Wolf Martin Sökland erzählt:

Von Wolfgang Butt

Obwohl ich auf den ersten Blick sah, wer die Frau war, die kaum hörbar an meiner Haustür geklopft hatte, wollte ich es nicht glauben. Da spielt dir jemand einen Streich, dachte ich, während ich das Fenster schloss und hinunterging um zu öffnen. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, hoffte aber gleichzeitig, dass ein spöttisches Gelächter erschallen und das Ganze sich als Verkleidungsspaß herausstellen würde.

„Wir kennen uns von der Ausstellung, die Sie im vorigen Jahr gemacht haben. Ich komme von da drüben“, sagte sie und machte eine vage Armbewegung zur Kirche hin.

„Ja, ich kenne Sie“, gab ich zurück. „Aber ich bin etwas überrascht. Ich hatte nicht erwartet, dass Sie …“

„Ich hoffe, ich störe nicht“, sagte sie in die Verlegenheitspause hinein. „Und nennen Sie mich ruhig Jeanne und du. Darf ich hereinkommen?“

„Ja, natürlich“, sagte ich und trat zur Seite.

Sie lehnte ihre Fahnenstange mit dem schlapp herunterhängenden Tuch an den neben meiner Eingangstür bis zum Balkon hinaufreichenden Weinstock und trat ins Haus, wartete jedoch, bis ich vor ihr die Treppe hinaufging.

Das lange Gewand, das sie über dem Panzer trug, war mehr ein Umhang, also vorn offen, und reichte ihr fast bis zu den Füßen, die in offenbar nicht allzu häufig getragenen Pumps steckten und einen sonderbaren Kontrast zu ihrer eher martialischen Erscheinung bildeten.

„Kann ich das abnehmen?“, fragte sie und löste die Schnallen ihres blechernen Brustpanzers. „Beim Sitzen ist es so unbequem.“ Darunter trug sie ein bäuerliches Wams, wie es in einem Heimatmuseum heißen würde.

„Bitte“, sagte ich, „natürlich.“

Die Knieschützer mit den spitzen Stacheln behielt sie an.

Ich kam mir vor wie in einem Kostümtheaterstück, in dem ich auf meinen Einsatz wartete, aber gleichzeitig fieberhaft nach meinem Stichwort suchte, das ich vergessen hatte. Draußen fiel die Dämmerung ein, es wäre der Moment für meinen Whisky, könnte ich ihr einen anbieten? Eigentlich nicht ganz passend, ihr ein britisches Getränk vorzusetzen, angesichts dessen, wie übel die Engländer ihr seinerzeit mitgespielt hatten. Ihrem Wams entsprechend dürfte sie nur Wasser trinken, ihren Pumps entsprechend wäre vielleicht ein Glas Champagner nicht unangebracht, aber ich hatte nur Prosecco im Haus. Tranken diese Menschen? Zombies? Wesen? Statuen? überhaupt etwas in ihren Auszeiten? Denn es musste ja so etwas wie eine Auszeit sein, die sie sich genommen hatte.

Sie schien meine Gedanken erraten zu haben, vielleicht hatte ich mich in meiner Verlegenheit zum Wasserhahn oder zum Weinregal oder zum Kühlschrank umgedreht.

„Ich trinke gern einen Schluck Wasser“, sagte sie. „Am liebsten aus einem Glas, denn daraus habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr getrunken. Früher in der Kirche stand beim Messwein immer nur der Silberkelch.“

„Wieso früher?“, warf ich ein, froh, endlich einen Einstieg ins Gespräch zu finden. „Gibt es keinen Messwein mehr?“

„Doch, aber keinen Vorrat in der Sakristei, wie früher“, sagte sie. „Seit es keinen festen Pfarrer mehr gibt, ist es aus damit. Wie mit so vielem anderen. Es gibt kein Gemeindeleben mehr, eine Messe alle sechs Wochen, kaum noch Hochzeiten, und die Trauergottesdienste stimmen unsereins ja auch nicht heiterer. Manchmal ist es unerträglich trist und eintönig, vor allem jetzt im Winter, wenn nicht einmal Touristen sich in die Kirche verirren. Ich musste einfach mal raus da, und deshalb bin ich hier. Ich hoffe, ich mache Ihnen keine Ungelegenheiten.“

„Nein, ganz und gar nicht. Ich habe nur wenig Erfahrung mit Besuchern aus der Kirche. Und ich selbst bin kein Kirchgänger.“

„Dafür sieht man Sie aber ziemlich oft in der Kirche.“

„Ja, wenn ich meine Katze suche“, versuchte ich, mich einer Erklärungspflicht zu entziehen, denn tatsächlich betrat ich nicht selten die Kirche, zündete sogar dann und wann zwei Kerzen an, ohne anderes dabei zu denken, als dass es sonst niemand mehr tat und dass es mich ästhetisch befriedigte, beim Hinausgehen von der Eingangstür zurückzuschauen und rechts und links der Säulen des Mittelschiffs zwei die Symmetrie des Kirchenraums betonende Lichter brennen zu sehen. Aber ich konnte ihr nichts vormachen.

