SH Dekameron: Helikopterdrohne fürs liebe Kind
Rieke Ingwersen erzählt:
Von Annette Amrhein
„Ich glaube, ihr habt mir meine letzte Geschichte nicht so ganz geglaubt. Deswegen bin ich froh, dass ich die nächste bei mir habe.“ Rieke Ingwersen zog einen Zeitungsausschnitt aus der Brusttasche und hielt ihn hoch. „Es wurde gedruckt, also stimmt es, nicht wahr?“ Sie lächelte hintergründig, dann begann sie zu lesen:
Von Helikoptereltern hat heute jeder schon einmal gehört. Solche Eltern wollen ständig über den Kindern kreisen, sie pausenlos erziehen und in jede Situation eingreifen. Dieser Begriff hat die Industrie nun zu einem genialen Produkt inspiriert. Die Firma „Argus Child Control“ hat eine Drohne gebaut, die nur handtellergroß ist und morgens mit dem Kind aus dem Haus entlassen wird, wenn es zur Schule geht. Sie beobachtet das Verhalten im Straßenverkehr, stößt mit einem Alarmton vom Himmel herab, wenn der Nachwuchs einen Fehler macht, und meldet den gegenwärtigen Standort per GPS. Einige Modelle senden sogar Livebilder. Das Produkt hat bei Eltern große Begeisterung hervorgerufen, der Absatz der Drohne ist gigantisch. Nachdem die fliegenden Nervensägen auch in Schulflure eindrangen und Lehrern blutende Stirnwunden schlugen, wurde durchgesetzt, dass sie draußen warten müssen, bis der Unterricht vorbei ist. Sie hatten kleine Saugnäpfe an den Füßen und sammelten sich nun in den Bäumen vor den Schulen zu dunklen Schwärmen.
„Das war hier wie in Hitchcocks Die Vögel“, sagte uns Rektor Lämmer aus Wimmerheim. „Einer unserer Kastanienbäume ist kürzlich zusammengekracht, sämtliche Äste haben unter der Last dieser Viecher nachgegeben. Danach gab es hier auch noch Proteste von Baumschützern. Nur Ärger!“
Da „Argus Child Control“ eine so genannte Verteidigungsoption anbietet, ergab sich ein weiteres Problem. Wurde das Kind angegriffen, stieß die Drohne herab und umschwirrte den Angreifer aggressiv. Prügelten sich allerdings zwei Kinder, die von Drohnen bewacht wurden, so gingen die Drohnen auch gegeneinander vor. Das führte fast immer zur Zerstörung beider Geräte. Nachdem die Kinder das herausgefunden hatten, prügelten sie sich absichtlich, um die eigene Drohne abzuschütteln und unschädlich zu machen. Dann gingen sie Eis essen, verjubelten ihr Geld und erkundeten Gegenden der Stadt, die sie nie zuvor betreten hatten. Die kaputten Drohnen ließen sie einfach auf dem Schulhof liegen.
„Wir sind in den letzten Wochen in jeder Pause mit Schaufeln und Schubkarren unterwegs gewesen, um die kaputten Dinger aufzukehren“, sagte uns Rektor Lämmer. „Wir mussten extra einen Container für Elektroschrott anmieten. Darauf klettern nun nach Schulschluss Eltern herum, um ihren Argus zu finden. Der Container sprengt unser mageres Schulbudget.“
Die Eltern beschwerten sich massiv bei „Argus Child Control“ über die zerstörten Geräte. Die Firma will nun aus Kulanz den Schaden ersetzen. Sie hat aber alle Käufer informiert, dass die Verteidigungsfunktion nicht mehr zur Verfügung steht. Wer sie trotzdem aktiviert, muss ab jetzt selbst für den Verlust seines kostbaren Argus aufkommen. Für viele Eltern in Wimmerheim ist das aber nicht mehr von Belang, denn ihre Drohnen sind inzwischen verschwunden. Einigen Kindern ist es wohl gelungen, die Geräte unter ihre Kontrolle zu bringen, obwohl „Argus Child Control“ das für unmöglich hält. Unter Verdacht stehen die Siebtklässler der Informatik-AG. Eine der verschwundenen Drohnen tauchte nämlich kürzlich in der Bäckerei „Hummelgut“ auf. Sie flog durch die geöffnete Tür und landete auf dem Tresen. Auf einem Zettel, der mit Klebestreifen befestigt war, stand in Kinderschrift „Ein Mohnhörnchen bitte! Klebestreifen ist unterm Boden. Der Rest ist Trinkgeld.“ Daneben war ein Euro befestigt. Die Verkäuferin war so perplex, dass sie das Hörnchen mit seiner Tüte wie gefordert an die Drohne klebte und sie wieder abfliegen ließ. Den Zettel mit der verräterischen Handschrift warf sie leider weg. Immerhin lief sie noch zur Tür und schaute dem entschwindenden Gerät nach. Es flog direkt zur Schule, wo sich zu diesem Zeitpunkt nur die Kinder der Informatik-AG aufhielten. Eine leere Hörnchentüte fand sich später im fraglichen Raum. Der Verbleib der Drohnen ist allerdings weiter ungeklärt, obwohl der Hausmeister sämtliche Räume auf den Kopf stellte.
Gestern nun saßen die Drohnen wieder in den Bäumen vor der Schule. Nachdem sie zwischenzeitlich verschwunden waren, holten die Eltern ihre Kinder wieder selbst ab und fuhren teilweise auch mit dem Wagen vor, was unerwünscht ist. Die wartenden Drohnen stürzten sich auf die Eltern und umschwirrten sie, ein Vater wurde am Arm verletzt. Die Bevölkerung wird gebeten, sich in Sicherheit zu bringen und das Gebiet vor der Schule weitläufig zu meiden. Wer trotzdem eine Drohne sieht, sollte sofort (!) die örtliche Polizeistation anrufen und das Flugobjekt einfangen und festhalten, bis Hilfe kommt.
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