SH Dekameron: Pharisäer
Jan Pottkieker erzählt:
Von Rolf Kamradek
In der Linkskurve gibt sie Gas, lässt weiter den kleinen Smart kreisen, kreisen wie eine wütende Roulettekugel, immer längs des Deiches, immer rund um die Insel. Einen Augenblick hatte sie erwogen, die Vereinbarung zu nutzen und über den Damm zum Festland abzubiegen, aber dann war sie doch in die dritte Runde gestartet und da muss sie, trotz ihrer Wut, plötzlich lächeln.
Das tut sie also gerade in der Linkskurve, da wo sich die beiden Lokale wie Geschwister an den Deich schmiegen und in denen man gemütlich sitzen und auf die Halligen blicken könnte, wenn man nicht sparen müsste, sparen, weil Henning in Panik geraten ist.
Lächelnd also rammt sie fast einen Polo. Dessen Fahrer muss klein sein, denn als er das Steuer herumreißt und den Kopf über ihre Dummheit schüttelt, sieht sie, wie er seinen Hut mitbewegt, hin und her und her und hin, und das geht, ohne dass er ans Wagendach stößt.
Quietschend kommt sie neben der Deichschräge zum Stehen und atmet tief durch. Der kleine Mann hat nur kurz abgebremst und fährt schon wieder, und das würde ganz cool wirken, machte er nicht, empört schimpfend, seinen Mund auf und zu.
‚Jetzt was Heißes, was Alkoholisches – das täte gut.’
Anne blickt auf die Gaststätten, Treppen ziehen hinauf zur Deichkrone, von der man über Stege die Eingangstüren in der ersten Etage erreichen kann.
Aber Alkoholisches ist jetzt out. Gleich hatte Henning das angeordnet, gleich als sie es ihm sagte, und wieder packt sie die Wut, denn er befahl auch das Out für Zigaretten und für die Disco, und überhaupt für alles – eigentlich für das ganze Leben.
„Unter diesen Umständen!“ – Umstände, hatte er gesagt, „unter diesen Umständen fliegen wir nicht wieder last minute nach Gran Canaria, wir feiern Weihnachten auf Nordstrand, fahren eben mal rüber übern Damm – kein Strahlenrisiko, keine Hetze, kein Sonnenstich – dafür vierzehn gemütliche Tage mit Kuscheln in Ein- und Zweisamkeit. Draußen der Wintersturm. drinnen Wärme am Kamin …“
Und in die Apotheke hatte er sie geschickt – den Test einfach angeordnet!
Nordstrand zeigte sich flach wie ein Teller – keine Dünen wie auf Sylt oder an der Playa del Inglese – ein grünlicher Teller aus dem nur die altkatholische Kirche in den grauen Winterhimmel ragte. Den Tellerrand bildete der Deich, über den man nicht hinwegsehen konnte.
Und auf diesen Deich musste sie nun täglich klettern – morgens und abends, denn Hennig brauchte den weiten Blick und musste gegen den Nordsturm anwandern. Er zeigte auf das Watt und brach in Begeisterungsrufe aus.
Der Regen peitschte ihr waagrecht ins Gesicht, benetzte ihre Brille, dass sie außer grauem Himmel und grauem Wasser nichts mehr sah, schon gar nicht die Halligen, auf die Henning immer mit dem Finger wies, irgendwo da draußen.
Sie bekam dabei Leichenfinger – jedes Mal. Und nur einmal hatte sie sich in einem der beiden Lokale aufwärmen dürfen. „Obwohl wir eigentlich sparen müssten“, hatte Henning großzügig erklärt. „Kinder treiben junge Familien glatt in die Sozialhilfe.“
Familie, hatte er gesagt.
Nach drei Tagen hatte der Wind auf Ost umgeschlagen, sogar der Himmel war wolkenlos gewesen, aber es war dabei noch kälter geworden. Auf dem täglichen Deich waren ihre Hände nicht mehr weiß, sondern fast blau gefroren, und in der Nase der Atem. Aber Henning haushaltete weiter, behauptete, die Wintersonne hätte schon ganz schön Kraft, und tatsächlich konnte man die Halligen auch ohne den Schutz sich im Sturm biegender Wirtshausfenster sehen, so glasklar war die Luft, und zu Recht rief Henning: „Sieh nur das Licht – wie es übers Wasser läuft!“ oder „nein, diese Farben!“
Ihren Zustand hatte er anscheinend völlig vergessen!
