Lilly Lutterbeck erzählt:

Von Cornelia Leymann

„So, ihr Lieben“, sagt Lilly Lutterbeck und angelt mit dem linken Fuß nach dem Schemelchen, um die Füße drauf zu schwingen. Dann greift sie zu ihrem Weinglas, räuspert sich und zieht – ja das muss ich leider gestehen – und zieht die Nase hoch. „Ja, also, ihr Lieben, hier die Geschichte von Hans-Pe.

Eigentlich hatte Hans-Pe schon alles gemacht. Vom Regale Befüllen bei REWE über das Umetikettieren bei Karstadt bis zum Schnee Schippen vorm Steigenberger war alles dabei. Nur so geht es, wenn man finanziell mau dran ist, weil man studiert, aber gleichzeitig rauchen, verreisen, feiern und haschen will, und die knauserigen Eltern behaupten, aus pädagogischen Gründen diese Laster nicht unterstützen zu wollen. „Ach, Junge“, sagte seine Mutter immer mit trauerumflorter Miene, „du hast uns doch früher immer nur Freude gemacht. Und jetzt …?“, gefolgt vom bestgehassten Spruch seines Vaters „Mach du erstmal deinen Master, dann kannst du dir das alles leisten.“

Das hatte Hans-Pe irgendwie abgeschreckt. Denn spätestens an dem Tag, an dem man den Master in der Tasche hat, beginnt das Altern. Wer will das schon?

Ich sag mal so: Jeder denkende Mensch weiß doch, dass sich das Altern nicht aufhalten lässt. Außerdem fürchte ich, dass bei Hans-Pe noch andere Aversionen mit im Spiel gewesen sein müssen. Vielleicht scheute er auch den Aufwand, den solch ein Master mit sich bringt.

Jedenfalls hat er weder das Rauchen, noch das Verreisen, Feiern oder Haschen samt der dafür erforderlichen Nebentätigkeiten fallen lassen, um sich dem Eigentlichen, nämlich dem Studieren, zu widmen. Er war das geworden, was man missraten nennt. Ja, ich muss es einfach mal ganz deutlich sagen: er hatte das Ziel, seinen Master zu machen, gänzlich aus den Augen verloren. Plötzlich war ihm klar geworden, dass der Master-Abschluss im Grunde gar nicht sein Ziel war, sondern vielmehr eher das Ziel seines Vaters. Deshalb hatte er weiterhin das gemacht, was er als ein schönes Leben empfand, und die Nebentätigkeiten als notwendiges Übel in Kauf genommen, da die väterliche Apanage für diesen aufwendigeren Lebensstil nicht ausreichte.

Es war ein schönes Leben – bis zu dem Tag, als der Hammer fiel und er nach achtzehn verbummelten Semestern urplötzlich seine Exmatrikulation im Briefkasten fand. Unangenehm so was, denn mit einem Schlag war er nicht mehr Student mit Nebentätigkeiten, sondern ein abgebrochener Niemand mit zeitweiligen Aushilfstätigkeiten. Um das Maß voll zu machen, strich Papa ihm die weiteren Bezüge, gefolgt von einem mütterlichen: „Ach, Junge, du hast uns doch früher immer nur Freude gemacht. Und jetzt …?“

Bitter so was, denn vom Aushelfen allein – ohne die väterliche Grundversorgung – kann man nicht leben, zumal, wenn man gleichzeitig rauchen, verreisen, feiern, haschen und seinen Spaß haben will. Und ich will euch eins sagen: mit dem Aushelfen wird es sowieso schwierig, wenn man kein Student mehr ist. Die REWEs wollen keine dreißigjährigen Greise vor ihren Regalen knien haben und die Winter sind zu milde, um vorm Steigenberger noch viel Schnee Schippen zu können. Da hat Hans-Pe gemerkt, dass auch ohne Master irgendwann das Altern anfängt. Jedoch im Gegensatz zum Altern mit Master ist das Altern ohne Master von Armut überschattet. Damit gewann der mütterliche, zweite Halbsatz eine ganz neue Bedeutung.

Und jetzt …?

Abwarten und Tee trinken hatte ihm in seinem bisherigen Leben gute Dienste geleistet. Außerdem hatte seine Mutter ihm schon früh beigebracht, dass, wenn man dachte, es geht nicht mehr, von irgendwo ein Lichtlein herkäme. Und im Übrigen noch war nicht aller Tage Abend.