„Das war nur einmal, vor ein paar Tagen“, wandte sie ein. „Und da war die Katze gar nicht in der Kirche gewesen. Aber sie war ja früher öfter bei uns. Sie huschte zwischen den Beinen der Leute herein, strich neugierig herum und zog die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich, vor allem der Kinder, nicht selten in den ernsten, feierlichen Augenblicken, und weder die Gemeinde noch der Priester schien zu wissen, was von dem umherschleichenden Tier zu halten war. Unschuldiges Geschöpf Gottes oder arglistige Täuschung des immer und überall lauernden Satans? Zum Glück ist Ihre Katze nicht schwarz, denn dann wäre ein Urteil sicher schnell gefällt worden.“

Ich erinnerte mich selbst an eine Gelegenheit, bei der Grisou sich während eines Trauergottesdienstes hereingeschlichen hatte. Als sich am Ende die Türen öffneten und der Sarg von den vier immergleichen Männern des Beerdigungsinstituts hinausgetragen wurde, gefolgt vom Priester, der das Weihrauchfässchen schwenkte, dahinter der Familie des Toten und anschließend der Gemeinde, setzte sich Grisou, als wäre er dafür dressiert, an die Spitze dieses von Trauer und der Feierlichkeit des Augenblicks niedergedrückten Gefolges und schritt in gemessener Langsamkeit vorneweg auf den Kirchplatz hinaus. Beim Leichenwagen angelangt, ließ er jedoch alle Gemessenheit fahren, lief zur Mauer, die den Garten meines Nachbarn umgab, sprang mit einem Satz hinauf und ließ sich auf der gerundeten Mauerkrone nieder, wobei er alle Viere lässig von sich streckte und das weitere Geschehen auf dem Kirchplatz beobachtete.

Dies alles ging mir in den wenigen Augenblicken durch den Kopf, die Jeanne benötigte, um das Glas Wasser zu leeren, das ich vor sie hingestellt hatte. Entweder hatte sie sich ebenfalls an Grisous Auftritt bei jener Beerdigung erinnert, oder sie konnte Gedanken lesen, denn sie sagte unvermittelt:

„Der Tote, der damals zu Grabe getragen wurde, war der letzte Mann aus dem Dorf, der zur Beichte kam, danach blieb der Beichtstuhl leer. Na ja, Beichte und Beichte. Es war eine seltsame Beichte. Heute setzen sich manchmal Kinder und junge Leute zum Spaß hinein und spielen Beichtkind und Beichtvater, aber die Erwachsenen bleiben weg. Sündigen sie nicht mehr?“

„Ich denke, die Menschen sind, wie sie immer waren“, sagte ich. „Aber manches, was früher als Sünde galt, sieht man heute nicht mehr als Sünde an, und andere Dinge sind so allgemein verbreitet, dass sie nicht mehr der Rede und schon gar nicht der Beichte wert zu sein scheinen. Dafür gibt es heute neue Sünden, an die früher niemand dachte, vor allem die Kirche nicht.“

„Was sind denn das für Sünden, die es früher nicht gab?“

Mir wurde unwohl in meiner Pädagogenhaut. Konnte man einer zu ihren Lebzeiten vermutlich etwas überspannten Neunzehnjährigen, die sich vor knapp sechshundert Jahren auf Geheiß des Himmels, wie sie damals erklärte, in die Kriegsführung und Reichslenkung ihres schwachen Königs eingemischt hatte, wodurch sie in ein ihr undurchschaubares Ränkespiel widerstreitender politischer Interessen geraten und schließlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war, die moderne Zeit erklären, ohne auf unverantwortliche Weise zu simplifizieren? Ich entschied mich dafür, im Vagen zu bleiben, zumal mir nicht klar war, wie weit ihr Wissensdurst reichte.

„Das kann ich nicht in ein paar Worten erklären, und ich weiß ja auch nicht genau, was du so mitbekommen hast in all den Jahrhunderten. Die Welt hat sich sehr stark verändert seit deiner Zeit. Die Autos und Flugzeuge und all die anderen Maschinen und immer neue Erfindungen, die selten nur eine gute Seite haben. Und die Menschen werden immer mehr. Es wird immer enger, das Zusammenleben wird komplizierter, und viele Menschen wissen und lernen auch nicht mehr, wie man verantwortlich mit anderen zusammenlebt. Dabei wäre es dringender denn je, das zu lernen. Bei der geringsten Beeinträchtigung dessen, was manche Menschen für ihr persönliches Recht halten, fahren sie aus der Haut, schlagen, schießen oder stechen um sich. Der gemeine Menschenverstand, den viele gern als gesund bezeichnen, ist krank geworden. Immer weniger Menschen wissen, ein vernünftiges Maß zu halten. Jeder will immer alles und sieht nur noch sich selbst und seinen Vorteil. Alle wollen immer höher hinaus und etwas Besonderes sein.“

„War das denn nicht schon immer so?“, wandte Jeanne ein. „Vom Tanz ums goldene Kalb und dem Turmbau zu Babel hat schon unser Pater gesprochen.“