Deshalb hatte sie heute morgen ihre eisigen Hände in die seinen gesteckt, ihn die Kälte fühlen lassen und dabei leise geschluchzt, nur ganz kurz, aber er hatte ein erschrockenes Gesicht gemacht, hatte sie vorsichtig vom Deich geführt, ihr die Autotür geöffnet und die Wagenheizung voll aufgedreht. Und in der Ferienwohnung hatte sie sich gleich aufs Sofa legen müssen.
Und dann fing er vom Heiraten an – ganz gegen die Abmachung, die Abmachung, die doch auf seinem Mist gewachsen war. ,So lange es klappt, isses gut, wenn nicht – isses auch gut. Jeder bleibt sein eigener Herr.’
Herrr hatte er gesagt.
Jetzt sei die Situation eine ganz andere, erklärte Henning und sie antwortete spitz: „Nur weil ich ein Kind bekomme?“
„Nur?“, fragte er ganz erstaunt.
Sie weiß eigentlich nicht, warum sie die Wolldecke beiseite gestoßen hatte, die er über sie breiten wollte, und warum sie so wütend fortgelaufen war.
Pharisäer preist eine Tafel in Kreideschrift an, Kaffee also, nicht einfach aus der Kanne geschenkt, nein, eigens in Einzeltassen mit einer Sahnehaube serviert, und jeder bekommt auch einen gehörigen Schuss Rum hinein – nur der Pastor nicht, denn der darf nicht wissen, dass seine Schäfchen das Leben lieben, und er soll sich nur wundern, wie lustig sie auf einmal sein können. So macht man das in Nordfriesland.
Wenn man sogar den Pastor beschwindeln darf …
Sie schüttelt den Kopf, muss erneut lächeln, obwohl ihre Hand zittert, als sie den abgewürgten Motor wieder startet. Langsam fährt sie weiter den Deich entlang.
„Launen“, hatte er ihr nachgeschrieen, „Weiberlaunen – ohne jede Logik!“
Warum dreht sie immer noch eine Runde um die Insel? Warum ist sie nicht zum Festland abgebogen? Aber da vorne, rechts vor dem Siel, da zweigt schräg ein Weg ab, hinauf auf den Deich und drüben wieder hinunter. Hier wird sie abbiegen. Strucklahnungshörn, liest sie. Wie soll man sich nur solche Namen merken!
Hier, da ist ein kleiner Hafen – Parkverbot – aber weit und breit ist die Fläche ja leer, kein Mensch zeigt sich, nur einige Schiffe liegen traurig da und eine Autofähre, deren Rampe herabgelassen ist.
Sie braucht frische Luft, dringend, und so steigt sie aus und wirft sich ihre Windjacke über. Sie vor dem Bauch zusammenziehend, geht sie kleinschrittig mit eingezogenen Schultern bis an die Kaimauer, steht freiwillig in der Kälte und das ganz ohne Hennings Drängeln.
Aber der scharfe Ostwind ist nicht mehr zu spüren. Das Wetter hat wieder umgeschlagen, freilich ist’s weiter eisig, links, von Westen, ziehen graue Wolken auf. Vor dem Fährenmaul bleibt sie stehen. Auch hier kein Mensch, kein Fahrzeug. Neugierig überschreitet sie die Rampe und durchschlendert das Schiff.
Und als es ablegt, schreit sie „halt, halt“ und streckt die Hand aus.
Ein Mann mit grauer Schirmmütze und umgehängter Tasche kommt breitbeinig auf sie zu.
„Sie können doch nicht einfach …“, schreit sie ihn an. „Wohin fahren wir überhaupt?“
Der Breitbeinige schaut sie verdutzt an, sagt kein Wort. Haftet sein Blick auf ihrem Bauch? Stumm wendet er sich und steigt die Treppe zur Kommandobrücke hinauf. Den Kopf im Nacken blickt sie ihm nach. Kurz darauf erscheint er wieder, lehnt sich über die Brüstung und ein bärtiges, weißbemütztes Gesicht erscheint neben ihm, wohl der Kapitän. Der Breitbeinige zeigt auf sie und erklärt etwas. Die beiden Männer mustern sie. Schauen sie tatsächlich auf ihren Bauch? Da kann man doch gar nichts sehen! Ich glaube, ich spinne schon, denkt sie. Dann zuckt der Kapitän die Schultern und verschwindet wieder.
