SH Dekameron: Richtung Norden
Rosa Krongard erzählt:
Von Ingrid Glienke
Rosa Krongard blickte übers Wasser. „Ob wir jemals wieder aufs Festland kommen?“, fragte sie. „Selbst wenn die Pandemie an uns vorüberziehen sollte?“
„In ein paar Tagen kommt zum Glück die „Pidder Lüng“ vorbei. Der Kapitän wirkte sehr zuverlässig auf mich“, entgegnete eine Männerstimme. War es die von Wolf Martin Sökland, dem pensionierten Lehrer gewesen?
Alle blickten zum Festland hinüber, das als grau-grüner Streifen am östlichen Horizont lag. Eine Reihe von Windrädern ragte in den Himmel. Davor eine glänzend graue Schlickfläche, die sich in alle Richtungen erstreckte und die letzten Sonnenstrahlen widerspiegelte.
„Manchmal kommen Schiffe nicht vorwärts. Sie verlieren plötzlich an Fahrt und ruckeln nur noch, obwohl die Maschinen auf Volldampf laufen. Als ob eine große Hand aus der Tiefe käme und den Rumpf festhielte.“ Rosa räusperte sich. „Wie Teufelskrallen. Das ist ein Zitat! Von einem Verwandten.“
„Verrückter Aberglaube“, murmelte eine der Frauen. „Ich bin Segler“, sagte jemand. „Bin zwar schon oft in eine Flaute geraten, hab mich aber immer wieder rausmanövriert. Sogar aus einer Totenflaute.“
„Das heißt alles nichts“, antwortete Rosa, „es passiert auch gestandenen Seeleuten. Als ich neulich meinem alten Vater beim Aufräumen im Keller half, fanden wir in einer Ecke einen Karton mit Büchern, die er seit seiner Kindheit nicht mehr angerührt hatte, doch merkwürdigerweise erinnerte er sich an die Einbände.
Er sortierte die stockfleckigen Exemplare für den Papiermüll aus, und ich stöberte in den Haufen nach Schätzen für meine Flohmarktkiste. Es waren Schmöker über Seeteufel, Seeräuber und Polarforscher. Graf Luckner, Fridtjof Nansen, Knut Rasmussen und andere. Es gab auch Stevensons Schatzinsel und Melvilles Moby Dick, aber die waren so fleckig, dass ich sie nicht anrührte. – Eigentlich war ich auf die Kleider meiner Großmutter aus, war auf der Suche nach authentischen Stücken aus den Schneiderwerkstätten der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts.
Als ich eins der Bücher aufschlug, fielen mir ein paar zusammengeheftete Seiten entgegen. Handgeschrieben, in Sütterlin, an manchen Stellen war die Tinte verwischt. Ich stellte mich direkt unter die Kellerleuchte, um die Schrift zu entziffern.
Auf dem Deckblatt erkannte ich einen Nachnamen. Krongaard, mit zwei a. Ich zeigte meinem Vater, der auf der anderen Kellerseite zugange war, meinen Fund.
,F. Krongaard’, sagte er bedächtig. ,Dat kunn vun Fiete wesen.’ ,Wer ist das denn?’, fragte ich, obwohl ich eine leise Ahnung hatte. ,Em kennst du nich mehr. He weer de jüngste Broder vun mien Vadder, mien Unkel. He weer blots fief Johr öller as ik un is as jung Mann utwannert. Lees dat mal vör. Ik heff mien Brill nich dorbi.’“
Rosa griff in den Rucksack, der an ihrem Terrassenstuhl lehnte, zog ein Papierbündel hervor. „Voila, ich hab euch das Manuskript mitgebracht. Es fiel mir beim Packen für unseren Hallig-Aufenthalt in die Finger, und ich war sehr versucht, mich nochmals darin zu vertiefen. Da ich aber vor unserer Abreise ein Tweed-Jackett fertig nähen musste, das mein Kunde am letzten Morgen dann doch nicht abholte, packte ich die Seiten in meinen Koffer.“
„Das soll ja vorkommen“, warf Sven Andresen ein. „Aber ich war es nicht!“
Rosa kicherte, während sie im Manuskript blätterte, und fuhr dann fort: „An dem Abend im Keller meines Elternhauses buchstabierte ich mich bei der funzeligen Beleuchtung durch die Wörter. Wovon handelten diese Seiten, ging es um südliche Meere, fragte ich mich, während ich meinem Vater vorlas: ‚Der Südwind hält an. Heute nahm ich die Sacknetze auf, die wir vorgestern ausgelegt haben; in dem oberen, welches nahe der Oberfläche gehangen hatte, fanden sich hauptsächlich … Verflixt, auch bei Tageslicht kann man es kaum entziffern. Steht da Flusskrebse? Nein, Flohkrebse.