„Ja, die Menschen sind sich gleich. Nur haben sie heute viel mehr Möglichkeiten, ihrer Gier nachzugeben. Sie wird immer wieder neu angestachelt, es wird immer mehr und neues produziert, und die Werbung lässt die Menschen glauben, dass sie das Allerletzte brauchen, um glücklich zu sein. Und das Alte wird weggeworfen. Und immer mehr Menschen werfen immer mehr weg.“

„Eins verstehe ich nicht“, wandte Jeanne ein. „Immer mehr Menschen? Warum ist denn die Kirche leer? Ich dachte, das Dorf stirbt aus?“

„Du müsstest die Städte sehen, sie werden immer größer. Und was das Dorf angeht, da hast du in gewissem Sinn sogar recht. Es gibt immer weniger Bauern. Aber das ist auch nicht so schnell zu erklären. Alles hängt miteinander zusammen, doch es ist nicht leicht zu begreifen. Und in diesem ganzen Durcheinander sind die neuen Sünden entstanden, die es früher nicht gab. Die Art, wie wir alle leben, ist schädlich für uns selbst, für die Tiere und Pflanzen, für die Natur insgesamt und das Klima. Wir könnten vieles daran ändern, aber wir sind zu bequem und zu nachlässig und machen einfach weiter. Deshalb sind wir fast alle Sünder, in einem anderen Sinn als dem religiösen natürlich. Und die schlimmsten Sünder sind die, die daran verdienen und deshalb kein Interesse haben aufzuhören, sondern immer weitermachen.“

Das Gespräch nahm eine Wendung, die mir unangenehm wurde. Ich spürte, dass ich vor der unaufgeklärten Jeanne in meine frühere Lehrerrolle zurückfiel, noch dazu in ihre unerträglichste Variante, ein besserwisserisches Moralisieren, das mich selbst oft angeödet hatte. Ich stellte mir vor, dass Jeanne schon zu ihrer aktiven Zeit nicht gerade ein Kind ausgelassener Fröhlichkeit gewesen sein dürfte, nun war sie aus der Kirche zu mir herübergekommen, weil sie die Tristesse dort nicht mehr aushielt. Da war es unangebracht und alles andere als pädagogisch sinnvoll, die Kübel meines Weltverdrusses und meines besserwisserischen Hochmuts vor ihr auszuleeren. Sie hatte noch keine Miene verzogen, und nicht die Andeutung eines Lächelns hatte sich auf ihrem blassen Gesicht gezeigt. Sollte ich nicht den Versuch machen, sie etwas aufzuheitern? Aber wie?

Wo war unser Gespräch in diese ungute Richtung abgedriftet? Ja, richtig, bei Jeannes Frage, ob die Menschen nicht mehr sündigten, und bei Henri Larrigue, denn so hieß der Mann, bei dessen Beerdigung Grisou seinen denkwürdigen öffentlichen Auftritt gehabt hatte, und von dem Jeanne gerade erklärt hatte, er sei das letzte Beichtkind in der Kirche gewesen.

„Dieser Henri Larrigue war also der letzte, der in der Kirche gebeichtet hat?“, sagte ich. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass der viel zu beichten hatte, so knöchern und trocken, wie er war. Und er saß tagein tagaus auf seinem Traktor, was soll der schon gesündigt haben?“

„Der Priester war anderer Meinung“, gab Jeanne kryptisch zurück.

Ich wurde hellhörig. Wieso konnte sie das wissen? Gab es nicht ein Beichtgeheimnis? Hatte der Priester geplaudert? Ich muss sie etwas begriffsstutzig angesehen haben, denn plötzlich gab sie mir einen etwas verwunderten und zugleich leicht belustigten Blick, wie man ihn aufsetzt, wenn man es mit einem Begriffsstutzigen zu tun hat, und sagte trocken:

„Sie wissen doch, wo ich stehe.“

Peinlich. So auf Anhieb fiel mir nicht ein, wo ihr Platz war. Ich wusste, dass sie in der Kirche stand, aber nicht, wo genau. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, dass ich in die Kirche trat: Vorne der Altar, links im Seitenschiff St. Loup (der mich veranlasst hatte, mein Haus zu kaufen, doch das ist eine andere Geschichte), rechts der heilige Antonius und der heilige Martin, der mit dem halben Mantel. Wieder links, zum Eingang hin der Beichtstuhl, dann die Ecke, und … ja, da stand sie. Anscheinend unbeteiligt.

„Du stehst in der Ecke neben dem Beichtstuhl.“

„Na, endlich“, sagte sie, und jetzt huschte ein klitzekleines Lächeln, nein, die kaum wahrnehmbare Andeutung eines klitzekleinen Lächelns über ihr Gesicht.

„Heißt das, du hast immer alles mitgehört, wenn die Leute zur Beichte kamen?“

„Am Anfang habe ich versucht wegzuhören, aber manche Menschen redeten so laut, dass ich gar nicht anders konnte als es mitzubekommen. Und dann hat es mich interessiert, zu erfahren, wie die Menschen so leben und was sie zu beichten haben. Manchmal war ich entgeistert, manchmal verwundert, vieles hat mich belustigt, aber es kamen auch Dinge vor, die mich traurig gemacht haben.“

Mir lag die Frage auf der Zunge, ob sie das mit ein paar Beispielen erläutern könnte, doch sogleich schrillten meine Warnglocken, erstens, weil ich damit wieder in meine Lehrerattitüde abgleiten würde, zweitens, weil es kein feiner Zug wäre, die junge Frau zum Ausplaudern von Beichtgeheimnissen zu verleiten.