Doch der Tee ging zur Neige und die Abende kamen und gingen, ohne dass Lichtlein von irgendwo herkamen. Stattdessen machte sich öde Leere auf seinem Konto breit und er musste zum ersten Mal seinen bisher jungfräulichen Schreibtisch dazu benutzen, Rechnungen auf ihm zu stapeln.

Es musste etwas geschehen.

Hans-Pe zog die vorletzte Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und überdachte seine Skills. Wenn man es mal ganz nüchtern betrachtete, konnte er eigentlich nur rauchen, verreisen, feiern und haschen. Damit war kein Geld zu verdienen. Er griff zur Zeitung, die sein ebenso verbummelter Kommilitone aus dem Nachbarzimmer ihm immer unter der Tür durchschob, wenn er sie gelesen hatte, und suchte auf den hinteren Seiten nach der Rubrik „Vermischtes“.

Ich weiß jetzt nicht, wie ihr so drauf seid. Kann sein, ihr glaubt an so etwas wie Vorsehung oder wisst sogar, dass es im Leben keine Zufälle gibt. Vielleicht gehört ihr auch zu denen, die den Spruch „wenn die Not am größten, ist Gott am nächsten“ verinnerlicht haben. Dann werdet ihr euch sicherlich nicht wundern, dass Hans-Pe fündig wird.

„Wir suchen netten jungen Mann als Reisbegleiter und Kofferträger.“ Ja, schau, vielleicht waren seine Skills doch was wert. Reisen gehörte immerhin dazu. Und beim Koffertragen blieb sicherlich eine Hand zum Rauchen frei.

*

Vielleicht hatte Hans-Pe geglaubt, dass es sich bei diesem „wir“ – wie es in der Annonce hieß – um zwei bis drei anschmiegsame Blondinen handelte, die ihm neben verrauchtem Koffertragen auch noch Feiern mit anschließendem Spaß ermöglichten. Ich bin sicher, dass er sich so etwas Ähnliches erhofft hat, denn anders lässt sich seine entsetzte Ernüchterung nicht erklären, als ein älteres Ehepaar – sie vielleicht noch ganz rüstig, aber er mit unverkennbarer Gehbehinderung – auf ihn zuhumpelte, um mit ihm ihre Erwartungen bezüglich seiner Reisebegleitung zu besprechen.

Niemals, dachte er. Ums Verrecken nicht! So schlecht konnte es ihm gar nicht gehen, dass er sich auf der Urlaubsreise, die die beiden zu machen gedachten, um all den Kram kümmern würde, den eine Reise mit zwei Alten, Gebrechlichen und obendrein wahrscheinlich im Reisen Ungeübten mit sich brachte.

„Einmal im Leben wollen wir noch fliegen, bevor wir sterben“, sagte der Mann und seine Augen glänzten.

„Einmal im Leben die südliche Sonne auf der Haut spüren und den Duft unbekannter Blumen atmen“, sagte die Frau und legte sanft ihre Hand auf Hans-Pes Unterarm.

„Das Geschäft hat uns ja nie Zeit gelassen zu verreisen“, sagte der Mann.

„Und dann unser Sohn …“, sagte die Frau.

„Wo ist Ihr Sohn?“, fragte Hans-Pe.

„Ach …“, sagte der Mann und die Frau nickte.

Hans-Pes Entschluss stand fest: Ausgeschlossen. Im Leben nicht! Wenn schon der eigene Sohn nicht mit seinen beiden elterlichen Wracks verreisen wollte, warum sollte er? Ausgerechnet er? So nötig hatte er es nun auch wieder nicht.

„Tja“, sagte Hans-Pe und sah mit bangem Blick auf den Eingang zum Restaurant, vor dem sich die beiden mit ihm verabredet hatten. Wenn er jetzt mit ihnen da rein ging, sich vielleicht zum Essen einladen ließ, dann wurde es immer schwieriger, nein zu sagen. „Ich glaube“, sagte er, „ich glaube … wenn schon Ihr Sohn eine beschwerliche Reise für keine gute Idee hält … vielleicht sollten Sie dann doch lieber … und mir fällt gerade ein, dass ich noch …“ Er brach ab, weil er meinte, eine kleine Rötung in den Augen der Frau zu sehen. Wenn die jetzt bloß nicht auch noch losheulte.