Also weiter: In dem Murray’schen Netz, das sich in ungefähr 90 Metern Tiefe befunden hatte, waren mannigfache andere Crustaceen und sonstige kleine Tiere, die so stark phosphorescirten, dass der Inhalt des Netzes, den ich bei Lampenlicht in der Küche ausgeleert hatte, wie glühende Kohlen aussah.’
‚Fiete hett sik för so n Kriechtüüg intresseert’, kommentierte mein Vater die Stelle. Aber eigentlich wollte ich euch den nächsten Abschnitt vorlesen: ‚Wir führen unser Haus mit, aber was wir an einem Tag vollbracht haben, wird am nächsten wieder zerstört. Stets derselbe ermüdende Krebsgang. Jedesmal, wenn wir eine weite Strecke nach Norden zurückgelegt hatten … Rückschlag.’
‚Verdori’, unterbrach mich mein Vater wieder, ‚dat klingt philosophsch. Ob dat redig vun Fiete is? Denn weer he nich blots en Dröömbüdel? Knööv hett he tominnst hatt.’ Das konnte ich beides nicht beurteilen, aber ich wollte gern glauben, dass mein Großonkel Fiete die Notizen zu Papier gebracht hatte. Mir gefiel, wie genau er die Meerestiere zu benennen wusste, und wer sollte es sonst gewesen sein?“
Rosa sah in die Runde. „Aber ich will euch erst einmal weiter vorlesen“, kündigte sie die Fortsetzung der Passage an: „Und das trotz fast viertägigem südlichem Wind. Was mag das wieder zu bedeuten haben? Ist unter dem Eise Totwasser vorhanden, das uns verhindert vorwärts oder rückwärts zu gelangen? ‚Totwasser? Spökenkraam, aver tööv mol, Rosa’, sagte mein Vater dann zu mir, und selbst im düsteren Keller konnte ich seine Augen aufleuchten sehen. ‚Fiete is op en Walfänger fohrt. He keem aver nich vun de Nordsee, vun wo in fröhere Johrhunnerten so veele losfohrt sünd. He hett in Flensborg wahnt un dor geev dat nich blots Rum un Bommerlunder, dat geev ok en Walfangstatschoon. Dat is al lang vörbi, aver dat gifft jümmers noch de Grönlandgang, woneem se fröher Traan kaakt hebbt.’
Mein Vater vermutete, dass Fietes Manuskript mit seiner Polarfahrt zusammenhing – viele Jahre nach den Flensburger Fahrten. In den 30er-Jahren hatten die Nazis den Jungspund angeheuert, erzählte er. Fiete war ins Polarmeer gefahren, als die meisten Walfang-Schiffe schon in der Antarktis räuberten. Nach dem Krieg war er ausgewandert. ‚He harr op sien eenzig Fohrt noog Bloot sehn, wieldat de Nazis de Fettlök dicht maken wullt’, erklärte mein Vater, und als ich nicht gleich verstand: ‚Die Fettlücke. Üm Margarine to maken.’ Dann war da noch die Sache mit Aristoteles Onassis, der in den fünfziger Jahren viele im Walfang erfahrene Männer für seine Schiffe anheuerte. Da sei Fiete aber zum Glück schon in Kanada gewesen.