Wieder schien sie meine Gedanken erraten zu haben, denn sie sagte: „Die Beichte dieses letzten Mannes war ein gutes Beispiel für all die Empfindungen, die ich eben genannt habe. Aber weil ich nicht seine Beichtmutter war und nur zufällig Zeugin der Beichte wurde, kann ich wohl darüber sprechen. Außerdem ist dieser Henri Larrigue ja nun schon ein paar Jahre tot.“

Ich bekam den Eindruck, dass Jeanne in erster Linie daran gelegen war, selbst zu reden, denn sie machte keine Pause, in der ich sie etwas hätte fragen oder das Thema wechseln können.

Die Geschichte habe damit angefangen, begann sie, dass eine nicht mehr ganz junge Frau in die Kirche gekommen sei, sich beim Weihwasserbecken am Eingang bekreuzigt und anschließend vor ihr, also Jeanne, einen Knicks gemacht habe, was ihr bis dahin noch nie passiert sei, zumindest nicht in der Kirche von Estansac. Danach habe sich die Frau, die einen geblümten Kittel trug, in den Beichtstuhl gekniet und seufzend den Schweiß vom Gesicht gewischt. „Was bedrückt dich, meine Tochter“, habe der Beichtvater gefragt, der schon hinter seinem hölzernen Gitter saß, „was führt dich zu mir?“ Die Frau hatte lange geschwiegen und schließlich kaum hörbar gesagt: „Zur Beichte, Vater, nicht zu dir. Ich habe gesündigt. Ich bin nicht nett zu meinem Mann.“ „Wer soll denn das sein, dein Mann? Soweit ich mich erinnere, habe ich dich nie getraut, und dass du mit diesem Henri unter einem Dach lebst, der sich hier in der Kirche nie blicken lässt, das ist mir schon lange ein Dorn im Auge. Er ist nicht dein Mann, schon das wäre Grund genug, regelmäßig zur Beichte zu gehen. Die Sünde sollte ein Ausrutscher sein, eine unbedachte Handlung aus eigennützigen Motiven oder einer heftigen Gefühlswallung, aber kein Dauerzustand. Das kann ich dem Herrgott nicht vermitteln, irgendwann verliert er die Geduld mit dir.“ „Für mich ist Henri aber mein Mann. Einen anderen hat der Herrgott mir nie über den Weg geführt.“ „Gut, lassen wir das für den Moment. Und was heißt das, du bist nicht nett zu ihm?“ „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, Vater. Es ist … ich denke nicht an ihn, wenn er mir beiliegt.“ „Aber meine Tochter, die Sünde ist, dass du ihm beiliegst, obwohl er nicht dein dir angetrauter Ehemann ist, nicht, dass du an etwas anderes denkst“, hatte der Beichtvater entgegnet. „Der Herr möge mir vergeben, aber das ist nun einmal wie es ist“, hatte die Frau erwidert. „Wie kannst du so uneinsichtig sein, meine Tochter. Es wird ein hartes Stück Gebetsarbeit für dich werden, für diese Dauersünde die Absolution zu erlangen. Dennoch werde ich mich beim Herrn für dich einsetzen, vielleicht kann er fünf gerade sein lassen. Wenn du schon zur Beichte kommst, solltest du allerdings demütiger sein. Aber was bringt dich auf die Idee, dass es eine Sünde ist, nicht an den Mann zu denken, der dir beiliegt?“ „Das habe ich gelesen, in einem Wochenblatt. Es ging um Liebe, und dass es einem nicht egal sein sollte, wer einem beiliegt. Es ist mir aber egal. Und deshalb fühle ich mich schlecht und denke, dass es eine Sünde sein muss.“ „Du solltest das Kirchenblatt lesen, meine Tochter, und nicht weltliche Illustrierte. Dann blieben dir solch abartig unkeusche Anwandlungen erspart.“ „Was ist denn unkeusch an meinen Gedanken, Vater?“ „Unkeusch ist, dass du mehr willst, als deine dir von Gott auferlegte Pflicht zu erfüllen, meine Tochter. Sehen wir einmal ab von deinem Hochmut, der darin liegt, dass du aus eigenen Stücken einen dir nicht durch das heilige Sakrament der Ehe verbundenen Menschen zu deinem Mann erklärst. Nehmen wir an, er wäre dein Mann, so wie du es siehst, dann hast du Pflichten. Genügt es dir nicht, dieser Pflicht nachzukommen? Du willst auch noch an ihn denken und redest von Liebe? Der Beichtstuhl ist vielleicht nicht der richtige Ort für die Fortsetzung dieses Gesprächs, setzen wir uns dort in die Bank, meine Tochter.“