Auch der Mann schien etwas bemerkt zu haben. Liebevoll legte er den Arm um seine Frau: „Komm Mäuschen. Du siehst doch, der Herr hat keine Zeit. Sicher ein wichtiger Termin. Da wollen wir nicht stören. Freut mich, Sie kennen gelernt zu haben.“ Die Frau nickte und beide wandten sich um und gingen langsam die Straße wieder zurück, von der sie eben erst gekommen waren.

Hans-Pe sah ihnen nach. Der Mann auf seinen Stock gestützt, sie mit kleinen Trippelschrittchen neben ihm, steuerten die beiden auf ein Auto zu, das dick und bramsig am Gehsteig auf dem Behindertenparkplatz stand.

„Aha“, dachte Hans-Pe, „schwer angeschlagen, die beiden Herrschaften, aber anscheinend reichlich Kohle. Das sollte sie ja wohl eigentlich über den Verlust ihrer Gesundheit, über das eventuelle Desinteresse ihres Sohnes und was sonst noch ist einigermaßen hinwegtrösten.“ Ja, so denken Menschen vom Schlage eine Hans-Pe, die ihre Zeit mit Nichtigkeiten verplempern und ansonsten den Herrgott einen guten Mann sein lassen.

Ich weiß nicht, was ihn veranlasst hatte, hinter den beiden herzulaufen. Ein gutes Herz möchte ich mal ausschließen. Vielleicht eher, dass er kurz überlegt und dann beschlossen hatte, sich seine Dienste in Anbetracht der augenscheinlichen Betuchtheit noch besser bezahlen lassen zu wollen, als er ohnehin vorgehabt hatte. Sicherlich hat auch sein knurrender Magen sein Teil dazu beigetragen.

„Entschuldigen Sie“, rief er und wedelte mit seinem Handy, „hab’s eben noch mal gecheckt. Hab doch Zeit. Lassen Sie uns die Sache bequatschen.“

Der Mann drehte sich erstaunt zu ihm um und die Frau nickte.

*

Hans-Pes anfängliches Entsetzen, als er die beiden alten Leutchen auf sich zukommen sah, wich zunehmend einem Gefühl von Goldgräberstimmung, das ihn veranlasste, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Das könnt ihr schon daran erkennen, dass er den beiden die Tür zum Restaurant aufhielt und sich dann an ihnen vorbei quetschte, um einen guten Tisch am Fenster für sie zu ergattern. Als er dann auch noch dem Mann den Stock abnahm, ihn griffbereit zwischen Tisch und Fensterbank klemmte, Stühle rückte und der alten Dame den Mantel abnahm, da hätte seine Mutter wahrscheinlich ihre helle Freude an ihm gehabt. „Ach, Junge, du hast uns doch schon früher immer nur Freude gemacht. Aber jetzt übertriffst du dich selbst.“

Die beiden alten Leutchen hatten viel zu erzählen. Von dem Geschäft, in dem sie beinah drei Jahrzehnte Dessous verkauft hatten, bis sie schließen mussten. „Wissen Sie, es hat sich dann doch nicht mehr rentiert und ich bin ja auch nicht mehr der Jüngste“, sagte der Mann. Und die Frau nickte und verzog leicht die faltigen Mundwinkel, während ihre Augen fröhlich funkelten. „Weißt du noch“, sagte sie und berührte sacht den Arm ihres Mannes, „als eines Tages dieser ulkige Mann rein kam und eine …, ja was war das noch? – dieses Ding haben wollte und dabei … nein, war das ulkig.“ Die beiden sahen sich lachend an und dann sagte der Mann zu Hans-Pe. „Wissen Sie, es hat schon was Komisches, wenn ein kleiner, leicht schrulliger Mann in ein Geschäft für Damenunterwäsche kommt und knallrot wird, wenn meine Frau ihn fragt, was er wünscht.“

Man war schon beim abschließenden Kaffee, als sie endlich damit rausrückten, was denn nun von Hans-Pe als Reisebegleitung erwartet würde. Seine schlimmsten Befürchtungen wurden bestätigt, denn das Ganze ließ sich in einem Wort zusammenfassen: Alles! Von der Buchung über die Bereitstellung der Reiseunterlagen, Organisation von Transfers und kleineren Ausflügen, ja sogar die Beschaffung von Behindertenbegleitung am Flughafen, alles sollte in seinen Händen liegen. Langsam wurde Hans-Pe klar, dass der Sohn, selbst wenn das Verhältnis noch so gut sein sollte, sich nicht um diesen Job riss. Aber auch eins zeichnete sich immer klarer ab: Geld würde keine Rolle spielen.

