Enrico Scottini erzählt:

Von Henning Schöttke

Zwanzig Minuten später stand Sarah, noch immer geschockt, in der Umkleide des OP. So etwas wie eben hatte sie noch nie zuvor gespürt. Die junge Frau, die vor ihr gelegen hatte, war doch hirntot. Sarah zog den grünen Kasack über und stopfte ihn in die Hose. Dann die grünen OP-Socken und die Gummilatschen. Tot war doch tot – oder nicht? Aber was war das eben dann gewesen?

Vorhin im Gang vor dem OP hatte Sarah bei den weinenden Eltern gestanden, neben der toten jungen Frau, die Anfang der Woche mit dem Fahrrad gestürzt war. Und plötzlich war jeder ihrer Gedanken von einem fremden, doch intensiven Gefühl umschlossen worden. Sarah ging durch den kurzen Flur, der den OP-Bereich mit der Umkleide verband, und verharrte vor der Tür zum Vorraum.

Zugleich war das Gefühl in ihr gewesen, verwoben mit jeder einzelnen Zelle ihres Körpers. Eine – so unheimlich es klingen mochte – Seelenbotschaft, die wohl gar nicht für sie, Sarah, bestimmt gewesen war. In einer wortlosen Sprache hatte die tote Frau ihre Eltern trösten wollen, ihnen mitteilen wollen, es sei alles gut, sie sei mit sich, der Welt und selbst mit der Entnahme ihrer Organe im Reinen. Und Sarah hatte sich gefühlt wie eingehüllt – in ein warmes, sanftes Tuch.

Sie betrat den Vorraum, legte Haarnetz und Mundschutz an und fing an sich einzuwaschen. Irgendwo in einer anderen Stadt, kaum mehr als hundert Kilometer entfernt, wartete ein Ärzteteam auf Herz und Leber der jungen Frau. Ein Hubschrauber stand schon bereit. Sarah drückte den Wasserhahn mit dem Ellbogen und wusch die Unterarme und Hände. Im OP klingelte ein Telefon.

In ihr kämpften erwartungsvolle Gespanntheit und Scham. Sie trocknete sich ab und musste plötzlich, warum auch immer, daran denken, wie sie als Achtzehnjährige einen Sommer nahe einer Autowerkstatt auf dem Lande verbracht hatte. Und an den Autoschrauber Konni, einen Mann mit Bierbauch, Zottelbart und einem tiefen Lachen. Einmal hatten sie einen Mercedes 280 E von 1977 zum Ausschlachten reinbekommen, bei dem sich nach einem schweren Unfall das Fahrgestell verzogen hatte.

„Seht euch das an!“, hatte Konni, tief unter die Motorhaube gebeugt, voller Begeisterung gerufen. „Das Teil wurde kaum gefahren. Motor, Lichtmaschine, alles noch wie neu. Alles noch tippitoppi.“

Sarah schüttelte heftig den Kopf, um diese unangebrachte – im Zusammenhang der OP geradezu groteske – Erinnerung aus den Gedanken zu vertreiben und schmierte sich Sterillium auf Arme und Hände. Ihre Aufgabe würde es heute sein, die Monitore zu überwachen und alle Vorgänge zu dokumentieren. Sie schob die Tür zum OP mit der Schulter auf.

Wieder spürte sie etwas. Doch nun ging eine Unruhe von der toten Frau aus, eine Art Missfallen, und wieder schämte Sarah sich. Die sanfte Seelenbotschaft von vorhin stand in solchem Gegensatz zu der geilen Gier, mit der sich alle Ärzte und, wie Sarah sich eingestehen musste, auch sie selbst, auf die Organe freuten.

Lena, die OP-Schwester, nickte ihr zu und hielt ihr den hinten offenen Kittel hin. Zwei Operationspfleger legten sterile Tücher und Tupfer bereit und zogen Medikamente für den Stoffwechsel auf Spritzen.

Bei der Morgenbesprechung war das vorherrschende Thema das erwartete Leber-Herz-Paket gewesen, an dem sie mit zwei Ärzteteams arbeiten würden. Wie Dr. Focke Sarah mit blitzenden Augen erklärt hatte, waren Herz und Leber in Deutschland noch nie zusammen verpflanzt worden. Das war eine medizinische Sensation – so begeistert hatte sie ihn noch nie gesehen. „Ich habe mir die Patientin schon angeschaut“, hatte er gesagt. „An der werden wir gut arbeiten können.“ Und ihr Oberarzt Dr. Huber hatte gerufen: „Heute schreiben wir Medizingeschichte.“

Die Hakenhalter standen fertig angekleidet auf der anderen Seite des OP-Tisches, zwei Studenten, die schon bei früheren Organentnahmen assistiert hatten. Ein Pfleger packte Handschuhe aus und hielt sie Sarah einen nach dem anderen hin.