Sie waren jetzt ein wenig weiter entfernt, und Jeanne hatte nicht mehr jedes Wort mitbekommen, meinte jedoch, aus dem, was sie aufgeschnappt habe, den Schluss ziehen zu können, der Priester habe der Frau geraten, sich einen anderen Mann vorzustellen, wenn Henri ihr beiliege, und zwar einen Mann, bei dem es ihr nicht egal sei. Die Frau habe daraufhin erklärt, sie hätte es für weniger schwierig gehalten, eine einfache Sünde zu beichten. Jetzt sei ihr nicht einmal mehr klar, ob es sich überhaupt um eine Sünde handele, und sich einen anderen Mann vorzustellen, sei ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen, schon gar nicht, wenn sie an die Männer im Dorf dächte. Ob der Pater ihr etwa nahelegen wolle, an einen verheirateten Mann zu denken? Die anderen seien doch alle nichts wert. Daraufhin sei, so Jeanne, der Priester aus der Haut gefahren, habe gesagt, sie solle die Kirche im Dorf lassen. Er sei schon weit über die Befugnisse seines geistlichen Auftrags als Beichtvater hinausgegangen, indem er ihr eine Sünde ausgeredet habe und die größere Sünde, die sie nicht anerkenne, zunächst einmal auf sich beruhen lasse. Hatte sie nicht genügend Fantasie, sich selbst einen Mann vorzustellen, wenn Not daran sei? Das könne so schwer doch nicht sein, zumal es auch noch andere Männer gebe als jene, die andauernd auf ihrem Traktor umhertuckerten, wenn sie nicht schon am Tage in der Bar herumlungerten und sich lauthals wichtig machten. Er wolle nicht ins Detail gehen oder Namen nennen, doch es gebe auch feinfühlige Männer ohne Zigarettenstummel im Mundwinkel und Schweißflecken unter den Armen und Schwielen an den Händen, denen eine Frau wie sie, wenn sie ihre Lage wirklich so misslich finde, einen Gedanken schenken könne. Nach einem längeren Schweigen und einem kürzeren Seufzer habe der Priester die Frau zum Ausgang geführt, und während er mit ihr die Schwelle ins Freie überschritt, gesagt – nun beinahe so weit entfernt und so leise, dass es im Kircheninnern fast nicht mehr zu hören gewesen sei, doch sie, Jeanne stehe zum Glück dicht bei der Tür –: „Wenn alle Stricke reißen“, habe der Pater geflüstert, „kannst du dich vielleicht hier in der Kirche einmal näher umsehen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass auch der eine oder andere selbstlose Diener des Herrn nicht abgeneigt wäre, in deine Gedanken oder Empfindungen aufgenommen und so auf indirektem Wege einer Freude teilhaftig zu werden, deren konkrete Erfahrung ihm durch den Willen unseres Herrn und die Regeln des geistlichen Amts verwehrt sind.“

Jeanne musste sich unterbrechen, um Luft zu holen, bevor sie weitererzählte.

Nachdem er allein wieder in die Kirche getreten sei, fuhr sie fort, habe der Pater sich auf einen Sitz in der letzten Reihe fallen lassen, eine Weile reglos dagesessen und ein paarmal schwer geseufzt. Schließlich sei er aufgestanden und habe mit dem Blick zum Altar gewandt hörbar für sie und alle anderen Heiligen in der Kirche gesagt: „Vergib mir Herr, es war ein Ausrutscher.“

In Jeannes nahezu tonloser Stimme hatte sich die ganze Zeit über keine Gefühlsregung angedeutet. Ihre Erzählung hatte sich angehört wie die Verlesung eines Protokolls auf der Jahresversammlung eines Philatelistenvereins. Von den Empfindungen, die sie zuvor erwähnt hatte, keine erkennbare Spur. Warum erzählte sie mir das alles? Es handelte sich immerhin um ein, gelinde gesagt, delikates Thema, dem ich im Gespräch mit heutigen Frauen bestimmt ausgewichen wäre. Und jetzt brachte mich eine vor sechshundert Jahren vermutlich jungfräuliche neunzehnjährige Heilige in diese Klemme. Worum ging es ihr eigentlich, und wie konnte ich mich hier aus der Affäre ziehen?

Warum erzählst du mir das? wollte ich gerade fragen, als Jeanne mir schon wieder zuvorkam.

„Ich erzähle Ihnen das, weil ich glaube, dass es die Vorgeschichte der seltsamen Beichte dieses Henri Larrigue ist, der ein paar Tage später in die Kirche kam, sehr zur Verwunderung des Paters.“

„Na, sieht man dich auch einmal in der Kirche, Henri Larrigue“, habe der Pater gesagt und mit einem Schmunzeln hinzugefügt: „Man hätte sonst vielleicht glauben können, dass du nach der Taufe blind geworden wärst und deshalb den Weg hierher nicht gefunden hättest. Aber diese Sorge kann ich mir ja nun sparen, du bist also ein sehender Blinder. Was führt dich zu mir, mein Sohn? Ist deinem Traktor vor der Kirche der Sprit ausgegangen?“

