres Vaters, der ihren Kopf hält und dabei Witze macht und so die Peinlichkeit vertreibt. Sie erinnert sich an seinen einzigen Satz, den einzigen, der sie trösten konnte, als sie am Ende ihrer ersten großen Liebe vor lauter Liebeskummer nicht wusste, wohin mit ihrem Herzen und den Tränen: „Ich weiß, wie du dich fühlst.“ Mehr nicht, und doch alles.
Tränen laufen über ihr Gesicht. Dann schluchzt jemand und weint herzzerreißend wie ein Kind und erst ist ihr gar nicht bewusst, dass sie es ist, denn gleichzeitig fühlt sie sich so leicht. So friedlich wie ihr Vater vor ihr liegt, so fühlt ihr Herz sich endlich an.
Sachte entzieht sie ihm die Hand und trocknet ihr Gesicht mit einem Taschentuch, das sie umständlich aus ihrer Tasche kramt. Dann entspannt ihr Körper sich, fällt regelrecht in sich zusammen, aber nicht ermattet, sondern wie von einer Last befreit, und ihr Kopf bettet sich auf die regungslose, abgemagerte Schulter ihres Vaters.
Sie bemerkt den Pfleger nicht, der nun zu ihr und ihrem Vater ans Bett tritt, um den Monitor auszuschalten. Ihm scheint, als hätten beide ihren Frieden gefunden.
Über die Autorin: www.sylviagruchot.de
„Frieden finden“ in der Mediathek von Kiel TV (Sendung am 4.2.2021, 18:40 Uhr / Wdh.: 29.3., 18.30 Uhr)
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