Wieder kam ihr die Autowerkstatt in den Sinn, und sie dachte, wahrscheinlich gehörte eine gewisse Entpersonalisierung zu ihrem Beruf. Um professionell zu bleiben, war es wohl notwendig, die Menschen, an denen sie arbeiteten, als eine Art Sache zu sehen.

Sie griff nach dem Formular für die Dokumentation, das auf dem Instrumententisch bereit lag. Da glaubte sie, aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrzunehmen. Sie sah auf das Gesicht der jungen Frau, und es kam ihr vor, als würden sich unter ihren geschlossenen Lidern die Augen bewegen und als würde sie die Stirn runzeln, nur ein winziges Zucken. Sarah blickte über den OP-Tisch zu den Pflegern und Hakenhaltern und deutete mit dem Kopf auf die hirntote Frau.

„Habt ihr das gesehen?“

„Was?“, fragte der Pfleger, der näher stand.

„Mir war, als hätte sich …“

Noch während sich die Worte in Sarah formten, fühlte sie sich ungeheuer dämlich. Im Angesicht von Toten, seltsame, gar unheimliche Dinge wahrzunehmen, kam nur bei absoluten Neulingen vor. Sie spürte ihr Herz schlagen, aber verscheuchte ihr mulmiges Gefühl. Das Telefon klingelte, und der Pfleger ging ran.

„Die OP-Teams kommen gleich“, sagte er.

Schwester Lena und der andere OP-Pfleger schlossen die junge Frau an verschiedene Geräte an, mit denen sie während der Organentnahme Blutdruck, Puls und die Herzströme kontrollieren würden. Der zweite Pfleger stellte eine Metallschale mit Eis für die Kühlung der Organe bereit.

Die Ärzte beider Teams betraten einer nach dem anderen den OP-Saal. Erwartungsfrohe Stimmung breitete sich aus. Auch Sarah musste sich eingestehen, dass sie sich auf die Besonderheit der Explantation freute. Es war doch toll, Medizingeschichte mitzuschreiben. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Aber was war, wenn die tote junge Frau diese Vorfreude auf ihre Organe spürte?, dachte sie plötzlich.

Schwester Lena und die OP-Pfleger halfen den Ärzteteams beim Einkleiden, und wieder klingelte das Telefon. Der OP-Saal füllte sich dichter und dichter mit Menschen. Ihre erregten Stimmen lagen als Hintergrundrauschen auf dem Raum. Dr. Bahr trat an den OP-Tisch und sah mit abschätzendem Lächeln auf die daliegende Frau herab. Hier und da erklang leises Lachen.

„Auf zu neuen Ufern“, rief Dr. Huber, und es klang wie das Schreien eines Ansagers vor einer Jahrmarktsbude.

Er ließ sich das Elektroskalpell reichen.

Sarah spürte, wie die tote Frau sich erregte. Nicht über das, was die Ärzte mit ihr tun wollten, sondern darüber, was sie dabei fühlten. Wie begierig sie auf ihre Körperteile waren.

Dr. Huber sägte die junge Frau auf – er begann beim Hals und öffnete sie bis knapp über dem Schambereich. Die Kontrollmonitore summten leise, und Sarah dachte an die Trauer der Eltern. Wie die beiden neben dem rollenden Bett mit ihrer Tochter den Flur entlanggegangen waren. Wie sie sie bis zur Schleuse begleitet und sich dann liebevoll von ihr verabschiedet hatten.

Der Geruch von verbranntem Fleisch und Fett legte sich über den OP und dazu der typische Geruch nach Knochenspänen und Blut. Die Hakenhalter traten an den OP-Tisch, um die Wunde offen zu halten. Neben Sarah sprach Dr. Strobel mit verhaltener Stimme in ein Handy. Wie lange es noch dauern würde. Welche Arterie gerade abgeklemmt wurde. Am Tisch standen die Teams für die Explantationen bereit. Große Augen starrten auf den frisch geöffneten Körper.

Sarah spürte ihr Herz schlagen. Irgendjemand außer ihr musste doch den wachsenden Unwillen der Toten bemerken. Hin und wieder klickte es leise, wenn eines der Instrumente abgelegt wurde. Beinahe hätte sie hysterisch aufgelacht.