„Aber wo es denn nun eigentlich hingehen soll, das wissen Sie schon, oder …?“, fragte Hans-Pe vorsichtig.

„Können Sie uns was empfehlen?“, fragte die Frau und der Mann nickte.

Ich will jetzt nicht sagen, dass Hans-Pe entgeistert guckte, soweit hatte er sich denn nun doch im Griff, aber innerlich war er schon mehr als sprachlos. Zu all dem Stress mit Buchung, Organisation und dem ganzen Kram, kam also auch noch die Entscheidung für ein Reiseziel, von dem er nur wusste, dass es sonnig sein sollte und nach fremden Blüten zu duften hatte.

*

Als Hans-Pe sich am nächsten Tag dabei ertappte, wie er in Gedanken eine No-Go/Best-Of-Liste anfertigte, wusste er, dass er verloren hatte. Ja mehr noch. Ihm wurde klar, dass er mit beiden Vorderläufen aktiv in der Planung einer wunderbaren Reise für seine beiden alten Leutchen steckte: Keine Klippen oder Felsen wegen der Gehbehinderung, blutdruckfreundliche maximale 32 Grad, gehobenes Hotel direkt am Strand, keine lauten Discos oder Autoverkehr in der Nähe, dafür aber dicht am Flughafen wegen kürzerer Anfahrt, mit kleinen Cafés und gemütlichen Liegestühlen, beschauliches Örtchen, aber Theater und Museen vor Ort, Flugzeit nicht länger als vier Stunden, und so weiter und so fort. Bei all diesen Überlegungen hätte er beinahe vergessen, dass es auch für ihn eine einigermaßen erfreuliche Reise werden sollte und ein Urlaub abseits touristisch-sportlicher Freuden für ihn sicherlich nicht zu den Highlights gehörte.

Endlich hatte er drei Alternativen beisammen: ein beschaulicher kleiner Ort auf Menorca, ein Städtchen im Süden Siziliens oder eine ländlich-touristische Idylle in der Nähe von Dubrovnik.

„Ach“, sagte die Frau, als Hans-Pe anrief, um seine Vorschläge zu unterbreiten, „Sie haben wir ja ganz vergessen.“ Dann schwieg sie, während Hans-Pe etwas verstört auf sein Handy guckte.

„Es ist ganz schnell gegangen“, flüsterte die Frau. „Dabei hat er sich doch so auf die Reise gefreut.“ Hans-Pe hörte, wie die Frau weinte.

„Ist Ihr Mann …“, fragte Hans-Pe und wusste dann plötzlich nicht mehr, wie er den Satz zu Ende bringen sollte.

„Mittwoch ist die Beerdigung“, sagte die Frau leise.

„Ihr Sohn kommt sicherlich“, sagte Hans-Pe und stellte verwirrt fest, dass sich seine Stimme etwas rau anhörte.

„Unser Thomas ist schon lange tot“, sagte die Frau. „Wollen Sie mich begleiten?“

Hans-Pe war einen Moment sprachlos. Es hatte ihn einige Mühe gekostet, Ibiza zugunsten einer altersgerechten Reise sausen zu lassen. Und jetzt sollte das Ganze auf einen Nachmittag mit einer verheulten Alten zusammenschnurren. Was für eine Scheiße, dachte er und hätte beinah das gehauchte „Bitte“ der Frau nicht mitgekriegt.