Dem Mann habe es ob dieser Begrüßung nahezu die Sprache verschlagen, er habe sein Käppi, das er immerhin beim Betreten der Kirche abgenommen hatte, in den Händen gedreht und nach Worten gesucht, die er stoßweise und einzeln vorbrachte, ohne jedoch einen zusammenhängenden Satz formulieren zu können. „Missverständnis … verhindern … diese Frau … geraderücken“, hatte er gestammelt. Der Priester hatte ihm da beinahe väterlich den Arm um die Schulter gelegt und ihn beruhigt: „Setzen wir uns erst einmal, und dann der Reihe nach. Und keine Angst, mein Sohn. Der Herr beißt nicht, und schon gar nicht, wenn du als reuiger Sünder sein Haus betrittst.“ Damit hatte er Henri Larrigue auf einen Sitz in einer der hinteren Reihen gedrückt und sich neben ihn gesetzt. Henri hatte inzwischen die Sprache wiedergefunden und erklärt, er sei nicht als reuiger Sünder gekommen. „Na, umso besser“, hatte der Priester erwidert, „dann bist du vielleicht gekommen, um in den heiligen Stand der Ehe einzutreten? Du hast eine Frau erwähnt.“ Henri war da beinahe aufgesprungen, und ihm waren die Worte „Um Gottes willen“ entfahren. „Wie schön, dass wir uns da einig sind, mein Sohn. Zu wenige Menschen heutzutage tun noch etwas um Gottes willen. Es freut mich zu sehen, dass ich mich in dir geirrt habe. Ich habe dich immer, unter uns gesagt, für einen verstockten Sünder und Holzkopf gehalten. Ich werde dem Herrgott von dieser Wendung berichten, es wird ihm gefallen, die guten Nachrichten werden ja auch bei ihm immer seltener.“ Bei diesen Worten des Paters sei Henri wirklich aufgesprungen, habe mehrfach „nein, nein“ gerufen, wild gestikuliert und dem Pater endlich begreiflich machen können, dass es sich um ein Missverständnis handele, das auszuräumen er gekommen sei. „Diese Frau ist nicht meine Frau, und sie soll es auch nicht werden, jedenfalls nicht, wenn es nach mir geht.“ „Also doch Sünder, wenn auch kein reuiger“, habe der Pater daraufhin gesagt und Henri zu verstehen gegeben, dass es wohl doch auf eine Beichte hinauslaufen werde, wenn ihr weiteres Gespräch irgendeinen Sinn haben sollte, habe ihn freundlich, aber energisch um die Schulter gefasst, zum Beichtstuhl dirigiert, ihn dort sanft in die Knie auf das dafür vorgesehene Brett gezwungen, den Vorhang zugezogen, selbst auf der anderen Seite hinter seinem Gitter Platz genommen und in förmlichem Tonfall gefragt: „Was bedrückt dich, mein Sohn?“

Jeanne schien vom vielen Sprechen erschöpft zu sein, ihre Stimme wurde immer tonloser. Sie schob das leere Wasserglas zu mir herüber, ohne dabei ihre Erzählung zu unterbrechen. Als ich es aufgefüllt hatte, trank sie in langsamen, kleinen Schlucken und fuhr danach fort. Sie wolle sich kurzfassen, sagte sie und nahm ihren Erzählfaden wieder auf, wo sie ihn hatte baumeln lassen.

Henri habe dem Priester erklärt, er hätte vielleicht nicht mehr lange zu leben, da ein Arzt ihm wegen eines Magenleidens eine schlechte Diagnose gestellt habe. Er mache sich Sorgen um sein Haus, den Garten, sowie den inzwischen allerdings schon von Rost angefressenen Maschinenpark, denn seine Haushälterin, die er seit fünfundzwanzig Jahren bei sich beherberge, freilich gegen ein gewisses Entgelt, das er von ihrem Lohn abziehe, sei in letzter Zeit dazu übergegangen, im Dorf von ihm als ihrem Mann zu reden, wie er vermute, in wohlbedachter Absicht. Worauf er hinauswolle, hatte der Pater ihn gefragt. „Ich bin sicher, dass sie es auf das Haus abgesehen hat, und den Garten und die Hühner. Sie hat ja die ganzen Jahre alles besorgt, es war die Arbeit, für die ich sie bezahlt habe. Sie glaubt vielleicht, sie könnte alles erben und im Haus bleiben, sie weiß ja, dass ich krank bin. Aber ich bin ihr nichts schuldig, wir haben immer alle Ausgaben korrekt abgerechnet, es steht in den Kalendern, die ich aufgehoben habe. Ich kann alles belegen, wir hatten ein korrektes Verhältnis. Sie hatte ihr eigenes Zimmer neben der Küche und ihren eigenen Tisch in der Ecke und ihren eigenen Kaffee und …“ „Du willst also sagen“, unterbrach ihn der Pater, „ihr wart die ganzen Jahre getrennt von Tisch und Bett?“ „Sie hatte auch ihr eigenes Bett, ja, in ihrem Zimmer.“ „Und darin hat sie auch allein geschlafen?“, wollte der Pater wissen. „Ja, also … ja, manchmal.“ „Und wenn sie nicht allein darin war, wer hat dann bei ihr geschlafen? Die Katze? Der Hund vielleicht?“ „Nein, ja, also … ja, also … ich. Aber manchmal sicher auch die Katze.“