„Guck dir diesen geilen Motor an.“

Erneut fiel ihr der Autoschrauber Konni ein. Sie sah ihn geradezu vor sich, wie er bei dem ausgeschlachteten Mercedes stand. Den Zottelbart voller Öl, hatte er die großen Hände auf den ausgebauten Motor gelegt und dröhnend gelacht. „Alles noch tippitoppi!“

Sie hob den Blick zu einem der Monitore, die über den Köpfen der Ärzte hingen. Riesig groß und rot zeigte er die Öffnung im Körper der Frau, die jetzt zum Ausweiden bereit war. Finger tasteten und drückten, ein Saugrüssel mit dünner Kanüle saugte mit schlürfendem Geräusch Blut ab, Zangen und Pinzetten drängten daran vorbei.

Da erhob sich am Tisch beunruhigtes Gemurmel. Dr. Bahr und Dr. Focke beugten sich über die Öffnung bei der Leber. Focke schüttelte den Kopf.

„Das liegt hier gar nicht gut.“

Er drängte den Hakenhalter beiseite. Ruhe legte sich über den Raum. Sarah hielt den Atem an. Allein das Summen der Geräte und das Biep-biep-biep des Herzschlagmonitors klangen gespenstisch laut. Ein Telefon zerschnitt die Stille.

„Kann nicht mal einer dieses verdammte Geklingel …“, schimpfte Dr. Huber.

Gleichzeitig sagte Dr. Focke: „Schneiden Sie ein Stück weiter entfernt von …“

Da spritzten Blutfontänen aus der jungen Frau, viele Zentimeter hoch.

„Die Pfortader!“, rief Dr. Focke.

Mit jedem Herzschlag floss Blut aus dem Körper. Sarah sah hoch zum Monitor. Eine große zur Leber führende Vene war verletzt worden. Blutgeruch breitete sich aus.

Biep – biep – biep.

„Das Herz bleibt stehen!“, rief Dr. Hasselfeldt. „Stoppt die verdammte Blutung!“

Um noch Chancen auf die Entnahme zu wahren, strömten literweise Transfusionen in die Frau. Der Herzschlagmonitor piepte in immer größeren Abständen. Der andere Monitor zeigte, wie das Herz seltener und seltener zuckte. Und im nächsten Moment blieb es

Biiii –––––––––––––– iiiep

stehen. Alle Hektik der Ärzteteams war vorbei. Zurück blieben Frustration und gedämpfte Wut.

„Tja …“ Dr. Bahr schob seine chirurgische Brille hoch und sah auf das reglose Herz. „Kann man wohl nichts mehr machen …“

Die Organe waren verloren, dachte Sarah. Weil diese Blutung nicht zu stoppen war und wegen des Herzstillstands. Die tote Frau lag da, als würde sie noch abwarten.

„Wissen Sie überhaupt“, flüsterte Huber zornig, „was Sie getan haben, Sie Idiot?“ Er trat ganz dicht an Bahr heran. „Das wären … riesige Artikel … in medizinischen Fachzeitschriften geworden!“

„Was seid ihr hier bloß für Dilettanten“, sagte Dr. Focke und drängte von der anderen Seite an Bahr heran. „Ist Ihnen klar, was das für unser Haus bedeutet hätte?“

„Ach ja, du Arschloch?“ Bahr rempelte ihn an. „Glaubst du für meine Karriere wäre das egal?“ Sein Mund war wutverzerrt.

„Jetzt ist mal gut hier!“ Dr. Hasselfeldt versuchte, sie auseinanderzuschieben. „Hey!“ Aber im nächsten Moment krümmte er sich, und aus seiner Nase schoss Blut.

Alles Weitere geschah so schnell, dass Sarah kaum erkennen konnte, welcher von den wild schreienden Männern in ihren weißen Kitteln was genau tat. Der erneute riesige Unwillen der toten Frau erhob sich jetzt vor Sarah so groß und böse, dass sie nach Luft rang.

Focke versetzte Dr. Bahr einen Fausthieb gegen die Brust. „Was Sie eben ruiniert haben, war wunderbar gesundes Material!“

Bahr taumelte zurück, aber auf einmal hielt er Dr. Focke von hinten gepackt und schleuderte ihn herum gegen den OP-Tisch, so dass sein Gesicht vor dem geöffneten Bauchraum hing.