Im Manuskript fand ich eine Liste, die die Arktisverbundenheit meines Großonkels zu bestätigen schien: Alken, Lummen, Ringelgänse, Elfenbeinmöwen, Hundsrobben, Buckelwale … die gesamte Polarfauna. ‚Ja’, nickte mein Vater, als ich ihm die Liste vorlas: ‚Fiete hett de Kreaturen vun de See bannig leef hatt.’“
Rosa blätterte wieder in den Seiten. „Hier hab ich den richtigen Abschnitt“, sagte sie, „Endlich! Über die nördlichsten Gegenden im Polarmeer. Anscheinend mussten die Seeleute rückwärts fahren: mit der Nase immer nach Süden gekehrt. Es ist gerade, als ob sie – also das Schiff ist gemeint – ihre Entfernung von der Welt zu vergrößern fürchte, sich nach südlichen Breiten sehne, während eine unsichtbare Gewalt sie dem Unbekannten entgegenzieht. Kann dieses Rückwärtsschreiten nach dem Innern des Polarmeeres ein böses Omen sein?“
Rosa legte eine Pause ein. Dann sagte sie: „Dieser Satz ist sogar zweimal unterstrichen. Dahinter steht etwas, das ich zunächst nicht entziffern konnte.“
Es dämmerte inzwischen, und die auf der Terrasse versammelte Gesellschaft sah kaum noch das Land. Rosa wedelte mit dem Manuskript. „Das war an einem Herbstabend vor ein paar Jahren. Mein einziger Auftrag in diesen Tagen war fast fertiggestellt. Merkwürdigerweise ebenfalls ein Tweed-Jackett. ‚Das lese ich im Bett weiter’, sagte ich zu meinem Vater. ‚Es sind über fünfzig Seiten.’ Er nickte. ‚Do dat, mien Deern!’
Tja, ich war sehr stolz auf meinen Großonkel. In unserer Familie war er immer von einer geheimnisvollen Aura umgeben. Genaueres wusste ich nicht über ihn und getroffen habe ich ihn nie. Wie schön er die Reise ins Polarmeer beschrieben hatte. Natürlich war auch Seemannsgarn dabei. Und Fiete war abergläubisch. Das hatte ich inzwischen gemerkt. Die phosphoreszierenden Krustentiere kamen anscheinend für ihn direkt aus der Hölle.“
Rosa hob ihr Glas, das jemand wieder aufgefüllt hatte, und trank einen Schluck, bevor sie weitersprach: „Wenn ich für unseren Hallig-Aufenthalt nur das Manuskript eingepackt hätte, würde ich immer noch glauben, dass mein Großonkel all das geschrieben hat. Aber ich nahm auch ein paar der Abenteuerbücher aus dem Keller mit, um genug Lesestoff zu haben. Letzte Nacht hab ich mich stundenlang mit den Büchern beschäftigt, weil ich wegen der vielen schlechten Nachrichten, die zu uns durchdringen, nicht schlafen konnte. Plötzlich kamen mir einige Abschnitte merkwürdig bekannt vor. Hatte ich doch schon mal in Fridtjof Nansens In Nacht und Eis geschmökert? Und alles wieder vergessen? Von Knut Rasmussen hatte ich aber bestimmt noch nichts gelesen. Meine Bettlektüre bescherte mir eine Überraschung nach der anderen. Und allmählich verstand ich.
Fiete hatte Abschnitte aus verschiedenen Büchern kopiert. Vermutlich wollte er sich mit diesen Notizen und Auszügen auf seine Walfang-Reise vorbereiten. Sein gutes Recht! Er konnte ja nicht vorhersehen, was wir uns dabei dachten.