Der Breitbeinige steigt steif die Treppe herab. ,Gehen Seemänner so? Oder hat er es an der Hüfte?’ Er bleibt vor ihr stehen.
„Wohin fahren wir?“, wiederholt sie. „Pellworm“, sagt er. „Einfach oder retour?“
„Retour natürlich!“, ruft sie wütend, „ich fahr gleich wieder retour.“
Der Mann händigt ihr einen Fahrschein aus.
„Dat wird heute nichts mehr“, sagt er bedächtig. „Eine Woche Oostenwind und dann Ebbe“, er schüttelt den Kopf. „Da wird die Fahrrinne flach. Sein Sie man froh, dass Sie noch nach Pellworm komm’.“
Sie sitzt im Fahrgastraum, der einzige Passagier, und sie trinkt Pharisäer. Die Fenster sind dicht, nicht einmal das graue Wasser kann sie sehen. Das Schiff vibriert leise und immer noch fröstelt sie, obwohl die Heizung läuft. So fährt sie nach Pellworm, einer richtigen Insel, ohne Damm zum Festland, und Wasser liegt zwischen ihr und dem unabgeschlossenen Smart im Parkverbot – und auch zwischen ihr und Henning.
Ihr Handy läutet, es beruhigt sie, und sie tastet danach. Sie könnte ihm jetzt sagen, er solle das Auto sicherstellen – aber dann fühlt sie die Zigarettenschachtel in ihrer Tasche und schaltet das Handy aus.
Sie zieht noch einmal an ihrer Zigarette und wirft den Filter ins Wasser, als sie im Dunkeln die Fähre verlässt. Sie blickt den Breitbeinigen nicht an, der die Schuld an ihrem Missgeschick hat, der außerdem wieder auf ihren Bauch schaut, wo gar nichts zu sehen ist, nichts zu sehen sein kann. Aber als sie auf der eisernen Autorampe ausrutscht, fasst er sie am Arm. und ruft: „Pass op Deern, dat ward glatt!“
Ein feiner Regen überzieht im Nu den gefrorenen Boden mit einer Eisschicht. Wie auf Eiern gehend – wer denkt sich nur solche Vergleiche aus? – will sie den Deicheinschnitt der Autostraße durchqueren. Aber dann steht sie da, kommt nicht weiter, einmal, weil sie nicht weiß, wohin und dann, weil sie keinen Schritt mehr machen kann und sich an einer Straßenlaterne festhalten muss. So ist sie froh, als der Breitbeinige mit seinem Wagen angeschlichen kommt und neben ihr anhält:
„Wo schall’t hingohn?“, fragt er.
Sie zuckt die Achseln. „Wissen Sie ein billiges Hotel?“
„Dor is ne Penschion – ick kann ja mol anröpen.“ Der Daumen des Mannes tanzt bereits über das Handy, und Anne tastet sich an der Wagentür entlang, bis sie einsteigen kann.
Sie will die Warft, auf der das Haus steht, ersteigen, aber sie kommt nicht weiter, klammert sich an die Gartenpforte. Ein alter Mann kommt aus der Tür. Er trägt einen kleinen Eimer. Daraus wirft er Sand vor ihre Füße. Trotzdem rutscht sie, muss sich auf Hände und Knie niederlassen und kriecht auf den Alten zu, der ihr die Hand entgegenstreckt.
„Keine Chance“, sagt er. „Der Eisregen – der glasiert das Streugut gleich mit.“
Pharisäer trinkt sie wieder und fühlt, dass er ihr gut tut, und sie überlegt, ob sie Henning nicht doch anrufen soll – damit er den Smart rettet. Aber was soll sie sagen, wenn er dann fragt, wann sie wieder kommt? Oder auch nur, warum sie so wütend war? Oder soll sie ihm alles erzählen? Am Handy wär’s einfacher.