„Sehen Sie sich ihr wunderbares Material an.“ Bahrs Stimme war zu einem Zischen geworden. „Jetzt ist es nur noch medizinischer Müll.“

Bei diesen Worten zuckte das Herz auf dem Monitor plötzlich kurz und gewaltig wie ein sich aufbäumendes Pferd. Mit diesem erneuten Pumpen ergoss sich ein Schwall Blut aus dem offenen Körper in die Gesichter von Bahr und Focke, ihre Mundschutze und Hauben troffen vor Blut. Mit jedem Herzschlag schoss es aus der toten Frau heraus, mehr als zwanzig Zentimeter hoch, in Mengen, wie Sarah es noch nie bei einer Operation gesehen hatte. Der Unwillen der Toten wurde zu rasender Wut, die wuchs und wuchs.

In einem sich steigernden Strom ergoss sich ihr Blut rechts und links vom OP-Tisch runter. Literweise. Schon schwamm der Boden des gesamten Saals. Der metallische Blutgeruch verstärkte sich, und Sarah wurde übel. Die Luft vibrierte wie elektrisch aufgeladen. Ein Arzt riss sich die Haube vom Kopf, und seine Haare standen nach oben. Pinzetten, Scheren und Klemmen tanzten wild in ihren Metallschalen, ihr Klirren erfüllte den Raum.

„Hört doch auf!“, schrie Schwester Lena den rangelnden Männern zu.

Dr. Huber lief mit platschenden Schritten um den OP-Tisch herum. „Riesige Artikel!“, flüsterte er wie irre zu sich selbst. Anderthalb Meter von Sarah entfernt rutschte er auf den blutglitschigen Fliesen weg, wedelte grotesk mit den Armen durch die Luft und stürzte, prallte dabei mit der Hüfte gegen einen Instrumententisch, der wegrollte. Ein Spreizer und Zangen fielen klirrend und platschend auf den blutigen Boden, ein Bauchdeckenhalter und ein Wundhaken.

Gleich würde Sarah keine Luft mehr kriegen. Die Tote hatte jetzt die Augen geöffnet. Ihre maßlose Wut erfüllte den OP wie dicker, heißer Dampf und erstickte jedes andere Gefühl. Endlich bemerkten es auch die rangelnden Ärzte. Einer nach dem anderen hielten sie inne und hoben die Köpfe wie witternde Hunde.

Ein Hakenhalter stand vor der OP-Tür, spreizte die blutverschmierten Arme vom Körper ab und schluchzte: „Warum geht die verdammte Tür nicht auf?“

Dr. Bahr fletschte die Zähne und sog den betäubenden Blutgeruch und die Wut der toten Frau in die weit offenen Nüstern. Panik blitzte in seinen aufgerissenen Augen.

Sarah starrte hoch zum Monitor, auf dem das Herz mit wilder Gewalt zuckte, obwohl der Herzschlagmonitor nicht piepte. Auch ihr eigenes Herz schlug wie rasend. Ihre Gedanken wanden sich in Schlieren durch ihren Kopf wie in einem Traum, während ihre Hand mit dem Schreiber darin bizarre Kringel auf das Dokumentationsformular malte.

Da kam Bewegung in die Männer. Sie schrien, schubsten einander zur Seite und drängten um den OP-Tisch herum auf die Tür zu. Schwester Lena hatte sich den Mundschutz abgerissen. Sie lehnte zitternd an der Wand, das bleiche Gesicht zu einer Fratze aus Angst verzerrt und starrte mit leeren Augen ins Nirgendwo. Überall rutschten die fliehenden Ärzte aus, krachten mit dem Kopf gegen die Wand oder auf die metallenen Füße der Operationsleuchten und Halter für Infusionen. Ihre Schreie erfüllten den OP.

Als Sarah erwachte, lag sie auf einer Liege im Gang. Sie wandte den schmerzenden Kopf zur Seite. Auf einer Liege auf der anderen Seite des Ganges lag der bewusstlose Anästhesist. Eine Pflegerin erschien in Sarahs Blickfeld und trat an sie heran.

„Was ist … passiert?“, fragte Sarah.

„Vor einer Viertelstunde gab es Notrufe aus eurem OP 7. Du und all deine Kollegen lagen da …“

„Wie viele tote Ärzte gibt es?“, fragte eine gedämpfte Stimme irgendwo am Ende des Ganges.

Die Pflegerin sagte: „Viel mehr weiß ich auch nicht. Und es war wohl Blut am Boden.“

Sarah fuhr sich über die pochende Stirn und sah dabei das Blut auf ihrem Handrücken. Blut am Boden? Sie kniff die Augen zusammen. Sie erinnerte sich an nichts.


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