Totwasser! Dafür interessierte er sich. Spannender Lesestoff, doch wie schon mein Vater, hatte ich dieses Phänomen bisher für Aberglauben gehalten. Jetzt merkte ich, dass es um Zitate von Fridtjof Nansen ging. Totwasser gibt es tatsächlich. Nansen war es auf seiner Fahrt mit der Fram entlang der sibirischen Küste begegnet.“
Rosa legte das Manuskript in den Schoß. „Unheimlich“, sagte sie, aber ich will euch nicht ängstigen. Jetzt ist es zu dunkel, um weiter vorzulesen, da erzähle ich lieber: Fiete, ich meine Fridtjof Nansen, beschreibt, wie sein Schiff an ödem, flachem Land vorbeifährt. Schon Ende August liegt Schnee dort. Die meisten Zugvögel sind nach Süden gezogen, nur kleinere Schwärme sammeln sich, vereinzelte Raub- und andere Möwen. Die Besatzung hätte ihnen gerne Botschaften und Grüße mitgegeben. Sie sind nur 20 Seemeilen vom Taimyr-Sund entfernt, brauchen aber die ganze Nacht für die Strecke. Der Wind heult in der Takelung und pfeift über das Eis. Sobald die Maschine stillsteht, wird das Fahrzeug rückwärts gezogen.
Unter normalen Umständen wäre die Geschwindigkeit fünfmal höher gewesen! Das Totwasser zeigt sich als Wasserrücken oder als Wellen, die sich quer über das Kielwasser erstrecken, die eine hinter der anderen. Nansen beobachtete, dass es dort vorkam, wo eine Süßwasserschicht über dem salzigen Seewasser liegt. Ein Schiff schleppt diese Süßwasserschicht mit sich und es schleift dann über die schwerere Seewasserschicht wie über eine feste Unterlage. Fiete hatte hinter die Passagen Fragezeichen und schwer lesbare Kommentare gesetzt. War er zu abergläubisch, um wissenschaftliche Erklärungen zu akzeptieren? Oder waren sie ihm nicht gut genug? Vielleicht befürchtete er, von der Walfang-Tour nicht heil zurückzukehren und fing deshalb an, sich mit allen Unwägbarkeiten auseinanderzusetzen?“
Rosa blickte in die Richtung, in der vor einer halben Stunde noch die Küste sichtbar gewesen war. „Entdeckungsfahrt oder Walfang“, sagte sie, „auch von diesen Inseln fuhren viele los und hätten den Zugvögeln gerne Grüße mitgegeben. So wie wir auch, wenn wir könnten.“
Eine der Frauen räusperte sich. „Gerade fällt mir etwas ein. Vor ein paar Wochen las ich zufällig über eine neue Studie“, sagte sie. „Die Autoren vertreten die Meinung, dass Totwasser in allen Meeren und Ozeanen vorkommen kann, und erwähnen sogar Kleopatra. Ihre und Antonius’ Schiffe steckten in der Meerenge von Actium fest, als sie versuchten ins Ionische Meer durchzubrechen, so dass es zu ihrer verheerenden Niederlage …“
„Seht ihr“, unterbrach Rosa sie, „dieses Phänomen … es kann überall passieren, dass ein Schiff nicht von der Stelle kommt. Warum nicht hier zwischen den Inseln, den Halligen und dem Flussgebiet der Eider mit dem Bongsieler Kanal? Eine meiner vielen Cousinen wusste übrigens noch mehr über unseren Großonkel. Fiete hat sich nach dem Krieg in St. John’s, im kanadischen Neufundland, zum Meeresbiologen ausbilden lassen. He weer denn nich blots de Dröömbüdel, für den die Familie ihn hielt. In St. John’s hat er später auch die Tochter eines Leuchtturmwärters aus L’Anse aux Meadows geheiratet. Schade, dass ich die beiden nie getroffen habe.“
Rosa Krongard sah in die Runde ihrer Schicksalsgefährten, die in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen waren. Ihr Blick schien an keiner Person hängen zu bleiben.
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