„Wann soll ich Sie abholen?“, hörte er sich sagen und erfasste erst, nachdem er schon lange aufgelegt hatte, die ganze Tragweite dieser Frage. Er hatte jede Menge Zeit in die Planung der Reise gesteckt, hatte sogar Freude dabei empfunden. Er hatte sich ausgemalt, wie die beiden den Urlaub genießen, ihn für seine umsichtige Wahl von Ziel, Hotel und kleinen Ausflügen lobten und ganz nebenbei hatte er natürlich auch die Hunderter gesehen, die für ihn dabei heraussprangen. Und nun so was: Ein Nachmittag am Grab eines Fremden und am Arm eine ebenso fremde, aber untröstliche Witwe, der er ständig die Tränen aus den Augen wischen musste. Und zum Abschluss ein „Vergelt’s Gott, junger Mann“ und vielleicht ein Fuffi mit verheultem Dankeslächeln.

Also, ich muss schon sagen: Eine gute Meinung von der älteren Generation und sehr viel Empathie mit der armen alten Frau erkenne ich nicht, wenn ich mir Hans-Pes Gedanken so ansehe. Erklärbar vielleicht allenfalls dadurch, dass er so richtig viele alte Leute nicht kennt, wenn man von seinen Eltern mal absieht, die aber natürlich genau genommen nur zwei Stück sind und vielleicht nicht wirklich repräsentativ für diese Generation. Oder vielleicht doch? Vielleicht denkt Hans-Pe ganz richtig über die ältere Generation und die alte Frau ist nur die Ausnahme. Denn als er zur verabredeten Zeit kommt, sitzt sie schon am Steuer des bramsigen Autos und hält ihm die Beifahrertür auf. Wie bitte? Er soll neben einer frischen Witwe, die kaum über das Lenkrad sehen kann, auf dem Weg zur Beerdigung ihres geliebten Mannes neben ihr sitzen und einem nahezu vorprogrammierten Verkehrsunfall entgegen rollen?

„Soll ich nicht lieber fahren?“, fragt er und sieht erstaunt zu, wie sie wortlos ihre schwarzbestrumpften Beine über die Mittelkonsole schwingt und auf den Beifahrersitz rutscht.

„Und das ist sicher der Herr Sohn“, begrüßt ihn der Pfarrer in der kleinen Kapelle, die bis auf sie drei menschenleer ist. Die Frau nickt und Hans-Pe lässt den „Herrn Sohn“ geschehen. Mehr noch. „Komm“, sagt er und führt die Frau zur Sitzbank in der ersten Reihe, hält ihre Hand, während der Pfarrer spricht, nimmt sie in den Arm, als sie in Tränen ausbricht, und stützt sie während ihres einsamen Gangs hinter dem Sarg zum Grab.

„Ich danke dir“, sagt sie, nachdem er sie wieder zuhause abgesetzt und den Wagen in die Garage gefahren hat. „Ich danke dir ganz herzlich“, sagt sie und gibt ihm zum Abschied die Hand.

Auf dem Weg zum Bus fühlt er sich ein wenig verlassen, einsam und traurig, so als ob auch er einen geliebten Menschen zu Grabe getragen hätte. Erst als er seine Wohnungstür aufschließt, denkt er daran, dass sie nicht einmal einen Fuffi hat rüberwachsen lassen und es dauert noch bis zum Abend, bevor er den Briefumschlag in seiner Manteltasche entdeckt.

Dreimal muss Hans-Pe nachzählen, bis er wirklich glauben kann, dass es zehn Scheine sind. Jeder mit drei Nullen hinter der eins. Davon kann er locker die Zeit überbrücken, bis er endlich herausgefunden hat, wie sein Leben nun weiter gehen soll. Oder sollte er es vielleicht lieber alles auf den Kopf hauen und einen Super-Urlaub mit einem Püppchen hinlegen? Oder noch besser ohne Püppchen, damit er alle Möglichkeiten vor Ort genießen kann? Ja, das wird er machen. Schließlich hat er sich durchs ganze Internet nach Urlaubsmöglichkeiten gewühlt und bei jedem Angebot gedacht, wie schön es werden könnte, wenn er nicht die beiden Alten an den Hacken hätte.

Ich muss schon sagen: junge Leute können einfach nicht mit Geld umgehen. Kaum knistert es mal ein wenig in ihren Taschen, können sie nichts Besseres damit anstellen, als es stante pede wieder loszuwerden. Oder was soll man sonst davon halten, dass er solche Reisepläne schmiedet. Eine ganze Woche vergeht mit neuerlichen Reiseplanungen, nur diesmal unter gänzlich anderem Vorzeichen. Highlife mit Konfetti und Luxus satt. Die Kohle der Alten macht’s möglich.