Der Pater habe schmunzeln müssen, erklärte Jeanne, ohne erkennen zu lassen, ob sie selbst in dem, was sie schilderte, einen Grund zum Schmunzeln sah. Stattdessen fuhr sie fort, in ihrer tonlosen Rede den Pater zu zitieren, der seinem Beichtkind auf die ihm geläufige altväterliche Art die Leviten las. Es freue ihn für Henri, dass er endlich doch bei der längst fälligen Beichte angekommen sei. Allerdings frage er sich, ob die bessere Meinung, die er anfangs von ihm gewonnen habe, nicht doch auf einer Fehleinschätzung beruhe. Mit der Korrektheit, auf die Henri sich nun schon mehrfach berufen habe, sei es ja wohl nicht so weit her, sie habe auf jeden Fall ihre Risse und Lücken, das wolle er jedoch im Moment nicht vertiefen, darüber wolle er sich zunächst mit dem Herrgott beraten. „Aber die korrekten Abrechnungen in deinen Kalendern, die kannst du vergessen. Nur eins dazu, mein Sohn: Korrekt ist nicht gleich gottgefällig, falls du das glaubst. So wie ich unseren Herrgott kenne, kann er schon einmal ein Auge zudrücken, vor allem dann, wenn man sich einen emotional bedingten, spontanen Ausrutscher geleistet hat, was übrigens auch mir passieren kann. Was mit Haushälterinnen geteilte Betten angeht, ist der Herr, so wie ich ihn zu kennen glaube, vergleichsweise nachsichtig, vorausgesetzt, beide Beteiligten sind sich einig und wissen, was sie tun. Der Herr hat mich angewiesen, dieses Verhalten den lässlichen Sünden zuzurechnen, von denen du dich durch Gebete und tätige Reue reinwaschen kannst. Was jedoch die Korrektheit angeht, derer du dich rühmst, so fürchte ich, dass der Herrgott die Dinge ganz anders sieht als du. Nicht dass Korrektheit eine Sünde wäre, mitnichten, aber sie schließt so vieles aus: Freundlichkeit, Wärme, Liebe, und sei es auch nur die zum Nächsten. Hast du der Frau denn mal etwas Nettes oder Liebes gesagt, wenn sie zum Beispiel etwas Gutes gekocht hat, oder wenn du ihr Bett teiltest?“ „Nein, um Gottes willen! Ich wollte nicht, dass sie sich etwas einbildet.“ „Jetzt entfernst du dich aber ganz entschieden von Gottes Willen, mein Sohn. Und ich rate dir, besser zu schweigen, sonst redest du dich um Kopf und Kragen. Und gerade signalisiert mir auch der Herr, dass er nichts mehr von dir hören will. Es reicht ihm. Von deiner Korrektheit wird ihm speiübel. Also raus aus dem Beichtstuhl, mein Sohn. Wir wollen reuige Sünder, und keine selbstgerechten Dummköpfe.“

Der Pater sei so wütend gewesen, wie sie ihn nie zuvor gesehen habe, erklärte Jeanne. Er habe Henri noch einen Schubs gegeben, damit er die Kirche verließe. Dann habe er sich auf einen Stuhl in der letzten Reihe fallen lassen, eine Weile stumm vor sich hingeblickt, ein paarmal geseufzt und schließlich gesagt: „Kein Wunder, Herr, dass der Kerl ihr egal war. Es geht mich ja nichts an, aber das muss ich einfach loswerden.“

„Drei Monate später“, fuhr Jeanne fort, „wurde Henri Larrigue zu Grabe getragen. Ihre Katze führte damals den Trauerzug an, als der Sarg aus der Kirche gebracht wurde. Seine Haushälterin saß weit hinten, umgeben von den Witwen des Dorfes.“

Ich erinnerte mich jetzt. In der ersten Reihe hatte die Familie gesessen, zwei Nichten von Henri Larrigue, die eine Ärztin in Toulouse und die andere Anwältin in Bordeaux, mit den dazugehörigen Gatten und schnieken Teenies und Twens, denen man ansah, wie gern sie sich die Nase zuhalten würden angesichts des dörflichen Trauergefolges. Später teilte die Familie der Haushälterin schriftlich mit, sie habe sechs Monate Zeit, das Haus zu verlassen, mitsamt den Hühnern, die man ihr als Dank für ihre Fürsorge um Henri Larrigue in den letzten Monaten seiner Krankheit, in denen er bettlägerig gewesen war, überlassen wolle.

Die Gewährsperson für diesen Teil der Geschichte ist nicht Jeanne, sondern mein inzwischen verstorbener Nachbar Jean-Claude Gibert, ein unter seiner Einsamkeit leidender Witwer, bei dem Odile, so hieß die Haushälterin, sich bitter über die Behandlung beklagt hatte, die ihr seitens der Nichten des Henri Larrigue zuteil geworden war. Vielleicht hatte er sie trösten und sogar das ein oder andere freundliche, möglicherweise sogar liebevolle Wort sagen können. Zum Glück hatte sie inzwischen bei einem Verwandten ein kleines Häuschen am Rand einer nahegelegenen Kleinstadt gefunden und war mit den Hühnern dorthin gezogen.