Aber da ist auch noch der alte Wirt in der Stube – soll der vielleicht zuhören? Und extra zum Telefonieren auf die Toilette gehen – so wie sonst immer zum Rauchen?
Sie schaltet das Handy auf Betrieb, zögert und steckt es dann doch wieder in die Tasche.
„Ick glöv, dat geiht los“, sagt eine junge Frau, die in die Stube getreten ist. Sie hat einen erschreckend riesigen Bauch und ächzt.
„Wat, all jetzt?“, fragt der Alte. „Dat is doch noch gor nich Tied?“
„Vadder, wenn ick dat doch sech!“
„Ja – kannst du dormit nich töven, bis Martin wedder hier is?“
„Nee“, ächzt sie, „röp man na’n Krankenwogen – dat geiht man nu nich anners.“
Und während sie stöhnt, und der Alte den Notdienst anruft, klingelt auch Annes Handy.
„Gott sei Dank, du lebst“, sagt Henning, und „warum soll ich denn nicht leben?“, fragt sie. „Weil du so wirr warst, so verzweifelt, und dann fand ich den Smart am Kai – unverschlossen – und du weg – wo bist du denn?“ – „Auf Pellworm.“ – „Wo? Auf Pellworm?“ – „Ja, auf Pellworm.“
Er fragt nicht warum. Er wird in Strucklahnungshörn auf sie warten, die ganze Nacht warten, warten, bis sie irgendwann wieder kommt. Nein, den Smart kann er nicht wegfahren. Mit Sommerreifen schon gar nicht. Ganz plötzlich hat Eisregen eingesetzt. – „Bei euch auch?“ – „Ja.“
Nein, zu Fuß kommt er auch nicht weg – keine zehn Schritte. Ganz Nordstrand liegt unter einem Eispanzer.
Der Seenotrettungskreuzer wird die Schwangere nach Nordstrand bringen, der hat nicht so viel Tiefgang. Aber erst mal muss sie zum Hafen. Zwei Sanitäter stehen vor dem Rettungswagen, rufen, dass sie die Warft nicht hoch kommen, nicht wissen, wie sie die Frau über das Glatteis bringen sollen. Aber der Alte hat die Erfahrung. Er holt das alte Leinen aus der Truhe, die unbenutzte Aussteuer seiner Frau. Die breitet er nun übers Eis und die Schwangere stelzt vorsichtig an Annes Arm zum Wagen.
Sie muss auch dringend nach Nordstrand, sagt Anne und vielleicht kann man sie ja brauchen an Bord. Schließlich ist sie eine Frau. Die Männer von der Vormann Leiß wollen nicht recht – sie sind sowieso schon zu viert – da behauptet sie, sie sei Krankenschwester.
Drei Meter ist der Höhenunterschied zwischen Rettungswagen und Kreuzer. Hinunter führt eine eiserne Kaileiter, dreißig Zentimeter breit. Ein Mann steigt voran, schlägt das Eis von jeder Sprosse, dann kommt die Schwangere und dann auch Anne.
Die Frau lächelt zwischen ihren Wehen. Anne hält ihr die Hand.
In Strucklahnungshörn werden wieder die Leitersprossen abgeklopft, die Schwangere steigt zwischen zwei Männern hoch, bleibt stehen und beginnt zu stöhnen, stöhnt so laut, dass der unter ihr stehende Sanitäter sie zu schieben beginnt. „Nicht jetzt!“, schreit er.
Oben wartet der Krankenwagen. Anne sieht ihm lange nach, als er sich im Schritttempo entfernt. Dann schlittert sie die wenigen Meter zum Smart. Der Motor läuft und drinnen liegt Henning, gekrümmt wie ein Fragezeichen.
Anne klopft ans Fenster. Warum hat sie ihn angelogen?, tagelang angelogen?, ist sogar in die Apotheke gegangen und hat – Eukalyptusbonbons gekauft?
Ab morgen wird sie nicht mehr rauchen, und auch der Pharisäer ist dann out. Heute wird’s nämlich klappen. Das fühlt sie – und der Zeitpunkt stimmt auch. Sie hat auf der Überfahrt nochmals nachgerechnet. Freilich – etwas eng wird’s schon sein, im Smart.
Aus „Die seltsamen Reisen des R.K.“ von Rolf Kamradek
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