Ach ja, die Alte, denkt Hans-Pe plötzlich. Wie es ihr wohl geht, dem alten Mädchen, die sich in seinem Arm so zerbrechlich angefühlt hat? Na, wie wird’s ihr schon gehen? Scheiße wird’s ihr gehen, so ganz ohne Freunde, die sie in ihrem Schmerz auffangen. Wie kann man nur so allein sein, denkt Hans-Pe. Kein Schwein war auf der Beerdigung. Keine Kinder, kein treuer Freund, nichts.

*

Mit jedem Tut-tut aus dem Telefon klopft Hans-Pes Herz schneller. Sie nimmt nicht ab! Sie nimmt einfach nicht ab. Und als er an ihrer Haustür klingelt, macht sie nicht auf. Er klettert über den hohen Zaun, geht um das Haus herum und späht in alle Fenster in der bösen Vorahnung, sie an der nächsten Gardinenstange baumeln zu sehen. Schließlich geht er in den gepflegten Garten, schaut hinter jeden Busch und ruft ihren Namen.

Nichts.

Er ist dicht davor, die Feuerwehr anzurufen, als ihm die Idee kommt, vielleicht doch noch mal auf dem Friedhof nach ihr zu schauen.

„Schön wird er es hier haben“, sagt sie und lehnt sich leicht an Hans-Pe, während sie den kleinen Blumenstrauß betrachtet, der einsam auf dem noch etwas kümmerlich bepflanzten Stückchen Erde steht. „Der Grabstein kommt erst in drei Wochen.“

„Na, dann hast du ja bis dahin ein wenig Zeit“, sagt Hans-Pe. „Menorca, Sizilien oder Kroatien? Wo wollen wir hin? Ich lad dich ein.“

*

Ich sag ja: Sie können nicht mit Geld umgehen, die jungen Leute von heute. Obwohl, vielleicht sollte ich mein Urteil revidieren. Für Hans-Pe zumindest war es eine Investition in die Zukunft. Denn eine alte, einsame Dame lässt ihren Adoptivsohn nicht hängen, der ihr einen wunderschönen Urlaub beschert und sie danach regelmäßig besucht. Der mit ihr Kaffee trinkt und ihr immer wieder zur Hand geht. Sei es, dass sich irgendwas ganz hinten im Schrank versteckt hat und er es dank seiner Ein-Meter-Fünfundachtzig wieder hervorzaubert. Sei es, dass er den Stecker wieder in die Steckdose drückt und so auf wundersame Weise die Stehlampe wieder zum Leuchten bringt. Oder dass er sich mit so mysteriösen Sachen wie Sendersuchlauf auskennt, wenn alle Sender urplötzlich nicht mehr da sind, wo sie immer waren. Und einen Adoptivsohn, der sie so oft zum Lachen bringt, den unterstützt eine Adoptiv-Omi natürlich, wo sie kann.

Nein, ich bleibe dabei: Junge Leute können nicht mit Geld umgehen, denn dass sich das alles finanziell so harmonisch für Hans-Pe entwickeln würde, das konnte er ja vorher nicht ahnen.

So, ihr Lieben, das war’s mit Hans Pe. Nun geh ich ins Bett. Sollte jemand mit mir eine Reise nach Menorca machen wollen, lasst es mich wissen. Aber nicht vor neun Uhr morgen früh. Nach diesem stürmischen Spaziergang heute Nachmittag brauch ich meinen Schlaf. Das Wetter ist hier wirklich mehr als grenzwertig. Bei der nächsten Pandemie wähle ich einen Zufluchtsort im Süden.“

Die Gesellschaft sieht ihr nach und der Koch glaubt, ein leichtes Humpeln in ihrem Abgang zu bemerken. „Wenn die ma’ nicht bald, wie der alte Mann in ihrer Geschichte, in die Kiste hoppst“, denkt er und überlegt, ob sein Erspartes wohl für einen gemeinsamen Menorca-Urlaub reichen würde.

Wahrscheinlich nicht, denn inzwischen ist er dank der Pandemie mehr oder weniger pleite.


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