Bei Jean-Claude Giberts Beerdigung hatte ich sie zuletzt gesehen. Sie war stark gealtert, ging gekrümmt an einem Stock und saß weit vorn in der Kirche, wie gewöhnlich umgeben von den anderen verwitweten Frauen des Dorfes, direkt hinter den fünf Kindern von Jean-Claude Gibert und ihren Familien. Der Trauergottesdienst war von dem neuen Priester gehalten worden, einem Afrikaner aus Madagascar, mit dem Jean-Claude sich bestimmt gut vertragen hätte, denn er war noch in der französischen Kolonialzeit auf Madagaskar geboren, wie er mir einmal erzählt hatte. Grisou hatte sich bei dieser Beerdigung übrigens nicht blicken lassen.

Draußen war die Dämmerung in ein von den Straßenlaternen nur spärlich erleuchtetes Dunkel übergegangen. Ich wollte eine Kerze anzünden, doch Jeanne winkte erschrocken ab. Offenes Feuer mache ihr Angst, sagte sie, und meine Gedankenlosigkeit beschämte und lähmte mich zugleich. Gern hätte ich sie noch etwas zu Coutinel gefragt, der vor mir in diesem Haus gelebt hatte, schwieg aber verlegen. Zu der Geschichte, die sie mir erzählt hatte, kehrte sie nicht mehr zurück, und ich mochte keine Fragen dazu stellen, auch nicht, ob sie sich noch an weitere Beichten erinnerte.

Der Eindruck, den Henri Larrigue zu seinen Lebzeiten auf mich gemacht hatte, war mehr als bestätigt worden. Bis auf die Krankheit, die ihn aus dem Leben nahm, war er noch rüstig gewesen und hatte auf seinem Traktor gesessen, wahrscheinlich aus reiner Gewohnheit und zur Erinnerung an alte Zeiten, als er seine Landmaschinen bis in die Camargue vermietet hatte. Nie hatte ich ihn lachen sehen. Er kaute ständig auf einem Streichholz oder einem hölzernen Zahnstocher, und manchmal hatte ich mir vorgestellt, dass das die einzige Frivolität war, die in seinem Leben Platz hatte. An den Dorffesten hatte er, seit ich im Dorf wohnte, nicht teilgenommen. Odile dagegen hatte die Geselligkeit geliebt, war aber jedes Mal allein da gewesen und saß bei den Witwen, auch zu seinen Lebzeiten. Manchmal, besonders beim jährlichen Weihnachtsessen in der Salle des Fêtes, wenn die Foie gras mit dem schweren süßen Muscat de Rivesaltes serviert und vorher schon der als Apero angebotene Kir konsumiert worden war, erklang aus der Witwenecke nicht selten ein enthemmtes Lachen, wie Männer es ungern hören, weil gute Laune unter Frauen bei ihnen stets Misstrauen weckt: Worüber reden sie, wen hecheln sie durch, über wen machen sie sich lustig, was geben sie an Intimitäten, wenn nicht gar Peinlichkeiten preis, bin ich auch dabei? Ich stelle mir vor, dass Odile bei einer solchen Gelegenheit den anderen einmal geschildert hatte, wie die Liebe mit einem korrekten Liebhaber war, an den man gar nicht zu denken brauchte, was, wie sie bei der Beichte gelernt hatte, noch unbedeutender als eine lässliche Sünde war, aber leider, wie sie mit gespieltem, von den Mitschwestern unter dem Einfluss des süßen Muscat de Rivesaltes lauthals bejubeltem Bedauern hinzufügte, auch eine lästige.

Jeanne war aufgestanden, hatte ihren Brustpanzer wieder angelegt, bat mich, die Lederschnallen im Rücken für sie zu schließen, und schickte sich an zu gehen.

„Ich würde gern einmal wiederkommen, wenn ich darf“, sagte sie.

„Natürlich darfst du“, gab ich zurück.

„Aber dann hätte ich eine Bitte“, sagte sie. „Ich bin noch nie in einem Auto gefahren, mitgefahren also. Glauben Sie, das lässt sich einrichten?“

Ich war sprachlos, brachte nur ein Nicken zustande.

„Und darf ich noch jemanden mitbringen?“

Ich konnte wieder nur nicken. Vor der Haustür gaben wir uns nicht die Hand, aber sie tat etwas, das ich wirklich nicht erwartet hatte, was mich aber nach allem Vorherigen auch nicht mehr erstaunte. Sie hob die Hand zum High five.

Ich schlug ein. Dann drehte sie sich um und ging über den Kirchplatz. „Vergiss deine Fahne nicht“, rief ich ihr nach. „O ja, danke“, sagte sie und kam zurück. Die Fahnenstange, die ich ihr reichte, fühlte sich genauso undefinierbar substanzlos an wie ihre Hand beim High five. Wo sie das wohl herhaben mochte? Für unsere nächste Begegnung hatte ich also schon eine Frage parat und würde nicht so auf den Mund gefallen sein wie diesmal.


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